Strafrecht

Examensrelevante Rechtsprechung SR

Entscheidungen von 2019

Keine Verpflichtung zur Rettung entgegen des Patientenwillens

Keine Verpflichtung zur Rettung entgegen des Patientenwillens

13. Mai 2023

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: D bittet Arzt H nach Tabletten, um ihr Leben zu beendet, welche H ihr gibt.

Die kranke, aber voll urteilsfähige D bittet ihren Hausarzt H, sie bei ihrer Selbsttötung zu unterstützen. H gibt ihr eine tödliche Menge Tabletten, die D selbst einnimmt, woraufhin sie in einen komatösen Zustand verfällt. Anstatt eine Rettung zu veranlassen, die H irrig für noch möglich hält, lässt er sie sterben.

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Einordnung des Falls

Der BGH hat die Freisprüche von zwei Ärzten bestätigt, die Patienten bei der Beendigung ihres Lebens geholfen haben. Die Ärzte sein nicht verpflichtet, entgegen des Willens der Patienten ihnen das Leben zu retten, wenn diese eine bewusste und freiwillige Entscheidung zum Sterben getroffen haben. Der Wunsch der Patienten, ihr Leben zu beenden, solle respektiert werden. Obwohl die Beihilfe zum Suizid in Deutschland weiterhin illegal ist, stellt die Entscheidung des Gerichts eine Abkehr von seinem Urteil von 1984 dar, wonach Ärzte strafrechtlich haftbar gemacht werden konnten, wenn sie nicht versuchten, bewusstlose Patienten zu retten.

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer 2020
Examenstreffer Hamburg 2020
Examenstreffer Bayern 2022

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat H sich wegen „Tötung auf Verlangen" (§ 216 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht, indem er D die tödliche Menge Tabletten gab (1. Tatkomplex)?

Nein!

Fraglich ist, ob sich dieses Verhalten als täterschaftliche Fremdtötung darstellt. Entscheidend ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht hat. Begibt sich der Sterbewillige in die Hand eines Dritten und nimmt duldend von ihm den Tod entgegen, dann hat dieser die Tatherrschaft über das Geschehen. Nimmt dagegen der Sterbewillige selbst die todbringende Handlung vor und behält er dabei die freie Entscheidung über sein Schicksal, tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. D hat die Tabletten selbst eingenommen und übte daher, solange sie bei Bewusstsein war, allein die Herrschaft über das zu ihrem Tod führende Geschehen aus.
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2. Hat H sich jedoch wegen „Totschlags in mittelbarer Täterschaft" (§§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 1 Var. 2 StGB) mit D als Werkzeug gegen sich selbst strafbar gemacht (1. Tatkomplex)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Benutzung des Suizidenten als Werkzeug gegen sich selbst kann gegeben sein, wenn dieser seinen Suizidentschluss nicht freiverantwortlich gebildet hat. Der BGH tendiert zur Einwilligungslösung und hält einen Suizidentschluss für freiverantwortlich, wenn das Opfer die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit für seine Entscheidung besitzt und Mangelfreiheit des Suizidwillens sowie innere Festigkeit des Entschlusses gegeben sind. Zum Ausschluss der Freiverantwortlichkeit müssen konkrete Umstände festgestellt werden. Derartiges ist aber nicht ersichtlich. D war voll urteilsfähig. Sie hat ihren Entschluss freiverantwortlich gebildet und umgesetzt.

3. Hat H sich jedoch wegen „Tötung auf Verlangen durch Unterlassen" (§§ 216 Abs. 1, 13 StGB) strafbar gemacht, indem er keine Rettung veranlasste (2. Tatkomplex)?

Nein, das trifft nicht zu!

Nachdem D in einen komatösen Zustand verfallen war, hat H zwar Rettungsmaßnahmen unterlassen. Allerdings hätte D - nachdem sie die Tabletten eingenommen hatte und in einen komatösen Zustand verfallen war - nicht mehr gerettet werden können. Da die Rettungshandlung des H also hinzugedacht werden kann, ohne dass der Tod der D entfiele, fehlt es an der sog. hypothetischen Kausalität. Es kommt aber versuchte Tötung auf Verlangen durch Unterlassen in Betracht (§§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB).

