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Staatsorganisationsrecht

Einstufung der AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall durch das BfV (OVG NRW, Beschl. v. 13.05.2024 – 5 A 1216/22, 5 A 1217/22 und 5 A 1218/22)

Einstufung der AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall durch das BfV (OVG NRW, Beschl. v. 13.05.2024 – 5 A 1216/22, 5 A 1217/22 und 5 A 1218/22)

27. Mai 2025

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die AfD-Gruppierung „Der Flügel“ vertritt ein völkisches Volksverständnis, diffamiert Migranten und Muslime, lehnt das parlamentarische System ab und relativiert den Nationalsozialismus. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stuft „Der Flügel“ als rechtsextremen Verdachtsfall ein und beobachtet die Gruppierung. Die Erkenntnisse stammen aus öffentlichen Äußerungen von Funktionären, Programmen, Veranstaltungen sowie teilweise aus dem Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel.

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Einordnung des Falls

Einstufung der AfD als rechtsextremistischer Verdachtsfall durch das BfV (OVG NRW, Beschl. v. 13.05.2024 – 5 A 1216/22, 5 A 1217/22 und 5 A 1218/22)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 16 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die AfD möchte verwaltungsgerichtlich feststellen lassen, dass das BfV nicht zu den Maßnahmen ermächtigt war. Ist die allgemeine Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO) die statthafte Klageart?

Ja!

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Begehren des Klägers (vgl. § 88 VwGO). Die allgemeine Feststellungsklage ist statthaft, wenn das Klagebegehren auf die Feststellung des Bestehens (positive Feststellungsklage) oder Nichtbestehens (negative Feststellungsklage) eines Rechtsverhältnisses gerichtet ist (§ 43 Abs. 1 Var. 1, 2 VwGO) oder die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts festgestellt werden soll (Nichtigkeitsfeststellungsklage, § 43 Abs. 1 Var. 3 VwGO). Rechtsverhältnis i.S.d. § 43 Abs. 1 VwGO meint die rechtliche Beziehung, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis mehrerer Personen oder einer Person zu einer Sache ergibt. Streitig ist hier die Befugnis des BfV zur Einstufung und Beobachtung der AfD als rechtsextremistischen Verdachtsfall, d.h. ein Rechtsverhältnis zwischen dem BfV und der AfD. Die AfD will feststellen lassen, dass dieses nicht besteht. Statthaft ist somit die allgemeine Feststellungsklage in Form der negativen Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO). Dass hier die AfD als Gesamtpartei klagt, liegt daran, dass „Der Flügel“ als innerparteiliche Strömung innerhalb der AfD 2020 formell aufgelöst wurde. Somit ist diese kein eigenständiges Beobachtungsobjekt mehr. Vielmehr wird nun die AfD als Gesamtpartei als rechtsextremistischer Verdachtsfall durch das BfV beobachtet und wendet sich dagegen.
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2. Die AfD sieht sich in ihrem Recht aus Art. 21 Abs. 1 GG verletzt. Ist die AfD klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO analog)?

Genau, so ist das!

Der Kläger ist im Rahmen einer allgemeinen Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO) klagebefugt analog § 42 Abs. 2 VwGO, wenn er die Möglichkeit der Verletzung in eigenen Rechten durch das behauptete oder bestrittene Rechtsverhältnis geltend macht. Die Möglichkeit der Rechtsverletzung besteht, wenn diese nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Die AfD macht geltend, die Maßnahmen des BfV verletzen sie in ihrer Parteifreiheit aus Art. 21 Abs. 1 GG. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass eine Verletzung der AfD in Art. 21 Abs. 1 GG besteht. Folglich ist die Rechtsverletzung möglich und die AfD ist klagebefugt analog § 42 Abs. 2 VwGO. Nach einer Ansicht bedarf es im Rahmen der allgemeinen Feststellungsklage neben dem Feststellungsinteresse gemäß § 43 Abs. 1 VwGO nicht zusätzlich der Klagebefugnis. Wegen des Erfordernisses eines Feststellungsinteresses bestünde gerade keine planwidrige Regelungslücke, die eine analoge Anwendung von § 42 Abs. 2 VwGO rechtfertigen würde. In der Klausur kannst Du den Streit kurz darstellen und (in der Regel) feststellen, dass die Klagebefugnis jedenfalls gegeben ist.

