Entwicklung des Gewaltbegriffs

30. April 2025

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A will geplante Steuererhöhungen verhindern. Er schlägt Politikerin P kurz vor der Bundestagsabstimmung ins Gesicht, damit sie dem Gesetz nicht zustimmen kann. Vor der Sitzung des Bundesrats setzt A sich auf die Straße, damit die Bundesratsmitglieder nicht zur Sitzung gelangen.

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Einordnung des Falls

Entwicklung des Gewaltbegriffs

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A könnte sich wegen Nötigung strafbar gemacht haben, indem er P ins Gesicht schlug, woraufhin sie nicht an der Abstimmung im Bundestag teilnehmen konnte (§ 240 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Objektive Voraussetzungen für eine Strafbarkeit nach § 240 Abs. 1 StGB sind: (1) Nötigungsmittel: Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel (2) Nötigungserfolg: Handeln, Dulden oder Unterlassen (3) Nötigungsspezifischer Zusammenhang zwischen (1) und (2) A müsste zudem vorsätzlich gehandelt haben. Die Tat müsste auch rechtswidrig und insbesondere verwerflich (§ 240 Abs. 2 StGB) gewesen sein. Zudem müsste A schuldhaft gehandelt haben.
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2. Der Schlag in Ps Gesicht könnte Gewalt sein (§ 240 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Der Gewaltbegriff ist umstritten. Ausgangspunkt aller Definitionsversuche ist der klassische Gewaltbegriff: Er setzt voraus, dass der Täter (1) durch körperliche Kraftentfaltung (2) Zwang ausübt, indem er auf den Körper eines anderen einwirkt, (3) um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden.Der klassische Gewaltbegriff wurde ursprünglich vom Reichsgericht entwickelt. Im Laufe der Jahre wurde er durch die Rspr. an verschiedenen Stellen aufgeweicht. Dadurch wurden Handlungen, die nicht unter den klassischen Gewaltbegriff fallen, als Gewalt angesehen. Dazu gleich mehr.

3. Hat A im konkreten Fall Gewalt gegen P angewandt?

Ja!

A hat P ins Gesicht geschlagen. Er hat so körperliche Kraft entfaltet, die sich als körperlicher Zwang auf P ausgeübt hat. Das tat er, um den Widerstand der P zu überwinden.Das Merkmal, das die Kraft ausgeübt wird, um einen erwarteten oder geleisteten Widerstand zu überwinden, darf nicht zu eng ausgelegt werden. Es reicht, dass die Kraftentfaltung bestimmt und geeignet ist, die Freiheit der Willenentschließung und -betätigung eines anderen aufzuheben oder zu beeinträchtigen.In eindeutigen Fällen - wie Schlägen, Tritten, Würgen etc. - musst du den Gewaltbegriff nicht problematisieren. Das wäre eine verfehlte Schwerpunktsetzung.Auch im Übrigen sind die Voraussetzungen des § 240 StGB erfüllt. Da es uns hier um einen vertieften Blick auf den Gewaltbegriff geht, prüfen wir die restlichen Voraussetzungen aber nicht genauer.

4. A könnte sich zudem wegen Nötigung strafbar gemacht haben, indem er die Straße blockierte, weswegen die Bundesratsmitglieder in den Autos nicht weiterfahren konnten (§ 240 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Objektive Voraussetzungen für eine Strafbarkeit nach § 240 Abs. 1 StGB sind: (1) Nötigungsmittel: Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel (2) Nötigungserfolg: Handeln, Dulden oder Unterlassen (3) Nötigungsspezifischer Zusammenhang zwischen (1) und (2) A müsste zudem vorsätzlich gehandelt haben. Die Tat müsste auch rechtswidrig und insbesondere verwerflich (§ 240 Abs. 2 StGB) gewesen sein. Zudem müsste A schuldhaft gehandelt haben.