4. Müsste H einen „Tatentschluss" zur „Tötung auf Verlangen durch Unterlassen" (§§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB) besessen haben?

Ja!

H hatte den Vorsatz, eine ihm mögliche Rettung zu unterlassen. Zwar stellte H sich keine Umstände vor, aus denen sich eine Garanstellung aus Ingerenz ableiten ließe, denn D hat im Anschluss an die Übergabe der Tabletten diese freiverantwortlich selbst eingenommen, sodass das Risiko für die Verwirklichung der durch das Vorverhalten des H gegebenenfalls erhöhten Gefahr allein in ihrem Verantwortungsbereich lag. Allerdings hatte H die D als Hausarzt betreut und befand sich aufgrund der Übernahme ihrer ärztlichen Behandlung und des damit einhergehenden Vertrauensverhältnisses zunächst in einer besonderen Schutzposition für deren Leib und Leben.

5. Endet auf Grundlage des sog. Wittig-Urteils des BGH aus dem Jahr 1984 die Garantenstellung des H, als D ihren Sterbewunsch äußerte?

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach der früheren Rspr. des BGH trafen den Garanten keine Handlungspflichten, solange der Suizident noch Herr des Geschehens war. Der Garant sollte jedoch mit dem Eintritt der Bewusstlosigkeit die Tatherrschaft erlangen, mit der Folge, dass nun eine Handlungspflicht (trotz des freiverantwortlichen Suizids) bestand. Eine Ausnahme galt nur, wenn eine schwere und irreversible Schädigung des Opfers eingetreten war, als der Garant hinzutrat. Die Lit. moniert an dieser Rspr., dass sie wertungswidersprüchlich sei, da dann die aktive Unterstützung einer Selbsttötung straflos wäre, das Unterlassen des Einschreitens gegen die Folgen der Suizidhandlung jedoch strafbar.

6. Endete nach der neuen Rspr. des BGH die Garantenstellung des H, als D ihren Sterbewunsch äußerte?

Ja, in der Tat!

Nach dem GG sei jeder Mensch frei, über den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. Die Rspr. leitet aus dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht eine Freiheit zur Krankheit ab, die es einschließt, Heilbehandlungen abzulehnen. Jeder einwilligungsfähige Kranke dürfe danach eine lebensrettende Behandlung untersagen. Die Würde des Menschen gebiete es, sein in einwilligungsfähigem Zustand ausgeübtes Selbstbestimmungsrecht auch dann zu respektieren, wenn er zu eigenverantwortlichem Entscheiden nicht mehr in der Lage ist. Danach war H kein Garant mehr für das Leben der D und nahm dies auch nicht irrig an.

7. Hat H sich aber wegen „Aussetzung mit Todesfolge" (§ 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB) und „unterlassener Hilfeleistung" (§ 323c Abs. 1 StGB) strafbar gemacht?

Nein!

Eine Aussetzung mit Todesfolge durch Imstichlassen in hilfloser Lage (§ 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB) kommt mangels fortbestehender Obhutspflicht nicht in Betracht. Eine unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) ist ebenfalls abzulehnen. Die Situation der Selbsttötung stellt nach dem BGH zwar einen Unglücksfall dar, der für jedermann in den Grenzen des Erforderlichen und Zumutbaren eine auf die Vornahme von Rettungshandlungen gerichtete Hilfspflicht begründet. Eine dem geäußerten Willen der D zuwiderlaufende Hilfeleistung war dem H aber nicht zumutbar. Mithin ist H insgesamt straflos.
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Prüfungsschema

Wie prüfst Du die Strafbarkeit wegen Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB)?

  1. Tatbestandsmäßigkeit
    1. Objektiver Tatbestand
      1. Merkmale des § 212 Abs.1 StGB: Tötung eines anderen Menschen
      2. Ausdrückliches und ernstliches Verlangen des Getöteten,
      3. durch das der Täter zur Tötung bestimmt wird.
    2. Subjektiver Tatbestand
      1. Vorsatz
      2. Ausnahmefall § 16 Abs. 2 StGB: § 216 StGB ist auch dann einschlägig, wenn der Täter die privilegierenden Merkmale irrig annimmt.
  2. Rechtswidrigkeit
  3. Schuld
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
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