3. Hat die AfD ein berechtigtes Interesse i.S.d. § 43 Abs. 1 VwGO (sog. Feststellungsinteresse) an der Feststellung, dass die Einstufung durch das BfV rechtswidrig war?

Ja, in der Tat!

Ein berechtigtes Interesse i.S.d. § 43 Abs. 1 VwGO (sog. Feststellungsinteresse) liegt vor bei jedem schutzwürdigen Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. Die Einstufung, Beobachtung und Bekanntgabe des „Flügel“ als rechtsextremistischen Verdachtsfall haben Auswirkung auf die von Art. 21 Abs. 1 GG geschützte Betätigung der AfD als politische Partei und begründen daher ein beachtliches Feststellungsinteresse in Form eines Rehabilitationsinteresses (RdNr. 73).

4. Richtet sich die Beteiligungsfähigkeit der AfD, deren Partei als Verein organisiert ist, nach § 61 Nr. 2 VwGO?

Nein!

Die Beteiligungsfähigkeit ist die Fähigkeit, am Verwaltungsprozess beteiligt zu sein. Die beteiligungsfähigen Personen(gruppen) sind in § 61 VwGO aufgelistet. Gemäß § 61 Nr. 2 VwGO sind unter anderem rechtsfähige Vereinigungen beteiligungsfähig. Vereinigungen in diesem Sinne sind alle Personenmehrheiten des öffentlichen oder privaten Rechts, die weder juristischen Personen noch diesen gleichgestellt sind. Die AfD ist eine als Verein organisierte Partei und somit eine juristische Person des Privatrechts. Sie ist daher keine Vereinigung i.S.d. § 61 Nr. 2 VwGO. Die AfD ist vielmehr gemäß § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO (als juristische Person) beteiligungsfähig. Auch ist die AfD, vertreten durch den Vorstand als gesetzlichen Vertreter, prozessfähig gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO i.V.m. § 26 Abs. 1 S. 2 BGB.

5. Die negative Feststellungsklage ist begründet, soweit das behauptete Rechtsverhältnis nicht besteht (§ 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO).

Genau, so ist das!

Die allgemeine Feststellungsklage in Form der negativen Feststellungsklage ist begründet, soweit das behauptete Rechtsverhältnis nicht besteht (§ 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO). In der Sache prüfst Du hier, ob die Befugnis des BfV bestand, die AfD als extremistischen Verdachtsfall einzustufen und zu beobachten, die Maßnahme also rechtmäßig war. Das erfolgt nach dem bekannten Dreischritt(1) Ermächtigungsgrundlage(2) Formelle Rechtmäßigkeit(3) Materielle Rechtmäßigkeit Die Ermächtigungsgrundlage für die Einstufung und Beobachtung des „Flügel“ ist § 8 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 S. 5 BVerfSchG.

6. Rechtsgrundlage ist § 8 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG. Berechtigt diese das BfV auch dazu, die AfD zu verbieten?

Nein, das trifft nicht zu!

Die AfD als Klägerin rügte, die nachrichtendienstliche Beobachtung ihrer Partei sei mit Art. 21 Abs. 1 GG (sog. Parteienprivileg) unvereinbar. Dieses Vorbringen kannst Du unter Frage der Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage diskutieren. Das Parteienprivileg aus Art. 21 Abs. 1 GG sieht unter anderem vor, dass Parteien nur durch das BVerfG verboten werden können. Ein Einschreiten der Verwaltung gegen die Existenz einer Partei ist daher ausgeschlossen. Dies betrifft aber nicht sonstige administrative Maßnahmen. Insbesondere kann die nachrichtendienstliche Beobachtung gerade erforderlich sein, um ein Parteiverbotsverfahren vorzubereiten und verfassungsfeindlichen Bestrebungen präventiv zu begegnen (RdNr. 91ff.). Zudem werden die widerstreitenden Prinzipien der Parteienfreiheit und der streitbaren Demokratie in § 8 Abs. 5, § 9 BVerfSchG in einen angemessenen Ausgleich gebracht.

7. Rechtsgrundlage ist § 8 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG, wonach das BfV zur Informationsbeschaffung über verfassungsfeindliche Bestrebungen ermächtigt wird. Ermächtigt dies auch zur Beobachtung politischer Parteien?

Ja!

