Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

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Unfallschadensregulierung: Umfang der fiktiven Schadensabrechnung

Unfallschadensregulierung: Umfang der fiktiven Schadensabrechnung

27. Dezember 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

S hat die Vespa der G beschädigt und haftet ihr in voller Höhe. Eine Reparatur kostet laut Erstgutachten €700 netto, laut Zweitgutachten €1.000 netto. G kauft ein Ersatzfahrzeug für €5.000 zuzüglich €950 Umsatzsteuer. S zahlt nichts. G klagt auf Schadensersatz.

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Einordnung des Falls

Unfallschadensregulierung: Umfang der fiktiven Schadensabrechnung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Art und Umfang des Schadensersatzes, den G von S verlangen kann, richten sich nach den §§ 249ff. BGB.

Ja!

Die §§ 249ff. BGB finden unabhängig vom Haftungsgrund grundsätzlich auf alle Schadensersatzansprüche Anwendung. Im Fall einer Haftung aus §§ 7, 18 StVG werden die §§ 249ff. BGB durch §§ 9ff. StVG modifiziert. Dass S der G in voller Höhe haftet, steht laut Sachverhalt fest. Die Tatbestände der §§ 9ff. StVG sind nicht erfüllt, sodass der Grund dieser Haftung dahinstehen kann. Wir befassen uns im Folgenden daher ausschließlich mit dem Umfang der Haftung, also dem Schadensrecht. Dessen Examensrelevanz ist sehr hoch. In der Klausur steht die Haftung in der Regel noch nicht fest, sodass Du dort zunächst den Haftungsgrund prüfen müsstest.
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2. G kann von S Naturalrestitution verlangen (§ 249 Abs. 1 BGB). Diese kann S durch Reparatur der Vespa oder durch Beschaffung eines Ersatzfahrzeugs bewirken.

Genau, so ist das!

Der Schädiger hat den Zustand herzustellen, der bestünde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre (§ 249 Abs. 1 BGB). Die Auswahl der Herstellungsmaßnahme obliegt dem Schädiger. Reparatur und Ersatzbeschaffung sind gleichwertige Arten der Naturalrestitution (RdNr. 17). Eine andere Herstellungsmaßnahme ist nicht ersichtlich. Die Restitution ist auf das Integritätsinteresse gerichtet. Ist dies nicht möglich, kann Schadensersatz auch durch Kompensation erfolgen (etwa § 251 BGB), die auf das Wertinteresse gerichtet ist. Die Restitution hat gegenüber der Kompensation Vorrang.

3. Statt der Reparatur/Ersatzbeschaffung kann G von S Zahlung des dazu erforderlichen Geldbetrags verlangen.

Ja, in der Tat!

Bei Personen- oder Sachschäden kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen (§ 249 Abs. 2 BGB). Diese Vorschrift begründet eine Ersetzungsbefugnis des Gläubigers, an deren Ausübung er gebunden ist (Lorenz, in: BeckOK-BGB, 01.02.2022, § 262 RdNr. 15). Der Ersatz in Geld (§ 249 Abs. 2 BGB) bewirkt keine Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB), ist aber ebenfalls auf das Integritätsinteresse gerichtet. Es handelt sich damit um eine weitere Form der Restitution - in Abgrenzung zur Kompensation.

4. Als zur Herstellung erforderlichen Geldbetrag kann G die Ersatzbeschaffungskosten in Höhe von €5.950 verlangen (§ 249 Abs. 2 BGB).

Nein!

Bei Personen- oder Sachschäden kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen (§ 249 Abs. 2 BGB). Zur Herstellung erforderlich ist von mehreren gleichwertigen Maßnahmen nur diejenige, die den geringsten Aufwand erfordert (Wirtschaftlichkeitsgebot) (RdNr. 17, 26). Es gilt ein objektiver Maßstab. Die Ersatzbeschaffungskosten in Höhe von €5.950 sind nicht ersatzfähig. Denn eine Reparatur wäre gleichwertig, aber deutlich günstiger gewesen.

5. Ein Anspruch auf Ersatz der veranschlagten Reparaturkosten scheidet aus, da G keine Reparatur durchgeführt hat (§ 249 Abs. 2 BGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Anspruch auf Ersatz in Geld (§ 249 Abs. 2 BGB) setzt nicht voraus, dass der Gläubiger eine Herstellung tatsächlich durchführt (Dispositionsfreiheit). Er kann seinen Schaden vielmehr auch fiktiv abrechnen. Der Schaden wird dann ausschließlich auf abstrakter Grundlage berechnet (RdNr. 19). Regelmäßig bildet diese ein Sachverständigengutachten. G kann Ersatz in Höhe der gutachterlich veranschlagten hypothetischen Reparaturkosten verlangen, obwohl sie sich für eine Ersatzbeschaffung entschieden hat (sog. fiktive Schadensabrechnung).

