Zivilrecht
Schuldrecht Allgemeiner Teil
Haftung aus culpa in contrahendo (Leistungsstörungsrecht)
Herbeiführung eines negativen Vertrags als Schaden („Thor-Steinar-Fall“)
Herbeiführung eines negativen Vertrags als Schaden („Thor-Steinar-Fall“)
20. Mai 2025
34 Kommentare
4,6 ★ (41.047 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
V vermietet M ein Bekleidungsgeschäft im Hundertwasserhaus in Magdeburg. M vertreibt dort Kleider der Marke „Thor Steinar“, die insbesondere von Anhängern der rechtsextremen Szene gekauft wird. V wusste davon nichts. M wusste, dass V ihm die Räume nicht vermietet hätte, wenn M die Marke erwähnt hätte.
Diesen Fall lösen 0,0 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Herbeiführung eines negativen Vertrags als Schaden („Thor-Steinar-Fall“)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. V kann den Mietvertrag außerordentlich kündigen (§ 543 Abs. 1 BGB).
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Zwischen M und V ist ein vorvertragliches Schuldverhältnis entstanden (§ 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB).
Genau, so ist das!
3. Indem M verschwieg, dass er Kleidung der Marke Thor-Steinar verkaufen wird, hat er eine vorvertragliche Pflicht verletzt (§ 241 Abs. 2 BGB).
Ja, in der Tat!
4. V hat gegen M einen Schadenersatzanspruch aus c.i.c., gerichtet auf Vertragsaufhebung (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 1, 241 Abs. 2, 249 Abs. 1 BGB).
Ja!
5. V kann seine Willenserklärung, gerichtet auf Abschluss des Mietvertrags mit M, wegen arglistiger Täuschung anfechten (§ 123 Abs. 1).
Genau, so ist das!
Fundstellen
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Alex1.Sem
11.6.2020, 17:22:51
Warum ist die CIC anwendbar, wenn bereits ein Mietvertrag besteht?

Eigentum verpflichtet 🏔️
11.6.2020, 17:39:13
Die Antwort auf deine Frage findest du bei Frage 2. Hier geht es darum, dass M den V bei den Vertragsverhandlungen vor Abschluss des Mietvertrages getäuscht hat. Demzufolge geht es um ein Ver
schulden bei Vertragsabschluss, also um die
culpa in contrahendo. :)

Christian Leupold-Wendling
18.6.2020, 12:12:20
Korrekt. Dass später ein Vertrag tatsächlich zustande kam, schließt die Anwendung der
culpa in contrahendonicht aus. Wie werden die zivilrechtlichen Konkurrenzen bei Gelegenheit auch einmal zusammenhängend darstellen.


Eigentum verpflichtet 🏔️
24.12.2020, 02:19:29
Genau so ist es OCrrY, es sei denn, es gibt den
Vorrang der Nacherfüllungim Kauf oder Werkrecht (insoweit ist die cic nur bei
Vorsatzanwendbar).
BGB Quinn
22.9.2021, 23:13:40
Kann M auch nach Par. 324 vom Vertrag zurücktreten? Wenn ja, hat der Weg über c.i.c. irgendwelche Vorteile?

Ferdinand
21.5.2021, 11:14:56
Woraus ergibt sich eine Aufklärungspflicht des M, den V über seine Tätigkeit aufzuklären in Bezug auf § 123 I ? Kann in diesem Zusammenhang auch auf § 241 II oder auf § 242 abgestellt werden?