Keine Sorge, wenn Du es in der Klausur mit einer unbekannten Norm zu tun hast. Lies in Ruhe die Ermächtigungsgrundlage sowie die Normen drumherum. Gemäß § 8 Abs. 1 BVerfSchG darf das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Informationen verarbeiten. Zu seinen Aufgaben gehört nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG unter anderem die Sammlung und Auswertung von Informationen über Bestrebungen, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sind. Dies sind gemäß § 4 Abs. 1 lit. c) BVerfSchG solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen, die auf die Beseitigung bestimmter Verfassungsgrundsätze gerichtet sind. OVG: Die genannten Vorschriften des BVerfSchG ermächtigen auch zur Beobachtung politischer Parteien. Die Möglichkeit nachrichtendienstlicher Beobachtung verfassungsfeindlicher Bestrebungen ist Ausfluss des Prinzips der streitbaren bzw. wehrhaften Demokratie, das insbesondere in Art. 9 Abs. 2 GG, Art. 18 GG und Art. 21 Abs. 2, 3 GG verfassungsrechtlich verankert ist und gewährleisten soll, dass Verfassungsfeinde nicht unter Berufung auf die Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, und unter ihrem Schutz die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören („Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“). Derartige Bestrebungen können gleichermaßen von politischen Parteien ausgehen (RdNr. 87).

8. Die Maßnahmen müssen formell rechtmäßig gewesen sein. Eine vorherige Anhörung sieht das BVerfSchG nicht vor. Wäre eine vorherige Anhörung der AfD aber vor dem Hintergrund von Art. 21 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 4 GG zwingend geboten?

Nein, das ist nicht der Fall!

Mangels ausdrücklich vorgesehenem Anhörungsverfahren wäre eine solche nur erforderlich, wenn sie sich aus anderen Rechtsnormen herleiten ließe. OVG: Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, dass auf eine vorherige Anhörung der Betroffenen verzichtet wurde. Den Nachrichtendiensten kommt die Aufgabe zu, Aufklärung bereits im Vorfeld von Gefährdungslagen zu betreiben. Der Grundsatz der Offenheit der Datenerhebung gilt für sie nicht. Im Gegenzug unterliegt die Datenverwendung strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen. Dem Informationsbedürfnis der Betroffenen und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes werde durch den Auskunftsanspruch des § 15 BVerfSchG hinreichend Rechnung getragen (RdNr. 124ff.). Solche „Sonderfragen“ sprichst Du nur an, wenn der Sachverhalt offensichtlich darauf ausgelegt ist. Wenn sich z.B. der Kläger beschwert, dass er sich vorher nicht äußern durfte.

9. Die Maßnahmen müssten materiell rechtmäßig sein. Dazu muss der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage (§ 8 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG) erfüllt sein. Handelt es sich bei dem „Flügel“ um eine Einzelperson?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage (§ 8 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG) erfordert, dass Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen. Das setzt gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) BVerfSchG voraus, dass(1) ein Personenzusammenschluss(2) darauf ausgerichtet ist, bestimmte Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Ein Personenzusammenschluss i.S.d. § 4 Abs. 1 BVerfSchG ist in Abgrenzung zur Einzelperson jede Personenmehrheit unabhängig von ihrer Rechtsform oder Organisationsstruktur, die einen gemeinsamen Zweck verfolgt (RdNr. 136). Im „Flügel“ hatten sich Mitglieder der AfD zusammengeschlossen, die als gemeinsamen Zweck verfolgten, auf die politische Ausrichtung und Arbeit der Gesamtpartei Einfluss zu nehmen. Zwar fehlt es mangels formeller Mitgliedschaft an einem klar abgrenzbaren Mitgliederbestand, jedoch lag eine verfestigte Organisationsstruktur vor, sodass es sich um einen Personenzusammenschluss i.S.d. § 4 Abs. 1 BVerfSchG handelt (RdNr. 136-140).

10. Weiter setzt § 8 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG voraus, dass Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verfolgt werden. Reichen dafür bloße Vermutungen?

Nein!

