Strafrecht

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Versuchte Nötigung bei Antippen des Gaspedals (BGH Urteil vom 10.11.2022 - 4 StR 91/22)

Versuchte Nötigung bei Antippen des Gaspedals (BGH Urteil vom 10.11.2022 - 4 StR 91/22)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A und F streiten sich. Als A mit dem Auto wegfahren will, versperrt F den Weg. A tippt drei mal kurz das Gaspedal an, bremst aber jedes mal sofort, da F nicht ausweicht. Als F sich kurz wegdreht, fährt A los und vertraut darauf, dass F nichts passieren werde. Tatsächlich stürzt F und prellt sich den Fuß.

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Einordnung des Falls

Versuchte Nötigung bei Antippen des Gaspedals (BGH Urteil vom 10.11.2022 - 4 StR 91/22)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 13 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. F stürzte, weil A mit dem Auto losfuhr. Könnte sich A deswegen wegen Körperverletzung strafbar gemacht haben (§ 223 Abs. 1 StGB)?

Genau, so ist das!

Objektiv müsste A die F körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt haben. Er müsste vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben.
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2. A hat den objektiven Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB erfüllt.

Ja, in der Tat!

Eine körperliche Misshandlung ist jede üble, unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt wird. Mit Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines pathologischen Zustands gemeint.A fuhr mit dem Auto an, weswegen F stürzte und sich den Fuß prellte. Darin liegt eine üble, unangemessene Behandlung, die die körperliche Unversehrtheit von F beeinträchtigte. Mit der Fußprellung wurde auch ein pathologischer Zustand bei F hervorgerufen. A hat F sowohl körperlich misshandelt als auch an der Gesundheit geschädigt.

3. A müsste auch vorsätzlich gehandelt haben.

Ja!

Ein Täter handelt mit Vorsatz, wenn er mit dem Willen zur Verwirklichung des Tatbestands in Kenntnis aller objektiven Tatumstände handelt. Mit (Eventual-)Vorsatz handelt unter anderem, wer den Erfolg billigend in Kauf nimmt. Im Gegensatz dazu liegt lediglich bewusste Fahrlässigkeit vor, wenn der Täter mit dem ihm als möglich erkannten Erfolg nicht einverstanden ist und ernsthaft darauf vertraut, dass er nicht eintritt.Die Abgrenzung zwischen Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit wird häufig mit der sog. „Frank’schen Formel“ vorgenommen: Erkennt der Täter einen Erfolg als möglich und denkt sich „Na wenn schon“, so handelt er vorsätzlich, denkt er sich „Es wird schon gutgehen“, liegt bewusste Fahrlässigkeit vor.

4. A vertraute darauf, dass F nichts passieren würde. Handelte A vorsätzlich, als mit dem Auto auf F zufuhr?

Nein, das ist nicht der Fall!

A vertraute drauf, dass F nichts passieren werde, wenn er jetzt anfahre. Er hat nicht billigend in Kauf genommen, dass F sich verletzen werde, sondern vertraute ernsthaft darauf, dass F unversehrt bliebe. Somit handelte er bewusst fahrlässig und ohne Vorsatz. A hat sich damit nicht nach § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Stehen im Klausursachverhalt die Gedanken aus der Frank’schen Formel oder dass der Täter einen Erfolg „billigend in Kauf nahm“ oder „ernsthaft vertraute“, er werde ausbleiben, sollte das ein Signal an Dich sein.

5. A hat sich wegen fahrlässiger Körperverletzung strafbar gemacht, indem er mit dem Auto wegfuhr, weswegen F stürzte und sich den Fuß prellte (§ 229 StGB).

Ja, in der Tat!

Objektive Voraussetzungen des § 229 StGB sind: (1) Körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung (2) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung (3) Objektive Vorhersehbarkeit des Erfolgs (4) Pflichtwidrigkeitszusammenhang A müsste zudem rechtswidrig, schuldhaft und subjektiv sorgfaltspflichtwidrig gehandelt haben. Außerdem müsste der Taterfolg subjektiv vorhersehbar gewesen sein.F hat A körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt. Das geschah, weil A mit dem Auto los fuhr, obwohl F davor stand, weswegen diese stürzte. Mit dem Auto loszufahren, während ein Mensch davor steht, ist objektiv sorgfaltspflichtwidrig. Es ist auch vorhersehbar, dass es dadurch zu Verletzungen kommen kann. Die Prellung beruhte gerade auf dem pflichtwidrigen Verhalten. A handelte rechtswidrig, schuldhaft und subjektiv sorgfaltspflichtwidrig. Der Erfolg war für A auch subjektiv vorhersehbar.

