Der Umgang mit atypischen Verträgen

29. April 2025

4,7(466 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

L leidet unter Prüfungsangst. M ist keine Psychologin, behauptet aber, mit einer „erprobten Selbsttherapie-Methode“ helfen zu können. M und L vereinbaren, dass M den L in zehn Sitzungen „im Schlaf coacht“. L schläft dazu bei M. Für Schlafplatz und „Coaching“ verlangt M 500€.

Diesen Fall lösen 91,8 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Der Umgang mit atypischen Verträgen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. L hat sich zunächst vertraglich gegenüber M zur Zahlung von €500 verpflichtet.

Genau, so ist das!

Ein Vertrag besteht aus den übereinstimmenden Willenserklärungen der Vertragsparteien. L und M haben sich darüber geeinigt, dass M die L zehn Sitzungen coacht und L dazu bei M übernachtet. Im Gegenzug sollte L der M €500 zahlen. Neben den typischen, im BGB geregelten Verträgen (z.B. Kaufvertrag, Werkvertrag), können Parteien auch atypische Verträge schließen. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Privatautonomie. Grundsätzlich steht es den Parteien offen, vertragliche Rechte und Pflichten individuell zu vereinbaren. Die genaue Bezeichnung des Vertrags ist weniger relevant. Wichtiger ist, dass Du die konkreten Rechte und Pflichten benennen kannst. Denn nur so kannst Du feststellen, ob z.B. eine Pflichtverletzung vorliegt. Andersherum kann Dir die genaue Zuordnung eines Vertrags, z.B. als Mietvertrag, dabei helfen, die Pflichten zu bestimmen. Atypische Verträge spielen im Assessorexamen eine größere Rolle, als im ersten Staatsexamen.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Nach drei Nächten bemerkt L, dass das „Schlafcoaching“ nutzlos ist und will sich vom Vertrag lösen. Ist dies von vornherein ausgeschlossen, weil L und M hierzu nichts vertraglich vereinbart haben?

Nein, das trifft nicht zu!

Haben die Parteien keine ausdrücklichen Vereinbarung dazu getroffen, ob und wie sich ein Vertragspartner vom Vertrag lösen kann, so kann ein gesetzliches Rücktritts- oder Kündigungsrecht bestehen. Um zu bestimmen, welche gesetzlichen Rechte bestehen, kommt es auf die Qualifizierung des konkreten Vertrags an. Handelt es sich z.B. (schwerpunktmäßig) um einen Werkvertrag, so sind die Gewährleistungsrechte aus §§ 634ff. BGB einschlägig. Enthält der Vertrag keinerlei Elemente eines gesetzlich vertypten Vertrags, richtet sich die Gewährleistung ausschließlich nach den allgemeinen schuldrechtlichen Regel (z.B. §§ 323 ff. BGB).

3. Schuldet M dem L die Heilung von der Prüfungsangst als konkreten Erfolg, sodass ein Werkvertrag i.S.v. § 631 Abs. 1, Abs. 2 BGB vorliegt?

Nein!

Durch einen Werkvertrag verpflichtet sich der Unternehmer zur Herstellung eines bestimmten Werks (§ 631 Abs. 1 BGB) bzw. zur Herbeiführung eines bestimmten Erfolgs durch eine Dienstleistung (§ 631 Abs. 2 BGB). Hier ist durch Auslegung (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln, zu welcher Leistung sich M verpflichtet hat. M hat L versprochen, ihm „zu helfen“ und „zu coachen“. Aus Sicht eines objektiven Empfängers hat M sich gerade nicht dazu verpichten wollen, L zu „heilen“. Bei Coachings, Therapien oder anderen Behandlungen ist die Leistung i.d.R. nicht auf Heilung, sondern allenfalls auf Besserung gerichtet. M hat damit nicht die Erbringung eines konkreten Erfolgs versprochen. Zwischen M und L besteht kein Werkvertrag. Damit scheiden die speziellen Gewährleistungsrechte der §§ 634ff. BGB aus. Im Grüneberg findest Du bei den verschiedenen Vertragsarten eine Reihe von Beispielen für die jeweiligen Vertragstypen.

4. Es liegt ein atypischer Vertrag vor, der vor allem Elemente eines Dienstvertrags (§ 611 BGB) enthält.

Genau, so ist das!

Durch einen Dienstvertrag verpflichtet sich der Dienstleister zur Erbringung einer bestimmten Dienstleistung. Der Vertrag ist vor allem auf die Erbringung des Coachings durch L als Dienstleistung gerichtet. Daneben stellt L dem M aber auch noch einen Schlafplatz zur Verfügung. Damit enthält der Vertrag auch noch Elemente eines Mietvertrags. Es handelt sich um einen atyischen Vertrag. Wenn Du es mit einem atypischen Vertrag zu tun hast, musst Du die Rechte und Pflichten sauber herausarbeiten. Dabei helfen folgende Fragen: (1) Haben die Parteien ausdrücklich (wirksam) Rechte und Pflichten in ihrem Vertrag geregelt? Wenn ja, gelten diese vorrangig. Hier ergibt sich Dein Prüfungsmaßstab also direkt aus dem Vertrag. (2) Welches Vertragsrecht bildet den Schwerpunkt? Sofern die Parteien keine (abschließenden) vertraglichen Regelungen getroffen haben, ermittelst Du (ergänzend), welcher typischer Vertragstyp dem atypischen Vertrag „am nähesten kommt“. Enthält der Vertrag z.B. Elemente aus Miet- und Dienstrecht, stellst Du auf den Schwerpunkt des Vertrags ab. Wenn der Schwerpunkt des Vertrags durch die Pflichtverletzung betroffen ist, prüfst Du diesen. Sollte nicht der Schwerpunkt des Vertrags betroffen sein, musst Du diskutieren, ob es angemessen ist, ein anderes, sachnäheres Vertragsrecht anzuwenden. Ist dies ebenfalls nicht der Fall, bleibt nur die Anwendung allgemeiner schuldrechtlicher Vorschriften.

5. Der zwischen M und L geschlossene Vertrag enthält vor allem Elemente des Dienstvertrags. Könnte sich M daher nach Maßgabe der §§ 620ff. BGB vom Dienstverhältnis lösen?

Ja, in der Tat!

Der Schwerpunkt eines Vertrags entscheidet i.d.R. über die anwendbaren Vorschriften. Ein Dienstverhältnis endet nach § 620 BGB grundsätzlich durch Zeitablauf oder durch ordentliche Kündigung. Daneben enthalten die §§ 626, 627 BGB außerordentliche Kündigungsgründe.M und L haben sich auf die Dauer von 10 Sitzungen geeinigt, sodass das Dienstverhältnis grundsätzlich erst mit Ablauf dieser bestimmbaren Zeit endet (§ 620 Abs. 1, Abs. 2 BGB). M könnte sich nur früher vom Vertrag lösen, wenn ein Grund für eine außerordentliche Kündigung nach §§ 626, 627 BGB vorläge. Für die Beurteilung, ob M ein solches Kündigungsrecht zusteht, bedürfte es noch mehr Sachverhaltsangaben. Wir lassen die Frage an dieser Stelle offen. In dieser Aufgabe ging es uns vor allem darum, die Basics zum Umgang mit atypischen Verträgen aufzuzeugen.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!

Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen