Jungbullenfall

9. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration Jungbullenfall (BGH, Urt. v. 11.01.1971 = BGHZ 55, 176): Dieb D stiehlt dem Bauern K zwei Jungbullen und veräußert diese B. B schlachtet die Tiere und verarbeitet das Fleisch zu Wurst.
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Klassisches Klausurproblem

D stiehlt dem Bauern K zwei Jungbullen und veräußert diese für €1000 an den gutgläubigen B. Dies entspricht dem Wert der Bullen. B schlachtet die Tiere und verarbeitet das Fleisch zu Wurst im Wert von €2000. Welche Ansprüche hat K gegen B?

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Einordnung des Falls

Der Jungbullen-Fall ist seit der Entscheidung des BGH im Jahr 1971 ein absoluter Klausur- und Examensklassiker, der jedem bekannt sein muss. Ein Dieb stiehlt einem Bauern zwei Jungbullen und verkauft sie an einen gutgläubigen Fleischfabrikanten, der die Jungbullen zu Dosenfleisch verarbeitet. Der Bauer will nun gegen den Fleischfabrikanten Ansprüche geltend machen. Die Entscheidung befasst sich zentral mit Rechtsproblemen des Sachenrechts und des Bereicherungsrechts. Insbesondere geht es um den sogenannten Vorrang der Leistungsbeziehungen im Rahmen der Kondiktion (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB).

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K könnte gegen B ein Schadensersatzanspruch aus §§ 989, 990 Abs. 1 BGB zustehen.

Ja, in der Tat!

Dieser Anspruch setzt voraus: (1) Vindikationslage zur Zeit des schädigenden Ereignisses, (2) Rechtshängigkeit oder Bösgläubigkeit, (3) Verschlechterung/Untergang oder anderweitige Unmöglichkeit der Herausgabe der Sache, (4) Verschulden. Ein Anspruch aus §§ 987 Abs. 1, 990 BGB kommt nicht in Betracht, da die Verwertung der Bullen keine Nutzung darstellt (§ 100 BGB). Denn der Ertrag wird hier nicht als Vorteil aus dem Gebrauch, sondern aus der Sache selbst erzielt.
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2. Lag zwischen K und B eine Vindikationslage zur Zeit des schädigenden Ereignisses vor?

Ja!

Dies setzt voraus, dass (1) der Anspruchsteller zur Zeit des schädigenden Ereignisses Eigentümer und (2) der Anspruchsgegner Besitzer (3) ohne Recht zum Besitz ist. Zur Zeit der Verwertung war B Besitzer der Bullen und K deren Eigentümer. Da K den unmittelbaren Besitz an den Bullen durch Ds Diebstahl unfreiwillig verloren hat, hat B das Eigentum an den Bullen auch nicht gutgläubig erworben (§ 935 Abs. 1 S. 1 BGB). Da die Verarbeitung das schädigende Ereignis ist, kommt es auf einen etwaigen Eigentumserwerb nach § 950 BGB, der erst danach eintreten würde, für die Vindikationslage nicht an.

3. Liegen die übrigen Voraussetzungen des Anspruchs aus §§ 989, 990 Abs. 1 BGB vor?

Nein, das ist nicht der Fall!

Neben der Vindikationslage müssten folgende Voraussetzungen vorliegen: (2) Rechtshängigkeit oder Bösgläubigkeit, (3) Verschlechterung/Untergang oder anderweitige Unmöglichkeit der Herausgabe der Sache, (4) Verschulden. B war bei Besitzerwerb hinsichtlich seines Rechtes zum Besitz allerdings gutgläubig (§ 932 Abs. 2 BGB analog). Die übrigen Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs liegen somit nicht vor. § 932 Abs. 2 BGB wird lediglich analog angewendet, da Bezugspunkt des guten Glaubens nicht die Eigentümerstellung, sondern das eigene Recht zum Besitz ist.

4. Sind neben den EBV-Ansprüchen Schadensersatzansprüche aus §§ 823ff. BGB anwendbar?

Nein, das trifft nicht zu!

Bei Vorliegen einer Vindikationslage entfalten die §§ 987ff. BGB Sperrwirkung hinsichtlich anderer Schadensersatzansprüche (§ 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB). Die Sperrwirkung greift nur in folgenden Ausnahmefällen nicht: (1) § 992 BGB, (2) Ansprüche aus §§ 687 Abs. 2, 826 BGB, (3) Fremdbesitzerexzess im Zwei-Personen-Verhältnis. Eine Vindikationslage liegt wie dargelegt vor. § 992 BGB ist nicht einschlägig, da B sich den Besitz an den Bullen nicht durch verbotene Eigenmacht oder Straftat verschafft hat. Da B davon ausging, Eigentümer der Bullen geworden zu sein, kommt auch ein Fremdbesitzerexzess nicht in Betracht.