Erforderlich sind gemäß § 3 Abs. 1 BVerfSchG Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, d.h. politisch bestimmte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen, die darauf ausgerichtet sind, bestimmte Verfassungsgrundsätze zu beseitigen (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 BVerfSchG). Gemäß § 4 Abs. 1 S. 5 BVerfSchG ist Voraussetzung das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte. „Tatsächliche Anhaltspunkte“ i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 5 BVerfSchG setzen nicht voraus, dass verfassungsfeindliche Bestrebungen tatsächlich bestehen und eine Gefahrenlage i.S.d. Polizeirechts besteht. Andererseits reichen bloße Vermutungen, Spekulationen oder Hypothesen nicht aus. Die Anhaltspunkte müssen vielmehr in Form konkreter und hinreichend verdichteter Umstände als Tatsachenbasis geeignet sein, den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen zu begründen. Die Behörde muss eine Prognoseentscheidung treffen (RdNr. 144).

11. „Flügel“-Mitglieder äußerten unter anderem, es bestünde eine Gefahr für das „ethnisch-kulturelle deutsche Volk“ und die Einwanderung bedeute einen „Volkstod“. Ist dies mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die freiheitlich-demokratische Grundordnung umfasst eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf Grundlage des Demokratieprinzips und Menschenrechte darstellt. Grundlegende Prinzipien sind mindestens die Menschenwürde, das Demokratie- sowie das Rechtsstaatsprinzip. OVG: Es lagen konkrete und hinreichend verdichtete Anhaltspunkte dafür vor, dass nach dem politischen Konzept des „Flügel“ deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund und Personen islamischen Glaubens die Anerkennung als gleichberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft versagt werden sollte (RdNr. 175). Diesen Personengruppen wird nur ein rechtlich abgewerteter Status zuerkannt. Dies stellt eine nach Art. 3 Abs. 3 GG unzulässige Diskriminierung aufgrund der Abstammung dar, die mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar ist (RdNr. 179). Damit verstößt das Programm des „Flügel“ gegen die freiheitliche, demokratische Grundordnung. Zwar finden sich in den Veröffentlichungen des „Flügel“ und Äußerungen der Mitglieder keine ausdrücklichen Forderungen nach einer Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund. Ausreichend sind aber abwertende Äußerungen, die die gewollte Ungleichbehandlung deutlich machen, etwa durch die Bezeichnung der Migration als „Volkstod“ oder „kulturfremde Masseninvasion“ (RdNr. 190). Unerheblich ist, dass der „Flügel“ sich offiziell zu der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekannt hat; entscheidend sind vielmehr die wirklichen Ziele der Gruppierung (RdNr. 150).

12. Das Verwaltungsgericht kann die Ermessensentscheidung der Behörde vollumfänglich nachprüfen.

Nein, das trifft nicht zu!

Hinsichtlich der Mittelwahl räumt § 8 Abs. 1 S. 1 BVerfSchG ein (Auswahl-)Ermessen ein. Das Verwaltungsgericht kann die behördliche Ermessensentscheidung nicht vollumfänglich nachprüfen. Vielmehr prüft es nur, ob die Ermessensgrenzen gewahrt wurden, ob also Ermessensfehler vorliegen (§ 114 S. 1 VwGO): Ermessensnichtgebrauch, -fehlgebrauch oder -überschreitung (dort insbesondere Verhältnismäßigkeit der Maßnahme). Die AfD rügte im Originalfall einen Ermessensfehlgebrauch sowie die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme, d.h. eine Ermessensüberschreitung (RdNr. 33ff., 232-239, 240-252).

13. Die Beobachtung des „Flügel“ unter teilweisem Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel müsste verhältnismäßig gewesen sein. Verfolgte das BfV mit der Beobachtung einen legitimen Zweck?

Ja!

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) erfordert, dass staatliches Handeln verhältnismäßig, d.h. geeignet und erforderlich sein muss, einen legitimen Zweck in angemessener Weise zu fördern. Ein legitimer Zweck ist ein Zweck, der auf das Gemeinwohl gerichtet ist. Die Beobachtung des „Flügel“ bezweckte, die bestehenden tatsächlichen Anhaltspunkte für das Vorliegen verfassungsfeindlicher Bestrebungen weiter aufzuklären (RdNr. 243). Damit soll die freiheitlich-demokratische Grundordnung gewahrt werden. Ein legitimer Zweck ist gegeben. Den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit prüfst Du in der Klausur wie folgt:(1) Legitimer Zweck,(2) Geeignetheit,(3) Erforderlichkeit,(4) Angemessenheit.