6. Aufgrund fiktiver Schadensabrechnung kann G von S die hypothetisch erforderlichen Reparaturkosten verlangen (§ 249 Abs. 2 BGB). Diese betragen netto nicht €700, sondern €1.000.

Ja, in der Tat!

Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Ermittlung des erforderlichen Geldbetrags ist der Zeitpunkt der vollständigen Restitution. Bei konkreter Schadensabrechnung kommt es daher auf die Wertverhältnisse im Zeitpunkt der tatsächlich erfolgten Herstellung an. Bei fiktiver Schadensabrechnung sind dagegen, solange der Schädiger nicht vollständig erfüllt hat, die Wertverhältnisse im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung maßgeblich (RdNr. 13). S hat an G bisher nichts gezahlt. Bei fiktiver Schadensabrechnung sind die hypothetischen Reparaturkosten zum Entscheidungszeitpunkt mit mittlerweile €1.000 netto anzusetzen.

7. Bei fiktiver Schadensabrechnung sind grundsätzlich nur Nettobeträge ersatzfähig (§ 249 Abs. 2 BGB). Eine „fiktive Umsatzsteuer“ bleibt außer Betracht.

Ja!

Bei der Beschädigung einer Sache schließt der zur Herstellung erforderliche Geldbetrag die Umsatzsteuer nur mit ein, soweit diese tatsächlich angefallen ist (§ 249 Abs. 2 S. 2 BGB). Eine „fiktive Umsatzsteuer“ ist nicht ersatzfähig (RdNr. 22). Dass sich § 249 Abs. 2 S. 2 BGB nur auf Sachschäden bezieht (Var. 2), liegt daran, dass bei Personenschäden (Var. 1) eine fiktive Schadensabrechnung ohnehin unzulässig ist. Die Regelung soll das schadensrechtliche Bereicherungsverbot durchsetzen. Der BGH und TdL kritisieren sie als systemwidrig (BGHZ 196, 190, RdNr. 6ff.).

8. Da beim Kauf der neuen Vespa tatsächlich €950 Umsatzsteuer angefallen sind, kann G diese bei fiktiver Schadensabrechnung begrenzt auf die Umsatzsteuer einer hypothetischen Reparatur (€190) ersetzt verlangen, insgesamt also €1.190.

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Kombination von konkreter und fiktiver Schadensabrechnung ist unzulässig (sog. Vermischungsverbot). Konkret angefallene Kosten sind daher nicht ersatzfähig, wenn sie keinen Bezug zur vom Gläubiger gewählten abstrakten Abrechnungsgrundlage haben. Dies gilt auch für tatsächlich angefallene Umsatzsteuer (RdNr. 18, 24). Die für die Ersatzbeschaffung tatsächlich angefallene Umsatzsteuer (950€) hat zu der abstrakten Abrechnungsgrundlage der Begutachtung hypothetischer Reparaturkosten keinen Bezug. Das Vermischungsverbot (stRspr.) soll die Kohärenz der Abrechnung sicherstellen und ein „Rosinenpicken“ verhindern (RdNr. 18).

9. Aufgrund konkreter Schadensabrechnung aber kann G von S Ersatz der Ersatzbeschaffungskosten verlangen (€5.950), begrenzt auf die hypothetischen Brutto-Reparaturkosten. Ihr Anspruch beträgt dann €1.190.

Ja, in der Tat!

Die konkrete Schadensabrechnung legt die Kosten einer tatsächlich durchgeführten Herstellungsmaßnahme zugrunde. Diese sind bis zur Höhe der erforderlichen Kosten ersatzfähig (§ 249 Abs. 2 BGB) („Deckelung“, RdNr. 26). G hat tatsächlich €5.950 für die Ersatzbeschaffung gezahlt. Bei konkreter Schadensabrechnung kann G diese Kosten gedeckelt auf die Höhe der hypothetisch erforderlichen Reparaturkosten ersetzt verlangen. Ihr Anspruch beträgt dann €1.190. Dass sich die Ergebnisse der fiktiven (€1.000) und der konkreten (€1.190) Schadensabrechnung unterscheiden, ist das Ergebnis einer kohärenten Anwendung der jeweiligen Abrechnungsgrundlage.

10. G muss sich im Prozess für eine Abrechnungsmethode entscheiden. Wählt sie die fiktive Schadensabrechnung, wird ihr das Gericht nur €1.000 zusprechen (§ 308 Abs. 1 S. 1 ZPO).

Ja!