5. Könnte K ein Wertersatzanspruch gegen B zustehen (§§ 951 Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2, 818 Abs. 2 BGB)?

Ja!

Dieser Anspruch setzt voraus: (1) Anwendbarkeit, (2) Rechtsverlust aufgrund der §§ 946-950 BGB, (3) Voraussetzungen des Bereicherungsanspruchs. Es handelt sich um einen sogenannten Rechtsfortwirkungsanspruch. Vor Verarbeitung hatte K gegen B einen Anspruch auf Herausgabe nach § 985 BGB, danach einen Wertersatzanspruch aus § 951 BGB.

6. Ist dieser Wertersatzanspruch trotz der Sperrwirkung des EBV (§ 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB) anwendbar?

Genau, so ist das!

Die Sperrwirkung des § 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB reicht nur so weit, wie der sachliche Anwendungsbereich der §§ 987ff. BGB. Er umfasst also nur Nutzungs- und Schadensersatzansprüche. Der Anspruch aus § 951 BGB stellt einen Wertersatzanspruch dar, und wird daher von der Sperrwirkung nicht umfasst. Insbesondere stellt der Verbrauch/die Verarbeitung keine Nutzung dar (s.o.).

7. Hat K das Eigentum an den Bullen durch Verarbeitung des B verloren (§ 950 BGB)?

Ja, in der Tat!

Ein Eigentumserwerb durch Verarbeitung setzt voraus: (1) Verarbeitungs- oder Umbildungsvorgang, (2) neue bewegliche Sache, (3) Verarbeitungswert nicht erheblich geringer als Stoffwert. Zu 1: Verarbeitung ist jedes von menschlichem Willen beherrschte Tun, das zur Herstellung einer neuen Sache führt. Zu 2: Ob eine Sache neu ist, beurteilt sich nach der Verkehrsanschauung. Zu 3.: Erheblich geringer ist der Verarbeitungswert, wenn er um 40 % unter dem Stoffwert liegt. B schuf durch die Verarbeitung der Bullen zu Wurst willentlich eine neue bewegliche Sache. Der Verarbeitungswert (€1000) entspricht dem Stoffwert (€1000), ist also nicht erheblich geringer als dieser.

8. Handelt es sich bei § 951 Abs. 1 S. 1 BGB nur um einen Rechtsfolgenverweis auf das Bereicherungsrecht?

Nein!

§ 951 Abs. 1 S. 1 BGB stellt eine Rechtsgrundverweisung dar. Denn die §§ 946ff. BGB treffen keine materielle Güterzuordnung. Sie weisen nur aus Gründen der Rechtssicherheit das Eigentum an der Sache selbst zu, ohne zu bestimmen, wem der Substanzwert der Sache zusteht. Für den Verbleib des Substanzwerts beim Erwerber ist maßgeblich, ob für den gesetzlichen Eigentumserwerb ein Rechtsgrund besteht.

9. Müssten für einen Wertersatzanspruch daher zusätzlich die Voraussetzungen des § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB vorliegen?

Genau, so ist das!

§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB setzt voraus: (1) erlangtes Etwas, (2) in sonstiger Weise, (3) auf Kosten des Bereicherungsgläubigers, (4) ohne Rechtsgrund. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB kommt nicht in Betracht, da keine Leistung von K an B vorliegt.

10. Hat B das Eigentum an der Wurst in sonstiger Weise erlangt?

Ja, in der Tat!

In sonstiger Weise ist Etwas nur dann erlangt, wenn der Bereicherungsgegenstand dem Bereicherungsschuldner von niemandem geleistet worden ist. Das Vorliegen einer Leistung wird hierbei objektiv ex post beurteilt (§§ 133, 157 BGB analog). D hat wegen § 935 Abs. 1 S. 1 BGB nur den Besitz, nicht aber das Eigentum an den Bullen geleistet. Dass B subjektiv davon ausging, von D auch das Eigentum geleistet zu bekommen, spielt keine Rolle. Dies nennt man den Vorrang der Leistungsbeziehung. Die Wendung „Vorrang der Leistungskondiktion“ ist ungenau, da es auf das Vorliegen eines Rechtsgrundes im Leistungsverhältnis nicht ankommt.

11. Hat B die Bullen auch auf Kosten des K verwertet?

Ja!