Tigerwitsch
21.5.2021, 12:01:58
Der BGH (U. v. 11.08.2010 - AZ.: XII ZR 192/08) führt hierzu aus: „Nach der Rechtsprechung] besteht eine Rechtspflicht zur Aufklärung bei Vertragsverhandlungen ohne Nachfrage dann, wenn der andere Teil nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung redlicherweise die Mitteilung von
Tatsachenerwarten durfte die für die Willensbildung des anderen Teils offensichtlich von ausschlaggebender Bedeutung sind. […] Davon wird insbesondere bei solchen
Tatsachenausgegangen, die den Vertragszweck vereiteln oder erheblich gefährden können. […] eine Tatsache von ausschlaggebender Bedeutung kann auch dann vorliegen, wenn sie geeignet ist, dem Vertragspartner erheblichen wirtschaftlichen
Schadenzuzufügen.“ Der BGH führt weiter aus, dass es im Rahmen der Gewerbemiete grundsätzlich dem Vermieter obliegt, sich selbst über gefahren und Risiken zu informieren, die allgemein für ihn mit dem Abschluss eines Mietvertrages verbunden sind. Das gilt jedoch nicht für sog. außergewöhnliche Umstände. Insbesondere kommt es nach Ansicht des BGH auf den konkreten Einzelfall an. Im vorliegenden Fall war insbesondere zu berücksichtigen, dass das Mietobjekt sich in dem vom Künstler Hundertwasser entworfenen Gebäude befand. Das Gebäude war aufgrund seiner besonderen Gestaltung eine Attraktion für Touristen und Kunden. Der Verkauf von
Waren der Marke „Thor Steinar“ würde diesen Zweck gefährden. Der BGH führt aus: „ denn der Verkauf solcher
Waren kann zur Folge haben, dass das Hundertwasserhaus in den Ruf gerät, Anziehungsort für rechtsradikale Käuferschichten zu sein und damit ein Ort, an dem […] gewaltsame Auseinandersetzungen zu erwarten sind. […] Der Verkauf von
Waren [dieser] Marke […] kann deshalb der Vermieterin erheblichen wirtschaftlichen
Schadenzufügen.“

Lukas_Mengestu
21.5.2021, 12:06:07
Hallo Ferdinand, in der Tat zieht der BGH hier zur Herleitung der Aufklärungspflicht "Treu und Glauben" (§ 242 BGB) heran (Rdnr. 24 ff): "Allerdings besteht nach der Rechtsprechung eine Rechtspflicht zur Aufklärung bei Vertragsverhandlungen auch ohne Nachfrage dann, wenn der andere Teil nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung redlicherweise die Mitteilung von
Tatsachenerwarten durfte, die für die Willensbildung des anderen Teils offensichtlich von ausschlaggebender Bedeutung sind [Quellen]. [...] Die Aufklärung über eine solche Tatsache kann der Vertragspartner redlicherweise aber nur verlangen, wenn er im Rahmen seiner Eigenverantwortung nicht gehalten ist, sich selbst über diese Tatsache zu informieren." Gemessen an diesen Maßstäben hat der BGH wegen der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalles eine Aufklärungspflicht bejaht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Vincent
15.9.2021, 12:25:27
Ich finde problematisch worin hier der
Schadenzu sehen ist bzgl. der Vertragsaufhebung: Ein anderer Mieter hätte im Zweifel ja dieselbe Miete gezahlt, nur eben nicht mit der Intention, dort Sachen der Marke Thor Steinar zu verkaufen. Oder bedarf es hier gar keinem
Schadensondern nur der
Feststellung, dass der Vertrag deshalb aufgehoben werden konnte?