5. Das Blockieren der Straße könnte Gewalt sein. Hat die Rspr. den (klassischen) Gewaltbegriff im Laufe der Zeit immer weiter verengt?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Gewaltbegriff ist umstritten. Ausgangspunkt aller Definitionsversuche ist der klassische Gewaltbegriff: Er setzt voraus, dass der Täter (1) durch körperliche Kraftentfaltung (2) Zwang ausübt, indem er auf den Körper eines anderen einwirkt, (3) um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden.Dieser Gewaltbegriff wurde im Laufe der Jahre aufgeweicht: zum einen wurden die Anforderungen an die körperliche Kraftentfaltung herabgesetzt. Zum anderen gab es Versuche, auch das Erfordernis der körperlichen Zwangswirkung aufzuweichen.

6. A hat sich auf die Straße gesetzt. Er hat nicht unmittelbar auf den Körper der Opfer eingewirkt. Ist diese geringe körperliche Tätigkeit nach der heutigen Rspr. von vornherein ungeeignet, um eine „körperliche Kraftentfaltung” bejahen zu können?

Nein!

Die Rspr. verlangt in Orientierung am klassischen Gewaltbegriff, dass der Täter körperliche Kraft entfalten muss. Das kann aber bereits eine geringe Kraftentfaltung sein - im Ergebnis genügt die Ausübung einer körperlichen Tätigkeit. Begründet wird das damit, dass auch geringe körperliche Tätigkeiten zu starken körperlichen Zwangswirkungen führen können. Es solle deshalb etwa keinen Unterscheid machen, ob eine Explosion durch erhebliche körperliche Arbeit oder per Knopfdruck ausgelöst wird. A ist auf die Straße gegangen und hat sich dort hingesetzt. Er hat damit eine körperliche Tätigkeit ausgeübt. Eine körperliche Kraftentfaltung des A liegt vor.

7. Der erste Fahrer musste vor A halten. Rein physisch hätte er A zwar überfahren und dann seine Fahrt fortsetzen können. Es gibt aber ein psychisches Hemmnis, einen Menschen zu überfahren. Könnte das eine psychische Zwangswirkung bei dem Autofahrer ausgelöst haben?

Genau, so ist das!

Dem Fahrer im ersten Auto wäre es rein theoretisch möglich gewesen, A zu überfahren. Er unterlag aber einem psychischen Zwang, einen Menschen nicht überfahren zu wollen. Nach dem sog. vergeistigten Gewaltbegriff genügt das, um eine Zwangswirkung und mithin „Gewalt” zu bejahen.Der vergeistigte Gewaltbegriff wurde von der Rspr. seit Ende der 1960er Jahre vertreten.

8. Der vergeistigte Gewaltbegriffs verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Darfst Du ihn in Deiner Falllösung anwenden?

Nein, das trifft nicht zu!

Gemäß Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Diese Regelung enthält auch eine Wortlautgrenze: Die Subsumtion einer Handlung unter eine Norm ist unzulässig, wenn sie nicht mehr vom Wortlaut gedeckt ist. Das BVerfG hat 1995 in einer Entscheidung deutlich gemacht, dass der vergeistigte Gewaltbegriff gegen die Wortlautgrenze verstößt! Er ist mithin verfassungswidrig und wird heute nicht mehr vertreten.Wird nur ein Auto durch eine Sitzblockade blockiert, und wird der Autofahrer nur durch psychischen Zwang gehindert, weiterzufahren, liegt mithin keine Gewalt vor - denn es fehlt an einer körperlichen Zwangswirkung auf das Opfer. Eine Nötigung scheidet somit aus.

9. Auch die Autofahrer hinter dem ersten Auto standen im Stau und konnten nicht weiterfahren. Sie wurden durch das erste Auto - das direkt vor A hielt - blockiert. Könnte darin eine körperliche Zwangswirkung liegen?

Ja!

Für die Autofahrer hinter dem ersten Auto bestand eine physische Blockade: vor ihnen stand das erste Auto, weswegen sie nicht weiterfahren konnten. A benutzt den ersten Autofahrer als Werkzeug - und übt so als mittelbarer Täter körperlich wirkenden Zwang auf die Autofahrer in der zweiten und den nachfolgenden Reihen aus. Dadurch liegt nach Ansicht des BGH Gewalt vor.Das BVerfG hat diese sog. Zweite-Reihe-Rspr. des BGH in Entscheidungen aus den Jahren 2001 und 2011 gebilligt (vgl. BVerfG NJW 2011, 3020).
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