Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2021

Inhalt des Anspruchs auf Nachlieferung nach einem Modellwechsel ("Diesel-Abgasskandal")

Inhalt des Anspruchs auf Nachlieferung nach einem Modellwechsel ("Diesel-Abgasskandal")

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Diesel-Abgasskandal

Verbraucherin K kauft einen fabrikneuen VW Golf der 7. Generation von V. Das Fahrzeug ist vom „Diesel-Abgasskandal“ betroffen. Acht Jahre später verlangt K daher nun erstmals Nachlieferung. Seit drei Jahren produziert VW nur noch den höherwertigen Golf der 8. Generation.

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Einordnung des Falls

Inhalt des Anspruchs auf Nachlieferung nach einem Modellwechsel ("Diesel-Abgasskandal")

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ein Nachlieferungsanspruch der K gegen V ist entstanden (§§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB). Der VW Golf war bei Gefahrübergang sachmangelhaft (§§ 434 Abs. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 1, 446 BGB).

Ja, in der Tat!

Für die gewöhnliche Verwendung eignet sich ein Kraftfahrzeug nur, wenn es eine Beschaffenheit aufweist, die weder seine Zulassung zum Straßenverkehr hindert noch ansonsten seine Gebrauchsfähigkeit aufhebt oder beeinträchtigt (RdNr. 25, 35). Die im Fahrzeug bei Gefahrübergang installierte unzulässige (Art. 5 Abs. 2 VO 715/2007/EG) Abschalteinrichtung begründet die latente Gefahr einer Betriebsuntersagung (§ 5 FZV). Daher ist die Verwendungseignung des Fahrzeugs jedenfalls eingeschränkt (RdNrn. 31 f.). Siehe zur Begründung des Sachmangels RdNrn. 24-37, sowie diesen Fall (BGH NJW 2019, 1133).
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2. Ks Nachlieferungsanspruch ist jedoch untergegangen (§ 275 Abs. 1 Alt. 2 BGB), wenn er auf die Lieferung eines fabrikneuen Golf der 7. Generation gerichtet ist.

Ja!

Der Anspruch auf eine Leistung ist ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner (subjektiv) oder für jedermann (objektiv) unmöglich ist (§ 275 Abs. 1 BGB). Objektive Unmöglichkeit liegt unter anderem vor, wenn die Leistung nach Naturgesetzen oder dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht erbracht werden kann. Selbst der letzte produzierte Golf der 7. Generation wäre heute drei Jahre alt und damit nicht mehr fabrikneu. Daher ist die Lieferung eines fabrikneuen Golf der 7. Generation objektiv unmöglich (§ 275 Abs. 1 Alt. 2 BGB) (RdNrn. 11, 38). § 275 Abs. 1 BGB ist eine von Amts wegen zu berücksichtigende rechtsvernichtende Einwendung.

3. Muss die im Rahmen der Nachlieferung geschuldete Ersatzsache der ursprünglich geschuldeten Sache - abgesehen von deren Mangelhaftigkeit - vollständig entsprechen (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Inhalt des Nachlieferungsanspruchs (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB) bestimmt sich nach der für den Gewährleistungsfall vertraglich übernommenen Beschaffungspflicht des Verkäufers. Deren Bestand und Reichweite sind durch interessengerechte Auslegung des Parteiwillens im Einzelfall zu ermitteln (§ 157 BGB). BGH: Der Parteiwille sei regelmäßig auf Nachlieferung keiner identischen, sondern einer subjektiv gleichartigen und gleichwertigen Sache gerichtet (RdNrn. 40, 42 f.). Das Kernargument des BGH hierfür ist, dass der Gesetzesbegründung entsprechend selbst beim Stückkauf eine Nachlieferung in Betracht komme (str., RdNrn. 43, 60 m.w.N.).