6. A bemerkte, dass F stürzte und sich verletzte. Trotzdem fuhr er weiter. Hat er sich wegen Unerlaubten Entfernens vom Unfallort strafbar gemacht (§ 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB)?

Ja!

Die Strafbarkeit nach § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt objektiv voraus: (1) Unfall im Straßenverkehr (2) Täter: Unfallbeteiligter nach § 142 Abs. 5 StGB (3) Sich-Entfernen vom Unfallort (4) Ohne Ermöglichen von Feststellungen A müsste zudem vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben. Er dürfte auch keine tätige Reue nach § 142 Abs. 4 StGB geübt haben.A hat F angefahren, wodurch diese sich verletzte. Dabei handelt es sich um ein plötzlich eintretendes Ereignis, das mit den Gefahren des öffentlichen Straßenverkehrs zusammenhängt und einen Personenschaden nach sich zog, der die Bagatellgrenze überschritt (= Unfall). A ist auch Unfallbeteiligter im Sinne des § 142 Abs. 5 StGB. Er entfernte sich vom Unfallort ohne zu ermöglichen, dass die erforderlichen Feststellungen (§ 142 Abs. 1 StGB) getroffen werden konnten. A handelte vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft. Er hat keine tätige Reue geübt. Ein Prüfungsschema zu § 142 Abs. 1 StGB findest Du hier .

7. Darüber hinaus könnte A sich wegen Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht haben, indem er drei mal kurz auf das Gaspedal tippte.

Genau, so ist das!

Objektive Voraussetzungen für eine Strafbarkeit nach § 240 Abs. 1 StGB sind: (1)Nötigungsmittel: Gewalt oder Drohung (2)Nötigungserfolg: Handeln, Dulden oder Unterlassen (3) Nötigungsspezifischer Zusammenhang zwischen Nötigungsmittel und -erfolg Zudem müsste A subjektiv vorsätzlich gehandelt haben. Die Tat müsste rechtswidrig, also insbesondere gemäß § 240 Abs. 2 StGB verwerflich gewesen sein. Auch müsste A schuldhaft gehandelt haben. Das Prüfungsschema der Nötigung kannst Du hier wiederholen.

8. F war sich sicher, dass A sie nicht wirklich umfahren würde. Scheidet damit eine Drohung nach § 240 Abs. 1 StGB aus?

Ja, in der Tat!

Drohung im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB meint das Inaussichtstellen eines empfindlichen Übels, auf das der Drohende Einfluss zu haben vorgibt. Die Drohung kann auch konkludent erfolgen. Sie muss für das Opfer den Anschein der Ernstlichkeit erwecken, so dass es die Verwirklichung des Übels zumindest für möglich hält. A tippte drei mal kurz das Gaspedal an. Darin kann eine konkludente Ankündigung gesehen werden, er werde mit dem Auto losfahren, obwohl F im Weg stehe (RdNr. 22). Das darin liegende Verletzungsrisiko wäre ein künftiges Übel für F. Sie ging jedoch nicht davon aus, dass A tatsächlich losfahren würde. F hielt es nicht für möglich, dass das angekündigte Übel tatsächlich eintreten würde. Somit hat A der F nicht gedroht.Selbst wenn F die Drohung ernst genommen hätte, hätte A den objektiven Tatbestand des § 240 Abs. 1 StGB nicht erfüllt. F ist nicht zur Seite gegangen. Es ist somit auch kein Nötigungserfolg eingetreten.

9. Kommt eine Strafbarkeit des A wegen versuchter Nötigung in Betracht?

Ja!