Im Rahmen des § 249 Abs. 2 BGB muss der Gläubiger zwischen konkreter und fiktiver Schadensabrechnung wählen. Das Gericht spricht ihm nicht mehr zu, als er beantragt (§ 308 Abs. 1 S. 1 ZPO). Dieses Wahlrecht ist prozessualer Natur. Da konkrete und abstrakte Abrechnungsgrundlage verschiedene Lebenssachverhalte darstellen, wählt das Gericht nicht von sich aus die für G günstigere aus. Vielmehr muss G den Streitgegenstand selbst klarstellen, sich also für eine Abrechungsgrundlage entscheiden (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Eine auf "die für die Klägerin günstigere" Abrechnungsgrundlage gestützte Klage wäre als sog. Alternativklage unzulässig.

11. Das Gericht spricht G aufgrund fiktiver Schadensabrechnung €1.000 zu. Kann G den S später aufgrund konkreter Schadensabrechnung auf Zahlung weiterer €190 erneut verklagen?

Genau, so ist das!

Der Gläubiger kann nachträglich die Abrechnungsmethode wechseln und den Differenzbetrag verlangen (RdNr. 20). Fiktive und konkrete Abrechnungsgrundlage sind verschiedene Streitgegenstände, sodass die materielle Rechtskraft eines fiktiv abrechnenden Urteils einer späteren Klage auf konkreten Schadensersatz nicht entgegensteht (§ 322 ZPO) (LG Hamburg NJW 2019, 3463 RdNr. 12).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Roman

Roman

7.7.2023, 16:40:29

Trägt der Schuldner in dem Fall zwei mal die Gerichtskosten?

AM

Anony Mous

5.11.2023, 06:56:07

Das würde mich auch interessieren.

BLAC

Blackiel

6.10.2024, 12:54:06

Grundsätzlich ja, denn es handelt sich um zwei verschiedene Klagen. Gemäß § 91 ZPO trägt die unterliegende Partei grundsätzlich die Kosten. Allerdings müsste die Gegenseite vor Klageerhebung zur Zahlung aufgefordert werden. Es müsste also grundsätzlich ein außergerichtlicher Schlichtungsversuch gemäß § 253 ZPO vorausgegangen sein.

JI

Jimmy105

30.11.2024, 12:24:38

Dann lohnt sich jawohl eine

Feststellungsklage

bzgl der weiteren konkret anfallenden Kosten

DIAA

Diaa

25.9.2023, 08:48:48

Doofe Frage, aber woher kommen die 190, sodass man auf 1.190 € kommt?

SE.

se.si.sc

25.9.2023, 09:16:20

§ 12 I UStG: Höhe der Umsatzsteuer ist 19 %. 19 % der Reparaturkosten iHv 1.000 € sind 190 €.

DIAA

Diaa

26.9.2023, 22:22:51

Vielen Dank @[se.si.sc](

199

709)

GVE

gottloser Vernunftsjurist

6.3.2024, 20:38:04

Hallo liebe Leute, danke für diese Falldarstellung, die ich so sonst noch nicht finden konnte. Ich bitte nochmal um eine nähere Erläuterung dieser Deckelung, da ich die Berechnungsmethode noch nicht sicher verstanden habe. So habe ich es bis jetzt verstanden: Man dividiert zunächst die geschätzten Repeperaturkosten von dem Nettokaufpreis (5.000 / 1.000 = 5). Sodann wird der Bruttokaufpreis mit dem Ergebnis, 5, dividiert. Heraus bekommt man dann die 1.190 € als gedeckelte Summe. Ist dieser Rechenweg so wie eurer oder geht es auch einfacher?

Nedjem

Nedjem

15.3.2024, 13:35:21

Hey Luk7_8, es geht

tat

sächlich deutlich einfacher! Die Schadensersatzpflicht gem. 249 BGB erstreckt sich nur auf die Maßnahme, die erforderlich ist, also den geringsten Aufwand bedeutet. In diesem Fall sind das die Reparaturkosten i.H.v. 1000€. Auf diesen Betrag ist die Schadensabrechnung gedeckelt. Bei konkreter Abrechnung schließt das gem. 249 II 2 BGB die Umsatzsteuer mit ein. Diese beträgt 19%. Somit erhältst Du bei konkreter Abrechnung einen gedeckelten Betrag von 1190€, auch wenn der Geschädigte eine teurere Maßnahme vornehmen lässt (hier Kauf eines Ersatzfahrzeugs). Liebe Grüße

JAK

JakobWI

21.10.2024, 12:10:39

Hallo, vielen Dank für die schöne Aufbereitung des Falles. Ich habe eine kleine Anmerkung: Könntet ihr vielleicht in den Sachverhalt mit Aufnehmen warum das Zweitgutachten höhere Reparaturkosten ermittelt hat. Dadurch wird die Frage, welche der gutachtlich ermittelten Werte maßgeblich sein soll, mE verständlicher.


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