Ein Eingriff erfolgt dann auf Kosten eines anderen, wenn er in eine Rechtsposition erfolgt, die diesem anderen zugewiesen ist. Die Verwertung der Bullen zu Fleischwaren war dem Eigentümer der Bullen, also K, zugewiesen. Damit erfolgte der Eingriff auf Kosten des K.

12. Bestand für den Eigentumserwerb des B ein Rechtsgrund?

Nein, das ist nicht der Fall!

Für das erlangte Etwas dürfte kein Rechtsgrund bestehen. Im Kontext der Eingriffskondiktion heißt dies, dass der erlangte Vorteil nach dem Zuweisungsgehalt des fremden Rechts einem anderen gebührt. Der durch B erlangte Vorteil in Form des Wertes des Eigentums an der Wurst gebührt dem K. Ein Rechtsgrund ist nicht ersichtlich. Die §§ 946ff. BGB stellen keinen Rechtsgrund für den Eigentumserwerb dar. Das zeigt bereits die Existenz des § 951 BGB, der sonst stets leerlaufen würde.

13. Kann K von B Wertersatz verlangen?

Ja, in der Tat!

Da der Anspruch auf Naturalherausgabe wegen § 951 Abs. 1 S. 2 BGB nicht möglich ist, schuldet der Bereicherungsschuldner im Rahmen des § 951 BGB gem. § 818 Abs. 2 BGB den objektiven Verkehrswert des Ausgangsstoffes. B schuldet K Wertersatz i.H.v. €1.000. Nach h.M. erstreckt sich der Anspruch aus § 951 BGB nicht auf einen etwaigen Wertzuwachs infolge der Verarbeitung (wenn z.B. die Wurst €3.000 wert wäre). § 951 Abs. 1 BGB knüpft bereits dem Wortlaut nach an den „Rechtsverlust“ an. Ein Recht hat K aber nur an der Ausgangssache (=Bullen) verloren.

14. Kann B sich gegenüber K im Rahmen der Entreicherung auf die an D gezahlten €1.000 berufen (§ 818 Abs. 3 BGB)?

Nein!

§ 951 BGB ist ein sog. Rechtsfortwirkungsanspruch. Er setzt den vor gesetzlichem Eigentumserwerb bestehenden Herausgabeanspruch aus § 985 BGB fort. Daher müssen hinsichtlich des Anspruchs aus §§ 951, 812 BGB die gleichen Grundsätze gelten, wie hinsichtlich des Anspruchs aus § 985 BGB. Da B die Herausgabe der Bullen unter Berufung auf die Kaufpreiszahlung an D aber nicht hätte verweigern können, kann er diese Zahlung auch nicht im Rahmen der Entreicherung vortragen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DominickKantor

DominickKantor

16.2.2023, 17:46:38

Interessant wäre in diesem Fall die Behandlung einer Abhandlung, in der Ansprüche gegen den Dieb geprüft werden können. Macht dieser einen Gewinn mit dem Verkauf an den Fabrikanten, wäre die Erlösherausgabe nach § 816 Abs. 1 S. 1 und die Wirkung einer nachträglichen Genehmigung der Verfügung nach § 185 Abs. 2 gut zu erklären.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

17.2.2023, 10:23:41

Hallo Dominick, in die

examensrelevante Rechtsprechung

haben wir nur den Ausgangsfall aufgenommen. Da der Dieb häufig nicht mehr auffindbar ist, sind die Ansprüche gegen ihn in der Praxis regelmäßig wertlos. Die entsprechende Abwandlung mit Ansprüchen gegen den Dieb findest Du aber bereits jetzt in unserem systematischen Kurs zum Sachenrecht: https://applink.jurafuchs.de/Sdm9iwnluxb Beste Grüße, Lukas- für das Jurafuchs-Team

kaan00

kaan00

16.1.2024, 14:45:21

Kann man bei der Web Anwendung keine Links anklicken, oder liegt das an mir? =)

CR7

CR7

16.8.2024, 21:40:48

@[kaan00](224294) also bei mir funktioniert es :)

Nocebo

Nocebo

24.7.2024, 18:39:48

Ich denke es wäre didaktisch sinnvoll, hier noch etwas genauer zu der vorliegenden Ausnahme vom Vorrang der Leistungsbeziehung auszuführen :) Das wäre in der Klausurbearbeitung sicher etwas, worauf ein Schwerpunkt durch die Korrektoren gelegt werden würde. Ein Argument ist es zu sagen, dass der Dieb schon gar kein Eigentum verschaffen konnte und dsbzgl. deshalb gar keine Leistung vorliegt. Anders beim Besitz. Ein anderes ist, dass aus Wertungsgesichtspunkten eine Ausnahme vorliegt.


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