14. Die Beobachtung des „Flügel“ war dazu auch geeignet. Statt des teilweisen Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel wäre eine Beobachtung allein mit Mitteln der offenen Informationsbeschaffung möglich gewesen. Fehlt es daher an der Erforderlichkeit?

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine staatliche Maßnahme ist erforderlich im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, wenn sie unter mehreren gleich effektiven Mitteln zur Erreichung des legitimen Zwecks das Mildeste darstellt. Als alternatives Mittel zu der nachrichtendienstlichen Beobachtung, etwa dem Einsatz von Vertrauensleuten, geheimen Informanten sowie verdeckten Ermittlungen, käme der Einsatz allein von Mitteln der offenen Informationsbeschaffung in Betracht. Dadurch würde die Freiheitssphäre der Partei weniger beeinträchtigt, sodass dieses Mittel milder wäre. Es ist jedoch nicht gleichermaßen geeignet, Inhalt und Umfang der vom „Flügel“ verfolgten verfassungsfeindlichen Bestrebungen aufzuklären: Es lagen konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der „Flügel“ seine wahren politischen Zielsetzungen nicht vollständig offenlegte, sodass der generelle Verzicht auf den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel nicht geboten war. Vielmehr war er auch erforderlich.

15. Die Maßnahme war erforderlich. Ist die Prüfung der Verhältnismäßigkeit damit vorbei?

Nein, das trifft nicht zu!

Eine staatliche Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie geeignet und erforderlich ist, einem legitimen Zweck in angemessener Weise zu dienen. Zuletzt musst Du somit noch die Angemessenheit prüfen. Eine staatliche Maßnahme ist angemessen, wenn das mit ihr verfolgte Ziel in seiner Wertigkeit nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffs steht. Hier steht die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Parteifreiheit der AfD aus Art. 21 Abs. 1 GG gegenüber. Beide Güter sind bei abstrakter Betrachtung von erheblicher Bedeutung. Im konkreten Fall der Beobachtung liegt ein gewichtiger, intensiver Eingriff in die Parteifreiheit der AfD vor. Andererseits bestehen deutliche und gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (RdNr. 248f.). Die Eingriffsintensität steht nicht außer Verhältnis zum Zweck. Die Maßnahme ist angemessen. Auch liegt – anders als von der AfD vorgetragen – keine unzulässige „Dauerbeobachtung“ vor, die eine Unangemessenheit begründen würde (RdNr. 250ff.): Zum maßgeblichen Zeitpunkt (März 2020) wurde die AfD erst seit Kurzem beobachtet. In diesem Zeitraum konnte sie den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen nicht entkräften, was die Weiterbeobachtung rechtfertigt. Oft liegt der Schwerpunkt der Prüfung i.R.d. Angemessenheit. Hier musst Du sämtliche betroffene Rechte und Interessen gegeneinander abwägen. Arbeite hier sauber mit den Sachverhaltsangaben.

16. Somit war die Beobachtung insgesamt verhältnismäßig und das BfV zu den Maßnahmen ermächtigt. Ist die negative Feststellungsklage der AfD begründet?

Nein!

Die allgemeine Feststellungsklage in Form der negativen Feststellungsklage ist begründet, soweit das behauptete Rechtsverhältnis nicht besteht (§ 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO); hier also, wenn das BfV nicht zu den Maßnahmen ermächtigt war. Die Maßnahmen der Einstufung und Beobachtung der AfD als rechtsextremistischen Verdachtsfall waren rechtmäßig. Das BfV war somit zu diesen Maßnahmen befugt. Das behauptete Rechtsverhältnis zwischen ihm und der AfD bestand. Die negative Feststellungsklage ist folglich unbegründet und hat keinen Erfolg. Da das OVG NRW die Revision zum BVerwG nicht zugelassen hat, strengte die AfD eine Nichtzulassungsbeschwerde an. Das BVerwG wird nun über die Nichtzulassung der Revision entscheiden (§ 133 Abs. 5 VwGO). Am 02.05.2025 gab das BfV die Einstufung der AfD als Gesamtpartei als gesichert rechtsextremistisch bekannt. Der Verdacht, dass die Partei gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolge, habe sich inzwischen bestätigt und in wesentlichen Teilen zur Gewissheit verdichtet. Gegen diese Einstufung wird die AfD nun vor dem VG Köln vorgehen.
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Eine Besprechung von:
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