Geschäftsunfähigkeit des Empfängers (§ 131 Abs. 1 BGB)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Chemikerin C ist aufgrund akuter schizophrener Psychose geschäftsunfähig (§ 104 Nr. 2 BGB). Sie steht unter Betreuung des B. Arbeitgeber A will ihr ordentlich kündigen. Er übergibt C persönlich die, an sie adressierte, Kündigung.
Einordnung des Falls
Geschäftsunfähigkeit des Empfängers (§ 131 Abs. 1 BGB)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Die Kündigung wird in dem Moment wirksam, in dem A sie der C übergibt.
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Nein!
2. Die an C gerichtete Kündigung wird wirksam, wenn C sie an ihren Betreuer B weiterleitet.
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Nein, das ist nicht der Fall!
3. Wenn C die Kündigung an B weiterleitet und B tatsächlich Kenntnis nimmt, wird die Kündigung wirksam.
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Nein, das trifft nicht zu!
4. Die Kündigung wird wirksam, wenn A sie willentlich in Richtung des B entäußert und sie so in B‘s Machtbereich gelangt, dass B Kenntnis nehmen kann und unter normalen Umständen mit Kenntnisnahme zu rechnen ist.
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Ja!
Fundstellen
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MsFox
5.12.2020, 10:59:46
Was ist, wenn der A gar nicht von der Geschäftsunfähigkeit und der gesetzlichen Vertretung weiß? I.d.R. weiß ein Arbeitgeber ja nur dass der entsprechende AN krank ist. Hat der gesetzliche Vertreter dann die Pflicht, sich beim AG zu melden und ihn über die Situation in Kenntnis zu setzen?

Jonas Gansfort
7.6.2021, 22:55:02
Das wäre dann mMn der Risikosphäre des AGs zuzuordnen. Das Gesetz sieht weitreichende Schutzmaßnahmen zugunsten von Nichtvollgeschäftsfähigen vor. So ist es auch bei zweiseitigen Rechtsgeschäften unerheblich, ob der Vertragspartner dies positiv kannte oder unverschuldet verkannte. Auch wird sich der gesetzliche Vertreter mE nicht ggü. dem AG haftbar machen. Eine Aufklärungspflicht besteht wohl so ohne Weiteres nicht.

DerChristoph
17.11.2021, 15:00:08
Was ist denn Sinn und Zweck hinter dieser Auslegung? Wenn in einem Einzelfall der Vertreter tatsächlich Kenntnis von der Willenserklärung genommen hat, könnte man doch - ohne den Schutz zu Ungunsten des Geschäftsunfähigen einzuschränken - eine Wirksamkeit bejahen. Welchen Nachteil hätte diese Handhabe, die dann gleichzeitig den Rechtsverkehr schützen, den Geschäftsunfähigen aber nicht benachteiligen würde?

Lukas_Mengestu
17.11.2021, 20:03:59
Hallo Christoph, in der Tat könnte man das auch anders lösen und den bloßen Zugang genügen lassen. Das wird teilweise durchaus vertreten (vgl. RdNr. 29 des Urteils). . Das BAG wendet aber auch auf die Erklärung an Geschäftsunfähigen die allgemeinen Regeln zu Willenserklärungen an und argumentiert, dass §§ 130 und 131 BGB gleich auszulegen sei. Auch bei § 130 BGB setzt die hM für die wirksame Abgabe aber voraus, dass die Erklärung nicht durch Zufall an den Empfänger gerade, sondern zielgerichtet an ihn geschickt wird. In diesem Kontext wird oft damit argumentiert, dass dem BGB eine Heilungsvorschrift, wie es sie zB in § 187 ZPO für den Zivilprozess gibt, fehlt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Mateusz
3.12.2021, 18:48:38
Hallo Lukas, meinst Du hier nicht den heutigen § 189 ZPO (Heilung von Zustellungsmängeln)? In § 187 ZPO war die Heilungsvorschrift, soweit ich das erkennen kann, lediglich ursprünglich vorhanden. Mir ist das ebenfalls bei einem Deiner vorherigen Beiträge aufgefallen. Viele Grüße

Lukas_Mengestu
4.4.2022, 12:42:31
Danke Mateusz, vielen Dank für den Hinweis! In der Tat meinte ich hier § 189 ZPO. Beste Grüße, Lukas
Julian_wrm
14.1.2022, 10:23:28
Es wäre hierbei vielleicht ganz interessant die partielle Geschäftsunfähigkeit zu erwähnen.

Lukas_Mengestu
14.1.2022, 19:09:14
Vielen Dank für den Hinweis, Julian. Hierzu werden wir noch Fälle ergänzen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Blackpanther
4.4.2022, 10:31:00
Gilt diese Rspr. auch für beschränkt Geschäftsfähige? Dann könnte die Kündigungserklärung des Vermieters im vorherigen Fall auch nie wirksam werden (sofern sie nur an die minderjährige Mieterin gerichtet war). Erwägungen zur Erklärungs-/Empfangsbotenschaft der Mieterin hätten sich dann auch erübrigt.