4. Zur Bestimmung des Umfangs der Beschaffungspflicht ist eine Auslegung des Parteiwillens (§ 157 BGB) interessengerecht, wenn sie sich am Telos des Nacherfüllungsanspruchs orientiert (§ 439 Abs. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

BGH: Die Auslegung des Parteiwillens im Einzelfall (§ 157 BGB) habe vom Telos des Nacherfüllungsanspruchs auszugehen (§ 439 Abs. 1 BGB) (RdNr. 42): Der Vorrang der Nacherfüllung liege im Interesse beider Parteien (RdNrn. 49, 60). Denn das Käuferinteresse sei nicht vorrangig auf Rückabwicklung oder Minderung gerichtet, sondern auf nachträgliche Durchsetzung seines Anspruchs auf mangelfreie Leistung (§ 433 Abs. 1 S. 2 BGB). Ebenso sei das Verkäuferinteresse auf Erhalt einer „letzten Chance“ zur Vermeidung einer wirtschaftlich nachteiligen Rückabwicklung oder Minderung gerichtet (RdNr. 41).

5. Eine an diesen Interessen orientierte Auslegung des Parteiwillens kann ergeben, dass sich die Beschaffungspflicht des Verkäufers auch auf ein höherwertiges Nachfolgemodell erstreckt (§ 157 BGB).

Ja!

Die für den Gewährleistungsfall vertraglich definierte Beschaffungspflicht des Verkäufers (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BG) kann über die ursprüngliche Leistungspflicht (§ 433 Abs. 1 S. 2 BGB) hinausgehen. Auch ein objektiv höherwertiges Nachfolgemodell könne im Sinne des Parteiwillens gleichartig und gleichwertig sein (RdNrn. 40 ff.). Der BGH stützt diese Annahme auf die Auslegung der ehemaligen Verbrauchsgüterkaufrichtlinie durch EuGH C-65/09 und C-87/09 (RdNr. 52). Danach gewähre § 439 BGB ein hohes Verbraucherschutzniveau. Die Verkäuferinteressen würden generell hinreichend geschützt durch die Verjährungs- (§ 438 BGB) und Regressvorschriften (§§ 445a, 478 BGB), sowie durch die - seit 2022 auch im Verbrauchsgüterkaufrecht uneingeschränkt geltenden - Einwendungen des § 439 Abs. 4 BGB (RdNr. 51).

6. Dem Parteiwillen entspricht es regelmäßig, die Pflicht zur Nachlieferung eines höherwertigen Nachfolgemodells von einer Zuzahlung des Käufers abhängig zu machen (§ 157 BGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Inhalt des Nachlieferungsanspruchs entspricht der Reichweite einer für den Gewährleistungsfall vertraglich übernommenen Beschaffungspflicht des Verkäufers, die sich nach dem Parteiwillen im Einzelfall richtet (§ 157 BGB). BGH: Von einer Zuzahlung solle der Inhalt des Nachlieferungsanspruchs dem Parteiwillen entsprechend regelmäßig nur bei einem erheblichen Mehrwert der Ersatzsache abhängen (RdNr. 56). Ein solcher erheblicher Mehrwert sei erst bei einem Anstieg des Listenpreises um mindestens 25% anzunehmen (BGH NJW 2022, 1238). Die Zuzahlung solle dann regelmäßig ein Drittel der Differenz der Kaufpreise betragen. Siehe hierzu diesen Fall (BGH NJW 2022, 1238).

7. Wenn Preis und Eigenschaften eines Nachfolgemodells bei Vertragsschluss noch unbekannt sind, entspricht dessen Nachlieferung nicht dem Parteiwillen (§ 157 BGB).

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Mit der Produktion von Nachfolgemodellen sei - zumal im Handel mit Kfz - im Zeitpunkt des Vertragsschlusses zu rechnen (RdNr. 59). Es sei für den Verkäufer daher nicht interessenwidrig riskant, widerspreche also nicht seinem Willen (§ 157 BGB), eine Beschaffungspflicht einzugehen, die sich auf ein noch unbekanntes Modell erstreckt. Denn der Verkäufer sei durch §§ 438, 439 Abs. 4, 445a, 478 BGB, sowie durch eine im Fall erheblicher Wertunterschiede anzunehmende Zuzahlungsobliegenheit des Verbrauchers hinreichend geschützt (RdNr. 63). Einen dritten vom BGH zur Begründung herangezogenen Schutzmechanismus werden wir gleich in der übernächsten Frage kennenlernen (Frage 10).

