Strafrecht

Examensrelevante Rechtsprechung SR

Entscheidungen von 2022

Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung – Erkenntnishorizont des Angegriffenen

Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung – Erkenntnishorizont des Angegriffenen

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Bei einem missglückten Deal entreißen A und B dem T €4.000. Als T seine Pistole zieht, flüchten sie. Der geübte Schütze T schießt aus 2m Entfernung zweimal auf ihre Oberkörper, ihren Tod billigend in Kauf nehmend. T trifft nicht. B gelangt außer Schussweite. T schießt nochmal auf den Oberkörper des nun 20m entfernten A und trifft ihn lebensgefährlich. A überlebt aber.

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Einordnung des Falls

Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung – Erkenntnishorizont des Angegriffenen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Durch die Schüsse hat T den Tatbestand des versuchten Totschlags verwirklicht (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Eine Versuchsstrafbarkeit setzt tatbestandlich voraus, dass der Täter mit (1) Tatentschluss zur Tatbestandsverwirklichung (2) unmittelbar ansetzt. T hatte bedingten Tötungsvorsatz und somit Tatentschluss. Er hat auch zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar angesetzt, indem er die drei Schüsse abgefeuert hat. Sofern zuvor nicht bereits der vollendete Totschlag geprüft und abgelehnt wurde, ist zu Beginn der Prüfung des Versuchs kurz festzustellen, dass T nicht wegen vollendeten Totschlags strafbar ist und das unvollendete Delikt im Versuch strafbar ist.
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2. Ts versuchter Totschlag ist jedoch gerechtfertigt, sofern er in Notwehr (§ 32 StGB) gehandelt hat.

Ja!

Neben der Tatbestandsmäßigkeit muss für eine Strafbarkeit sowohl die Rechtswidrigkeit des Verhaltens als auch die Schuld des Täters hinzukommen. Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr setzt (1) einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff (Notwehrlage) sowie (2) eine erforderliche und gebotene Verteidigungshandlung (Notwehrhandlung), die (3) von einem Verteidigungswillen gedeckt ist, voraus. Das Notwehrrecht dient dem Interesse des Einzelnen an einem effektiven Rechtsgüterschutz und verfolgt zudem generalpräventive Zwecke: Jeder erfolgreich abgewehrte Angriff zeigt, dass die Rechtsordnung nicht risikolos verletzt werden kann.

3. Befand sich T bei Abgabe aller drei Schüsse in einer Notwehrlage?

Genau, so ist das!

Als Notwehrlage ist ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff erforderlich. Ein Angriff ist jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Güter oder Interessen. Er ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, bereits begonnen hat oder noch fortdauert. A und B haben T Geld entrissen und damit einen rechtswidrigen Angriff auf das Besitzrecht des T begangen. Dieser war zum Zeitpunkt aller Schüsse auch gegenwärtig, da die Beute noch nicht gesichert war.

4. Der Einsatz einer Schusswaffe zum Zwecke der Notwehr ist nie erforderlich.

Nein, das trifft nicht zu!

Eine Notwehrhandlung ist erforderlich (§ 32 Abs. 2 StGB), wenn sie geeignet ist, den Angriff zu beenden und Art und Maß der Verteidigungshandlung der drohenden Gefahr entsprechen, d.h. die vom Täter gewählte Verteidigung das mildeste unter gleich tauglichen Mitteln ist (sog. Erforderlichkeit im engeren Sinne). Auch der lebensgefährliche Einsatz einer Schusswaffe ist nicht von vornherein unzulässig, kann aber nur das letzte Mittel der Verteidigung sein. Der Angegriffene muss sich jedoch nicht auf das Risiko einer unzureichenden Abwehrhandlung einlassen („das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen“). Er ist grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, was eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet.

5. Wegen der kurzen zeitlichen Abfolge ist die Erforderlichkeit für alle drei Schüsse des T einheitlich zu beurteilen.

Nein!

Das LG Bremen hatte zuvor die drei Schüsse einheitlich gewertet und eine Rechtfertigung als Notwehr insgesamt verneint. BGH: Führt ein in Notwehr Handelnder mehrere Abwehrhandlungen aus, sei zu prüfen, ob jede der Handlungen zur Abwehr des gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs erforderlich war. Vorliegend bedürfe es einer differenzierenden Betrachtung der drei Schüsse, da sie unter sich ändernden Bedingungen abgegeben wurden. Während T sich bei den ersten beiden Schüssen in unmittelbarer Nähe zu A und B befand, hätten sich für den dritten Schuss die Umstände verändert und T war von A bereits 20m entfernt (RdNr. 20ff.)

6. Vor den ersten beiden Schüssen hätte T den Einsatz der Waffe zunächst ausdrücklich androhen müssen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Wenn es sich bei der Verteidigungshandlung um den Einsatz einer Schusswaffe handelt, muss nach h.M. eine besondere Stufenfolge beachtet werden. In der Regel muss der Angegriffene den Einsatz der Waffe zunächst androhen. Reicht dies nicht, muss er einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen - etwa einen Warnschuss oder einen Schuss auf weniger sensible Körperregionen. Das letzte Mittel der Verteidigung ist der tödliche Schuss (als ultima ratio). T hat die Waffe für A und B sichtbar gezogen und damit seinen Einsatzwillen konkludent zum Ausdruck gebracht. Einer ausdrücklichen Androhung bedarf es daher nicht.

7. Die ersten beiden Schüsse auf die Oberkörper waren dennoch nicht erforderlich im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB.

Ja, in der Tat!

Eine Notwehrhandlung ist erforderlich (§ 32 Abs. 2 StGB), wenn sie geeignet ist, den Angriff zu beenden und Art und Maß der Verteidigungshandlung der drohenden Gefahr entsprechen, d.h. die vom Täter gewählte Verteidigung das mildeste unter gleich tauglichen Mitteln ist (sog. Erforderlichkeit im engeren Sinne). BGH: Ts Schüsse auf die Oberkörper von A und B seien zwar geeignet, den Angriff auf sein Besitzrecht sofort und endgültig abzuwehren. Doch T hätte zunächst einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen müssen. Ihm wären zumindest Schüsse auf weniger sensible Körperregionen möglich gewesen, ohne dabei die Erfolgschancen seiner Verteidigung im relevanten Umfang zu schmälern. Er sei bei Abgabe nur zwei bis drei Meter hinter den Fliehenden gewesen und sei zudem ein geübter Schütze. Die Schüsse seien somit nicht das mildeste Abwehrmittel gewesen (RdNr. 10ff.).

8. Zur Beurteilung der Erforderlichkeit des dritten Schusses ist laut BGH insbesondere von Bedeutung, wer aus Sicht eines objektiven Dritten in der Tatsituation des Handelnden das Geld in Besitz hatte.

Ja!

BGH: Nach den Feststellungen des LG Bremen sei unklar, wo sich bei Abgabe des dritten Schusses das Geld befand. Es sei daher zweifelhaft, ob der Schuss geeignet war, den Angriff auf Ts Besitzrecht abzuwehren. Die Erforderlichkeit sei aus einer ex ante-Betrachtung zu bestimmen. Abzustellen ist auf die Sicht eines objektiven und umfassend über den Sachverhalt orientierten Dritten in der Tatsituation des Handelnden. Eventuelles Sonderwissen des Verteidigers sei zu berücksichtigen; maßgeblich sei nicht die Sicht eines allwissenden Beobachters, sondern die des sorgfältig beobachtenden Verteidigers (RdNr. 15ff.). Nach einer anderen Ansicht soll die ex ante-Perspektive nur für prognostische Feststellungen maßgeblich sein. Für „tatsächliche Gegebenheiten” aber soll die ex post-Sicht entscheidend sein.

9. Unterstellt B hatte das Geld und T wusste dies auch: War der dritte Schuss auf A dann erforderlich?

Nein, das ist nicht der Fall!

In dieser Fallkonstellation erscheint fraglich, inwieweit der Schuss auf A noch zur Abwehr des Angriffs hätte beitragen können. Dazu hätte der Schuss schließlich die Aussicht bieten müssen, eine Beutesicherung durch den bereits vorauseilenden B noch zu verhindern (RdNr. 15). Zudem könne dies die Annahme eines noch fortbestehenden Verteidigungswillen des T in Frage stellen. (RdNr. 26).

10. Unterstellt A hatte das Geld und dies war für T erkennbar: War der dritte Schuss dann erforderlich?

Ja, in der Tat!

Zum Zeitpunkt der Abgabe des dritten Schusses war B bereits außer Schussweite. Aus ex ante-Perspektive habe deshalb nahegelegen, dass ein Entkommen des A aus dem Schussfeld unmittelbar bevorstand. Aus dieser Perspektive habe es für T nur noch die Gelegenheit gegeben, die Flucht des A mit einem letzten Schuss zu verhindern. Die ersten beiden Schüsse hätten den A nicht von der Flucht abgehalten, deshalb konnte die Verhinderung der Flucht realistisch nur noch durch einen Treffer gelingen (RdNr. 21). Anders als das Landgericht angenommen hatte, müsse T sich hierbei auch nicht auf einen Schuss auf die Beine verweisen lasse, er habe den Schuss unter weit ungünstigeren Bedingungen abgegeben als die ersten beiden (RdNr. 22).

11. Unterstellt T nahm irrtümlich an, dass A das Geld hatte, ein besonnener Verteidiger hätte aber erkennen können, dass es bei B ist. War der Schuss dann erforderlich?

Nein!

In dieser Konstellation wäre die Erforderlichkeit des dritten Schusses auf Grundlage der ex ante-Betrachtung abzulehnen. Der Schuss wäre nicht durch Notwehr gerechtfertigt. Der BGH weist allerdings daraufhin, dass diese irrige Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts als ein den Vorsatz ausschließender Irrtum über Tatumstände nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB Bedeutung erlangen könne (RdNr. 26).

12. Unterstellt, aus der ex ante-Sicht war nicht erkennbar, ob A oder B das Geld mit sich führte: War der dritte Schuss erforderlich?

Genau, so ist das!

Erst nachträglich bekannt werdende Umstände fließen nicht in die Beurteilung der Erforderlichkeit ein. Der Irrtum des Verteidigers über die Erforderlichkeit der Abwehrhandlung, der objektiv unvermeidbar ist, geht zu Lasten des Angreifers.BGH: Aus einer ex ante-Sicht bilde die Verhinderung der Flucht des A eine geeignete Abwehrhandlung, wenn der Verbleib des Geldes nicht erkennbar gewesen sein sollte. Denn es wäre von der Möglichkeit auszugehen gewesen, dass A das Geld hatte, sodass der Schuss auf ihn eine Chance zum Erhalt der von den Angreifern noch nicht endgültig gesicherten Beute habe begründen können. Eine für T nur ex post zu erlangende Kenntnis davon, dass B das Geld hatte, würde dies nicht in Frage stellen (RdNr. 18). Da Feststellungen zum Verbleib des Geldes bei Abgabe des dritten Schusses gefehlt haben, hat der BGH an das LG zurückverwiesen.Je nachdem, welche Angaben Du im Sachverhalt erhältst, wäre hier die Rechtfertigung also zu bejahen oder abzulehnen. Handelte T nicht gerechtfertigt, so wäre hier noch der Rücktritt zu prüfen (Sachverhaltsinformationen hierzu notwendig). Zudem musst Du auch noch die vollendete gefährliche Körperverletzung prüfen (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, 5 StGB).
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