Abgrenzung abstrakte Gefahr/Risiko

13. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Aufgrund wiederholter Auseinandersetzungen im städtischen Vergnügungsviertel, die durch den Gebrauch von Glasflaschen als Schlagmittel schwerste Verletzungen hervorriefen, erlässt die Landesregierung ein Glasflaschenverbot im Bereich des Viertels durch Verordnung.

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Einordnung des Falls

Abgrenzung abstrakte Gefahr/Risiko

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Erlass einer Verordnung zur Gefahrenabwehr setzt das Vorliegen einer abstrakten Gefahr voraus.

Ja!

Anders als die einzelfallbezogenen Generalklauseln fordern die Generalermächtigungen zu Polizeiverordnungen (z.B. § 55 Abs. 1 NPOG, § 27 Abs. 1 OBG Thür, § 17 Abs. 1 PolG BW) eine abstrakte Gefahr. Diese setzt voraus, dass eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall einzutreten pflegt. Abzugrenzen ist diese von der Gefahrenvorsorge. Diese bekämpft mangels hinreichender Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts keine Gefahr, sondern lediglich Risiken im Vorstadium von Gefahren. Das Exekutivhandeln ist grundsätzlich auf die Gefahrenabwehr beschränkt. Die Gefahrenvorsorge obliegt dagegen dem Parlamentsgesetzgeber. Deutlich wird hier die in den Verfassungsprinzipien wurzelnde Beschränkung exekutiver Normsetzungsbefugnisse. Nur dem - insoweit demokratisch besonders legitimierten - Parlament ist die Gefahrenvorsorge auf Grundlage einer Risikoabwägung gestattet.
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2. Das Mitführen von Glasflaschen im Vergnügungsviertel stellt eine abstrakte Gefahr dar.

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine abstrakte Gefahr ist eine Sachlage, die bei einer generell-abstrakten Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall einzutreten pflegt. An den Grad der Wahrscheinlichkeit sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Die Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit sind aufgrund der drohenden schweren Gesundheitsschädigungen abgesenkt. Jedoch ist die absolute Mehrheit der Besucher, die Glasflaschen mitführen, friedlich. Das Mitführen von Glasflaschen begründet somit keine abstrakte Gefahr, sondern lediglich ein Risiko.

3. Mangels abstrakter Gefahr besteht keine Möglichkeit ein Glasflaschenverbot im Vergnügungsviertel zu erlassen.

Nein, das trifft nicht zu!

Mangels abstrakter Gefahr darf die durch die Generalermächtigungen ermächtigte Exekutive kein Glasflaschenverbot durch Verordnung erlassen. Die Gefahrenvorsorge durch Rechtssatz ist vielmehr dem Parlamentsgesetzgeber vorbehalten, der ein entsprechendes Gesetz erlassen könnte. In Hamburg gilt etwa das GlasflaschenverbotsG, welches gemäß seines § 1 Abs. 1 Nr. 1 verbietet, Glasflaschen in einem näher benannten Gebiet mitzuführen. Nachdem das OVG Bremen mangels Vorliegen einer abstrakten Gefahr eine Glasflaschenverbotsverordnung für rechtswidrig erklärte, folgte man dort dem Hamburger Vorbild und erließ das "Gesetz über das Verbot des Mitführens und der Abgabe von Glasflaschen oder Trinkgläsern in bestimmten Gebieten".
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Blackpanther

Blackpanther

11.1.2023, 13:19:08

Worin genau liegt der Unterschied zum Paternoster-Fall? Auch dort ist doch davon auszugehen, dass er von der Mehrheit der Nutzer ordnungsgemäß verwendet wird und es nicht zu Schäden kommt.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

11.1.2023, 13:49:08

Hallo Blackpanther, diese Entscheidungen erfolgen immer im Rahmen einer Abwägung. Beim Paternoster ist z.B. die Wahrscheinlichkeit gering, dass unbeteiligte Dritte zu Schaden kommen, die Art der Verletzung ist vielleicht eine andere. Die Häufigkeit von Paternostern hat sehr abgenommen. All dies führt dazu, dass es zu einer anderen Gefahrenprognose kommt. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Blackpanther

Blackpanther

11.1.2023, 17:00:03

In Paternoster-Fall wurde, wenn ich mich richtig erinnere, aber eine

abstrakte Gefahr

angenommen, während sie im Glasflaschen-Fall abgelehnt wurde 🤔

GI

GingerCharme

28.7.2023, 12:22:18

@[Blackpanther](163646) Genau es wurde im Pater-Nosterfall angenommen, dass eine abstrakte Gefährlichkeit besteht, im Glasflaschen-Verbotsfall aber nicht. Wieso? mMn, weil: Der Pater-Noster-Fall spielte in einem Wohnhaus, dort gehen Kinder ein und aus, diese könnten sich sicherlich verletzen, da sie tendenziell sorgloser Gebrauch von Fahrstühlen machen. Zudem ist eine Vielzahl von Menschen tagtäglich bedroht, sich "ausversehen" zu verletzen. Im Glasflaschenfall jedoch, müsste das Glas als Waffe eingesetzt werden, wenn wir Mal davon ausgehen, dass Verbot solle nicht versehentliches hineintreten in achtsam rumliegendes gesplittertes Glas verhüten. Wenn man nun vergleicht: Pater-Nosterfall mit Kindern, die sich sicherlich ausversehen verletzten könnten auf der einen Seite und auf der anderen Seite, nur die Möglichkeit, dass Horden von wütenden Menschen Glasflaschen als Waffen gebrauchen, so ist die Gefährlichkeit vom Pater-Noster mMn schon als gewichtiger einzustufen. Alleine schon weil es keines Vorsatzes zu Straftaten oder zu atypischen Verläufen bedarf, damit ein Schaden eintritt.

Anastasia

Anastasia

29.7.2023, 21:42:04

Im Paternoster-Fall besteht die Gefahr sofort und typischerweise für alle Nutzer + keine politische Rechte sind betroffen, nur das Eigentum wenigen Hausbesitzer. Daher eine durch Executive schnell erlassene Verordnung als zulässig gesehen wurde. Im Glasflaschen-Fall sind dagegen nur einzelne Personen und nur ausnahmsweise betroffen, plus es geht um Handlungsfreiheit - deshalb Gesetz statt Verordnung.

ALE

Aleks_is_Y

18.4.2024, 16:30:10

Ich finde in der Gesamtschau der beiden Aufgaben sollte entweder der Unterschied deutlicher herausgearbeitet werden; dieser wird auch in meinen Augen nicht ganz deutlich. Oder aber darauf hingewiesen werden, dass es sich jeweils um "Einzelfall-Entscheidungen" handelt, die in ihrem jeweiliegen zeitlich, politisch, kulturellem Kontext gesehen werden müssen.

MAT

Matschegenga

9.1.2024, 00:01:14

Wenn die folgenreiche Abgrenzung zwischen Gefahr und Risiko anhand des Merkmals der "hinreichenden Wahrscheinlichkeit" des Schadenseintritts getroffen wird, dann müsste es doch möglich sein, sich UNGEFÄHR festzulegen, wie hoch eine solche "hinreichende" Wahrscheinlichkeit sein muss. Muss die Verhaltensweise eher in ca. 50%, 5%, 0,5%, 0,05% oder 0,05% der Fälle zum Schadenseintritt führen? Dazwischen liegen Welten! Wenn jeder Richter seine Wahrscheinlichkeitsschwelle völlig frei nach Bauchgefühl festlegen kann, braucht es auch keine smart klingenden Abgrenzungsformeln um eine Objektivierbarkeit vorzutäuschen.


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