8. Im Fahrzeughandel stehen einem Willen zur Nachlieferung eines Nachfolgemodells aber stets Beschaffenheitsvereinbarungen über Motorleistung, -generation etc. entgegen (§ 434 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB).

Nein!

An eine Beschaffenheitsvereinbarung (§ 434 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB) sind im beiderseitigen Interesse hohe Anforderungen zu stellen. Sie kommt nur in eindeutigen Fällen in Betracht. BGH: Allein der Umstand, dass ein Fahrzeug über bestimmte Eigenschaften verfügen soll, begründe keine tragfähigen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer (konkludenten) Beschaffenheitsvereinbarung (RdNr. 61).

9. Dem Parteiwillen entspricht es im Fall eines Verbrauchsgüterkaufs regelmäßig, die Pflicht zur Nachlieferung eines Nachfolgemodells zeitlich zu begrenzen (§ 157 BGB).

Genau, so ist das!

BGH: Dem Parteiwillen im Einzelfall entspreche bei typisierender Betrachtung regelmäßig (§ 157 BGB), dass sich die Beschaffungspflicht des Verkäufers nur dann auf ein Nachfolgemodell erstrecke, wenn der Verbraucher binnen einer Frist von zwei Jahren Nachlieferung verlange. Der Nachlieferungsanspruch konkretisiere sich in diesem Fall ex nunc auf dasjenige Modell, das im Zeitpunkt des erstmaligen Nachlieferungsverlangens produziert werde (RdNrn. 54 f., 66 ff., 74). BGH: Diese Auslegung trage dem Verkäuferinteresse Rechnung. Denn der Verbraucher habe bei Rückgabe der Mangelware (§ 439 Abs. 6 BGB) weder Nutzungs- noch Wertersatz zu leisten (§ 475 Abs. 3 S. 1 BGB). Zudem sei der Verkäufer auf Vorhersehbarkeit seiner Nachlieferungspflichten angewiesen - auch und gerade im Fall eines langjährigen Rechtsstreits.

10. Diese bei typisierender Betrachtung interessengerechte Zwei-Jahres-Frist beginnt mit Ablieferung der Sache zu laufen (§ 438 Abs. 2 Hs. 2 BGB).

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Die Zwei-Jahres-Frist beginne im Zeitpunkt des Vertragsschlusses zu laufen (RdNr. 69). Denn der Inhalt des Nachlieferungsanspruchs werde durch den Parteiwillen im Zeitpunkt des Vertragsschlusses definiert (§ 157 BGB). Diese Zwei-Jahres-Frist darf nicht mit der Einrede der Verjährung verwechselt werden. Die Zwei-Jahres-Frist definiert bereits den Inhalt des Nachlieferungsanspruchs. Die Verjährung (§ 214 BGB) entscheidet als rechtshemmende Einwendung dagegen logisch nachrangig über dessen Durchsetzbarkeit. Trotzdem ist die Zwei-Jahres-Frist an die Verjährungsfrist (§ 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB) „angelehnt“ (RdNr. 54). Sehr kritisch hierzu Staudinger, DAR 2021, 500.

11. K kann von V Nachlieferung eines fabrikneuen VW Golf der 8. Generation verlangen (§§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB).

Nein!

Der Inhalt des Nachlieferungsanspruchs bestimmt sich nach dem Parteiwillen im Einzelfall (§ 157 BGB). BGH: Dieser sei bei einem Verbrauchsgüterkauf auf Nachlieferung eines Nachfolgemodells nur für den Fall gerichtet, dass der Verbraucher binnen zwei Jahren ab Vertragsschluss Nachlieferung verlangt (RdNr. 54). Die Zwei-Jahres-Frist war im Zeitpunkt des erstmaligen Nachlieferungsverlangens der K längst abgelaufen. Ihr Nachlieferungsanspruch beschränkt sich auf einen Golf der 7. Generation. Dieser war nicht mehr lieferbar, sodass Ks Nachlieferungsanspruch wegen Unmöglichkeit untergegangen ist (§ 275 Abs. 1 BGB). Unberührt bleiben ein etwaiger Nachbesserungsanspruch (§§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 Alt. 1 BGB) und Sekundärrechte (§§ 218, 437 Nr. 2, Nr. 3 BGB) der K.
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