Lukas_Mengestu
19.10.2021, 09:19:35
Hallo Vincent, in der Tat liegt der "
Schaden" hier in dem Abschluss des Mietvertrages und den davon ausgehenden potentiellen wirtschaftlichen Schädigungen des V (rufschädigende Wirkung, wodurch Kunden und Touristen, ggfs. Minderung oder Kündigung der anderen Mieter in dem Komplex) . Um diesen
Schadenauszugleichen, ist der Zustand herzustellen, der ohne die Pflichtverletzung bestanden hätte. Dies gelingt hier durch Aufhebung des Mietvertrages. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Natze
21.2.2024, 15:05:32
Auch wenn ich die Entscheidung anti-rechts absolut begrüße: Was ist denn mit der mittelbaren Drittwirkung der GR? In Art. 3 III GG wird die politische Gesinnung erwähnt?
Dogu
17.5.2024, 13:30:51
Als natürliche Person bin ich grundsätzlich (außer bei Monopolstellung wichtiger Güter etc.) nicht zur Gleichbehandlung verpflichtet, sondern kann mir meine Vertragspartner frei aussuchen. Ansonsten wäre ja auch von der Vertragsfreiheit nichts mehr übrig. Ein Vermieter muss ansonsten nur im Rahmen des AGG gleich behandeln (§ 19 AGG). Das AGG umfasst nicht die politische Gesinnung, sondern bis auf die Religion nur Faktoren, die sich der Disposition entziehen. Des Weiteren wäre hier schon der Anwendungsbereich fraglich, wenn der Vermieter nur eine Gewerbeimmobilie vermietet und kein Massengeschäft abwickelt. Dazu gibt es auch einen Fall auf Jurafuchs (NPD-Funktionär wird die Reservierung im Wellness-Hotel verweigert). Vielleicht hilft der auch weiter. :)

Natze
17.5.2024, 13:35:00
Danke dir für die Antwort ☺️

Natze
5.11.2024, 16:36:29
Gut, dass ich nachgefragt habe. Danke @[Dogu](137074) für die Antwort! Es kam in unseren Herbstdurchgang in ZR I BaWü dran in Verbindung mit dem NPD-Funktionär-Fall 😊
Dogu
6.11.2024, 12:43:43
Ah cool. Freut mich, dass meine Antwort so positive Auswirkungen hatte. : )
B.H.
6.10.2024, 11:31:30

Sebastian Schmitt
18.4.2025, 16:01:13
Hallo @[B.H. ](154709), das Recht zur
Anfechtung wegen arglistiger Täuschungund der Anspruch auf
Schadensersatz aus cic stehen grds nebeneinander, wie es bei Ansprüchen im ZivilR häufig der Fall ist. Der Anfechtungsberechtigte/Anspruchsinhaber hat ein Wahlrecht dahingehend, was er geltend machen möchte (näher BeckOGK-BGB/Herresthal, Stand 15.10.2024, § 311 Rn 233 ff). Dass in unserem Fall beide Rechte/Ansprüche auf Vertragsaufhebung abzielen, ändert daran grds nichts. Für den Anfechtungsberechtigten/Anspruchsinhaber kann in bestimmten Fällen durchaus wichtig sein, dass er hier mehrere Möglichkeiten hat. Zwischen Anfechtungsrecht und
Schadensersatz besteht nämlich kein (vollständiger) Gleichlauf, was die rechtlichen Voraussetzungen angeht (zB (Ausschluss-)Frist des § 124 I BGB schon abgelaufen, aber Anspruch auf
Schadensersatz noch nicht verjährt). Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
Neni808
8.3.2025, 16:55:02
Welche Ansprüche des V gegen M kommen in Betracht?

Ranii
10.3.2025, 13:26:03
Hallo Neni808, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Das kommt natürlich darauf an, welche Schäden dem V entstanden sind und welche er überhaupt davon geltend machen möchte ggü. M. Falls V die entgangenen Gewinne - zumeist der Fall bei arglistiger
Täuschung- sich zurückholen möchte, kommt der 122 sowie CIC in Betracht. Weitere Ansprüche kommen hingegen aufgrund der Anfechtung - Vertrag wird zerstört - nicht in Frage :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Leo Lee
10.3.2025, 13:27:28
Hallo Neni808, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Das kommt natürlich darauf an, welche Schäden dem V entstanden sind und welche er überhaupt davon geltend machen möchte ggü. M. Falls V die entgangenen Gewinne - zumeist der Fall bei arglistiger
Täuschung- sich zurückholen möchte, kommt CIC in Betracht. Weitere Ansprüche kommen hingegen bei gegebenem SV nicht in Frage :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo