Verteidiger 1 – Wahrheits-, Fürsprache- und Verschwiegenheitspflicht


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T wird wegen Totschlags angeklagt. Er trifft sich mit dem Verteidiger V, beginnt das Gespräch mit den Worten: „Ich hab Mist gebaut.“ und erzählt V jedes Detail von der begangenen Tat. In der Hauptverhandlung sagt ein vom Gericht geladener Zeuge zur Überraschung des V falsch aus und verschafft dem T ein Alibi. Das Gericht gibt zu erkennen, dass es seine Zweifel an der Schuld des T nicht überwinden kann.

Einordnung des Falls

Verteidiger 1 – Wahrheits-, Fürsprache- und Verschwiegenheitspflicht

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. V muss im Strafverfahren die Wahrheit sagen.

Ja!

Der Verteidiger ist als Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtpflege (§ 1 BRAO). Als Organ der Rechtspflege hat der Verteidiger eine Wahrheitspflicht. Er darf nur vortragen, was auch der Wahrheit der entspricht und die Interessen seines Mandanten nicht auf Kosten der Wahrheit durchsetzen. Der Verteidiger hat kein Recht zur Lüge und darf auch nicht durch die aktive Verdunkelung und Verzerrung des Sachverhalts die Wahrheitserforschung erschweren oder Beweisquellen verfälschen. Zulässig ist es aber, dem Beschuldigten den Rat zu erteilen zu schweigen. V darf wegen seiner Wahrheitspflicht nur sagen, was wahr ist.

2. V muss wegen seiner Wahrheitspflicht in der Hauptverhandlung eine Verurteilung des T beantragen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Wahrheitspflicht des Verteidigers wird begrenzt durch seine Fürsprachepflicht. Fürsprachepflicht bedeutet, dass der Verteidiger den Auftrag hat, die Interessen des Beschuldigten wahrzunehmen. Er ist zur Einseitigkeit verpflichtet, nicht zur Objektivität. Der Verteidiger muss auf Freispruch plädieren, selbst wenn er den Angeklagten für schuldig hält, der Schuldnachweis im Verfahren aber nicht geführt ist. Hier ist das Gericht nicht von der Schuld des T überzeugt, weshalb V im Interesse des T einen Freispruch beantragen muss.

3. V muss in der Hauptverhandlung nicht von sich aus den wahren Sachverhalt vortragen.

Ja, in der Tat!

Die Wahrheitspflicht des Verteidigers wird auch begrenzt durch seine Verschwiegenheitspflicht. Verschwiegenheitspflicht bedeutet, dass der Verteidiger belastende Umstände nicht ohne Zustimmung seines Mandanten offenbaren darf. Alles was der Verteidiger sagt, muss also wahr sein. Er darf und muss die Wahrheit aber manchmal verschweigen. Rechtlich abgesichert wird diese Pflicht durch den Straftatbestand des § 203 StGB. V hat Kenntnis von den belastenden Umständen erlangt und von T keine Zustimmung zur Offenbarung erhalten.

4. V muss intervenieren, wenn der Zeuge T ein falsches Alibi verschafft.

Nein!

Aus der Begrenzung der Wahrheitspflicht durch die Fürsprache- und Verschwiegenheitspflicht folgt, dass der Verteidiger nur das vorbringen soll, was für den Mandanten spricht und sein Interesse an Geheimhaltung nicht verletzt. Der Verteidiger, der es besser weiß, darf nicht im Interesse der Wahrheit intervenieren, weil er zur Verschwiegenheit und Einseitigkeit verpflichtet ist. V darf nicht intervenieren.

5. V dürfte selbst keinen Zeugen benennen, von dem er weiß, dass er dem Angeklagten ein falsches Alibi verschaffen wird.

Genau, so ist das!

Verteidiger selbst dürfen nur vortragen, was auch der Wahrheit der entspricht. Benennt der Verteidiger einen Zeugen in dem Wissen, dass dieser dem Beschuldigten ein falsches Alibi geben wird, verstößt er gegen die Wahrheitspflicht. Er muss daher diese Benennung unterlassen. Hat der Verteidiger dagegen kein positives Wissen, sondern zweifelt nur an der Richtigkeit der Behauptung seines Mandanten, braucht er nicht untätig zu bleiben. Selbst erhebliche Bedenken hindern ihn hier nicht.

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GEL

gelöscht

10.6.2021, 01:19:16

Ich hab zur Wahrheitspflicht ne Gedanke. Abgesehen von theoretisches Wissen. Wie prüft dann das Gericht, ob V gegen der Wahrheitspflicht verstoßen hätte? Was wenn sich Verteidiger mit Angeklagten (und Zeugen) darauf einigen würden, dass sie gemeinsam Beweisen oder Aussagen verfälschen würden und niemand von Gerichtsumgebung dies bemerken würde? Oder V würde sagen, er hätte gar nichts darüber gewusst? Also konkret: woraus besteht (in der Praxis)die Kontrolle, ob V seine Pflichten nachgeht? LG

Der BGBoss

Der BGBoss

10.6.2021, 07:56:27

Eine Verletzung der Wahrheitspflicht ist unter den von dir beschriebenen klandestinen Umständen natürlich schwierig zu erkennen. Jedoch hat m.E. Die Wahrheit kommt immer ans Licht einen vielleicht nicht ganz so apodiktischen aber trotzdem wahren Kern. Was wäre, wenn im vorliegenden Fall, Kenntnis des V von der Lüge vorab unterstellt, der Zeuge seine Lüge enttarnt. Hier ist es ähnlich wie bei den Aussagedelikten. Ermittlungen können dann aufgenommen werden, wenn etwas evident nicht zusammenpasst. Als Beispiel aus der Realität kann ich dich z.B. auf den Prozess wegen des Mordes an Walter Lübcke. Hier hat der Angeklgate Stephan E. Im Januar 2020 plötzlich völlig anders ausgesagt, als in allen anderen Verhören. Später im Prozess hat er hierzu gesagt, dass sein Anwalt auf die neue Geschichte hingewirkt hat. Hier wurde mW. zumindest wegen einer Verletzung der Wahrheitspflicht ermittelt.

Isabell

Isabell

10.6.2021, 08:03:46

Ich kann aus eigener Erfahrung von meinem Sitzungsdienst vorm Strafrichter sagen, dass sich die allermeisten Leute verraten. Entweder sie verplapplern sich oder benehmen sich sonst bei ihrer Aussage seltsam. Ich hatte auch mal eine Verhandlung, da wurde so eine schräge Geschichte erzählt, dass die Richterin im Folgetermin eine riesige Beweisaufnahme gemacht hat, obwohl es eigentlich um nichts Besonderes ging. Ende vom Lied: Schuldspruch und Ermittlungsverfahren gegen den Anwalt. Der darf nämlich auch nicht lügen oder irgendwen dazu anstiften.

Theo

Theo

18.3.2023, 14:49:50

Würde sich der Verteidiger bei Benennung eines lügenden Zeugen (was der Verteidiger auch weiß) einer Strafvereitelung strafbar machen?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

20.3.2023, 14:17:17

Hallo Theo, Danke für deine Frage, wie bereits dargestellt kommt es darauf an ob die Verteidigungshandlung die Grenzen des prozessual zulässigen überschreitet, mithin rechtsmissbräuchlich ist. Rechtsmissbräuchlich und damit als taugliche Tathandlug anzusehen ist deshalb beispielsweise, wenn der Verteidiger zur Verhinderung oder zur Erschwerung der Wahrheitserforschung (etwa mittels Vereitelung einer Beschlagnahme) wider besseres Wissen unzutreffende Sachverhalte vorträgt, als Verteidiger wider besseres Wissen zur Zerstörung der Glaubwürdigkeit einer Aussageperson (zumal unter Beifügung einer vorgefertigten schriftlichen Aussage Meineidzeugen zu benennen oder im Entschluss zur Falschaussage zu bestärken. Die Präsentation eines zum Meineid entschlossenen Zeugen ist mithin eine taugliche Handlung.Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team


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