Eine Versuchsstrafbarkeit kommt immer dann in Betracht, wenn eine Vorprüfung ergibt, dass der Täter die Tat nicht vollendet hat und wenn der Versuch des Delikts strafbar ist.A hat sich nicht wegen einer vollendeten Nötigung strafbar gemacht. Der Versuch der Nötigung ist auch gemäß § 240 Abs. 3 StGB strafbar.

10. A müsste mit Tatentschluss gehandelt haben, als er das Gaspedal antippte (§§ 240 Abs. 3, 22, 23 StGB).

Genau, so ist das!

Der Täter handelt mit Tatentschluss, wenn er Vorsatz bezüglich aller objektiven Tatbestandsmerkmale hat und eventuell bestehende deliktsspezifische subjektive Tatbestandsmerkmale erfüllt. A müsste mithin Vorsatz bezüglich einer Drohung gehabt haben, durch die A handeln sollte.

11. A bremste jedes mal nach dem Antippen des Gaspedals gleich wieder ab. Legt dies unproblematisch nahe, dass A ohne Tatentschluss bezüglich der Drohung handelte?

Nein, das trifft nicht zu!

Der BGH sieht in dem dreimaligen kurzen Antippen des Gaspedals eine konkludente Ankündigung, dass A die F anfahren werde, sollte diese nicht aus dem Weg gehen. Diese Interpretation sei nicht deswegen ausgeschlossen, dass A immer sofort auf die Bremse ging, als F den Weg nicht frei räumte. Das Bremsen zeige für sich genommen lediglich, dass A die angekündigte Handlung bei Erfolglosigkeit seiner Drohung nicht in die Tat umsetzen wollte – es schließt aber nicht die Drohung an sich aus (RdNr. 22). Auch sei es unbeachtlich, dass F die Ankündigung nicht ernst nahm: Im Rahmen des Tatentschlusses ist ausschließlich auf die subjektive Sicht des Täters abzustellen. Geht der Täter davon aus, das Opfer könne die Drohung ernst nehmen, so ist ein Tatentschluss zu bejahen.Das Landgericht Berlin hatte das noch anders gesehen: Nach seiner Ansicht spreche die Tatsache, dass A nach einem kurzen Antippen direkt wieder auf die Bremse gegangen sei dafür, dass dieser F schon gar nicht habe drohen wollen.

12. A wollte erreichen, dass F aus dem Weg geht, damit A sich dem Streit entziehen kann. Ist das verwerflich im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB?

Ja!

Eine Tat ist dann nach § 240 Abs. 2 StGB verwerflich, wenn die Gewaltanwendung oder Drohung zu dem beabsichtigten Zweck in einem auffälligen Missverhältnis stehen. Die Verhaltensweise muss als sozialethisch missbilligenswert anzusehen sein.A wollte, dass F aus dem Weg ginge, damit er sich dem Streit entziehen könne. Dafür wollte er F androhen, dass er sie notfalls anfahren würde. Das angedrohte Anfahren mit dem Auto und damit eine Gewalteinwirkung mit einer großen, schweren Maschine, ist im Verhältnis zum Ziel als sozialethisch missbilligenswert zu werten.Die Nötigung zeichnet sich dadurch aus, dass die Verwirklichung des Tatbestandes allein nicht die Rechtswidrigkeit indiziert. Vielmehr muss die Tat verwerflich sein und die Rechtswidrigkeit damit positiv festgestellt werden. Das Merkmal der Verwerflichkeit kannst Du Dir hier genauer anschauen.

13. A handelte rechtswidrig und schuldhaft. Ist die Versuchsprüfung damit abgeschlossen?

Nein, das ist nicht der Fall!

Prüfst Du den Versuch eines Delikts, darfst Du nie vergessen, auch einen eventuellen Rücktritt zu besprechen, § 24 StGB! Selbst wenn dieser evident nicht vorliegt, musst Du zumindest kurz erwähnen, dass der Täter auch nicht mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurückgetreten ist.Den vorliegenden Fall hat der BGH an eine andere Kammer des Landgerichts Berlin zurück verwiesen. Dort muss nun auch geprüft werden, ob ein Rücktritt des A vorliegt. Dafür müsste das Gericht aber noch weitere Feststellungen treffen. In einem Klausursachverhalt wären diese wohl vorhanden.
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