Lukas_Mengestu
4.4.2022, 13:05:11
Hallo Blackpanther, nach § 131 Abs. 2 BGB gelten für den beschränkt Geschäftsfähigen insoweit die gleichen Regelungen, sofern es sich nicht um eine rechtlich vorteilhafte Erklärung handelt. Nach der hM ist auch hier notwendig, dass die Erklärung an den Vertreter gerichtet oder für diesen bestimmt ist. Denn auch insoweit gelte es, einen möglichst effektiven Schutz der nicht voll geschäftsfähigen Personen zu bewirken (Gomille, in: BeckOGK-BGB, 01.04.2020, § 131 RdNr. 10 mwN). Der Erklärende kann natürlich dennoch den beschränkt Geschäftsfähigen auf sein eigenes Risiko als Erklärungsboten einsetzen. Die Annahme, dass der beschränkt Geschäftsfähige als Empfangsbote/Empfangsvertreter des gesetzlichen Vertreters agiert, wird indes unter Verweis auf den Schutzzweck des § 131 BGB abgelehnt (Gomille, in: BeckOGK-BGB, 01.04.2020, § 131 RdNr. 11). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Constanze
11.4.2022, 09:01:26
Wo läge denn genau der (rechtliche) Unterschied zwischen diesem Fall (Machtbereich des B und Kenntnisnahme) und den vorherigen (C gibt die Kündigung an B und er liest sie, nimmt also Kenntnis)? In beiden Varianten nimmt B ja Kenntnis von der Kündigung. Mir erschließt sich der Unterschied bezüglich der Wirksamkeit der Kündigung nicht ganz.

Lukas_Mengestu
13.4.2022, 18:11:42
Hallo Constanze, die Wirksamkeit der Willenserklärung hängt davon ab, dass sie 1) abgegeben wurde und 2) zugeht. Der zentrale Unterschied liegt hier darin, dass nur in dem letzten Fall eine wirksame Abgabe liegt. Für diese muss die Willenserklärung quasi wie ein Pfeil auf den Empfänger geschossen werden. Unschädlich ist dabei, wenn sie von Mittelsmännern/frauen überbracht wird, seien es jetzt Boten oder Vertreter. Die Erklärung muss aber in Richtung des Empfängers abgeschickt werden. Wird sie dagegen an jemand anderen adressiert (hier: C) und gelangt sie dann lediglich durch Zufall/glückliche Fügung an den eigentlichen Empfänger, so genügt das nach der Rechtsprechung nicht. Mangels Abgabe ist die Willenserklärung unwirksam - völlig egal, ob der Empfänger nun Kenntnis hat oder nicht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Jonas22
23.6.2023, 12:30:58
Ich verstehe den Unterschied hier noch nicht so ganz zu dem Fall, wo die WE dem 4-jährigen Kind übergeben wird, was diese dann im Sandkasten verbuddelt. Dort war das Kind Erklärungsbotin und der Erklärende trug das Risiko, dass die Erklärung dem Empfänger zugeht. Warum kann C nicht auch Erklärungsbotin sein? Ich meine dann trägt doch auch der Erklärende das volle Risiko. Das wäre doch auch sachgerecht.
proofofidentity
1.7.2023, 16:44:48
Meiner Meinung nach hat bei dem Fall mit dem 4-jährigen Kind der Erklärende das Kind gebeten, die Kündigung weiterzuleiten. Hier nicht.

Nora Mommsen
4.7.2023, 10:51:50
Hallo ihr beiden, danke euch für die Fragen und Rückmeldungen. Proofofidentity hat den Punkt im Grunde erfasst - Erklärungsbote kann nur sein, wenn die bitte der Weiterleitung einer Erklärung bestand. Das ist hier nicht der Fall - die Kündigung war für C, sie sollte sie erhalten und die Kündigung wurde ihr direkt übergeben. Dies war nicht mit der Bitte verbunden, die Erklärung weiterzuleiten. C war damit keine Eklärungsbotin. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Jonas22
4.7.2023, 10:56:12
Vielen lieben Dank für die Erklärung! Das leuchtet natürlich ein. Manchmal ist es leichter als gedacht 😅.
silasowicz
4.8.2023, 18:41:22
Wäre die folgende Formulierung dann eine mögliche verkörperte WE des A, die wirksam ist: "Lieber B, ich kündige der C!" Oder wäre es ausreichend, wenn A dem B eine Kündigung zielgerichtet übergibt, in der nur steht, dass er C kündigt?
Leo Lee
10.8.2023, 17:28:05
Hallo silasowicz, da die Kündigung - als empfangsbedürftige Willenserklärung - nach dem obj. Empfängerhorizont bewertet wird, muss es also dem B klar werden, dass die Kündigung auch an "ihn" gerichtet ist. Deshalb reicht es NICHT aus, wenn der gesetzliche Vertreter nur per Zufall hiervon erfährt. Es ist vielmehr erforderlich, dass die Absicht, die WE ggü. dem Betreuer abzugeben, deutlich wird. Mithin dürfte erforderlich sein, dass hier im Briefkopf oder im Schreiben selbst der B angesprochen wird. Hierzu kann ich die Lektüre von Grüneberg, 82. Auflage, Ellenberger § 131 Rn. 2 empfehlen :). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo