Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Allgemeiner Teil
Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung – Erkenntnishorizont des Angegriffenen
Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung – Erkenntnishorizont des Angegriffenen
2. April 2025
14 Kommentare
4,8 ★ (20.015 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Bei einem missglückten Deal entreißen A und B dem T €4.000. Als T seine Pistole zieht, flüchten sie. Der geübte Schütze T schießt aus 2m Entfernung zweimal auf ihre Oberkörper, ihren Tod billigend in Kauf nehmend. T trifft nicht. B gelangt außer Schussweite. T schießt nochmal auf den Oberkörper des nun 20m entfernten A und trifft ihn lebensgefährlich. A überlebt aber.
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Einordnung des Falls
Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung – Erkenntnishorizont des Angegriffenen
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Durch die Schüsse hat T den Tatbestand des versuchten Totschlags verwirklicht (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB).
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Ts versuchter Totschlag ist jedoch gerechtfertigt, sofern er in Notwehr (§ 32 StGB) gehandelt hat.
Ja!
3. Befand sich T bei Abgabe aller drei Schüsse in einer Notwehrlage?
Genau, so ist das!
4. Der Einsatz einer Schusswaffe zum Zwecke der Notwehr ist nie erforderlich.
Nein, das trifft nicht zu!
5. Wegen der kurzen zeitlichen Abfolge ist die Erforderlichkeit für alle drei Schüsse des T einheitlich zu beurteilen.
Nein!
6. Vor den ersten beiden Schüssen hätte T den Einsatz der Waffe zunächst ausdrücklich androhen müssen.
Nein, das ist nicht der Fall!
7. Die ersten beiden Schüsse auf die Oberkörper waren dennoch nicht erforderlich im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB.
Ja, in der Tat!
8. Zur Beurteilung der Erforderlichkeit des dritten Schusses ist laut BGH insbesondere von Bedeutung, wer aus Sicht eines objektiven Dritten in der Tatsituation des Handelnden das Geld in Besitz hatte.
Ja!
9. Unterstellt B hatte das Geld und T wusste dies auch: War der dritte Schuss auf A dann erforderlich?
Nein, das ist nicht der Fall!
10. Unterstellt A hatte das Geld und dies war für T erkennbar: War der dritte Schuss dann erforderlich?
Ja, in der Tat!
11. Unterstellt T nahm irrtümlich an, dass A das Geld hatte, ein besonnener Verteidiger hätte aber erkennen können, dass es bei B ist. War der Schuss dann erforderlich?
Nein!
12. Unterstellt, aus der ex ante-Sicht war nicht erkennbar, ob A oder B das Geld mit sich führte: War der dritte Schuss erforderlich?
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
juliavdb
26.2.2024, 09:43:09
Dieses vernetzte Lernen durch Abfragen verschiedener Sachverhaltsalternativen ist sehr hilfreich. Gerne mehr davon! :)
Leo Lee
26.2.2024, 14:54:30
Hallo juliavdb, vielen Dank für die lieben Worte! Worte sie deine treiben uns immer weiter an, Aufgaben wie diese ins Leben zu rufen. Wir freuen uns sehr darüber, dass dir unsere Aufgaben gefallen und wünschen dir noch viel Spaß mit den anderen tollen Aufgaben in der App :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Confector
27.2.2024, 20:55:03
Ist in der Konstellation, in der B das
Geldhat, T aber irrig annimmt, dass A das
Geldhat, nicht ein
Erlaubnistatbestandsirrtumin Bezug auf den dritten Schuss zu prüfen?
Lalalu
4.7.2024, 14:31:31
War auch mein Gedanke

Nocebo
25.7.2024, 17:58:02
Das schreibt der BGH: "Sollte der Angeklagte dagegen irrtümlich einen gar nicht bestehenden B
esitz des Nebenklägers angenommen haben, könnte dies unter dem G
esichtspunkt der irrigen Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts als ein den
Vorsatzausschließender Irrtum über
Tatumständenach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB Bedeutung erlangen (siehe nur BGH, Beschlüsse vom 21. August 2013 – 1 StR 449/13, NJW 2014, 1121; vom 21. November 2019 – 4 StR 166/19, NStZ 2020, 725." Er schildert also eigentlich auch einen
ETBI, denn der Irrtum ist nicht auf Tatbestands-, sondern Rechtfertigungsebene. Warum er aber den
Vorsatzund nicht nur die
Vorsatzschuld ausschließen will, erschließt sich mir nicht.

G0d0fMischief
17.1.2025, 09:39:07
Ich gehe davon aus, dass der BGH hier (vermeintlich) eng an der Definition der Erforderlichkeit der
Notwehrarbeitet: „Die Verteidigung ist erforderlich, wenn sie das relativ mildeste Mittel unter mehreren gleichermaßen sicher den Angriff abwehrenden Mitteln darstellt.“ Beurteilt wird dies aus ex-ante Perspektive eines objektiven Beobachters. Und hier knüpft der BGH denke ich an. Er sagt quasi, dass dem Täter ein Merkmal des „objektiven Tatbestands“ der
Notwehrfehlt. Und zwar das der Erforderlichkeit. Problematisch ist hierbei, dass der BGH damit den Anschein macht der Lehre von den negativen
Tatbestandsmerkmalen zu folgen. Ich denke hier ist es aber wie so oft bei Entscheidungen des BGH: „Der Weg ist das Ziel“ und so setzt er sich nicht damit auseinander in welcher Form § 16 I 1 StGB anzuwenden ist (h.M. wendet die Rechtsfolge des § 16 I 1 StGB analog an) sondern er stellt einfach auf den § 16 I 1 StGB ab. Im Endeffekt ein „Fehler“ der einem Studenten in der Klausur nicht so leicht verziehen worden wäre, da damit der Eindruck entsteht, man wüsste nicht was zum objektiven TATBESTAND eines Delikts gehört und was lediglich zum objektiven „Tatbestand“ eines Rechtfertigungsgrundes. @[Confector](240251) @[Lalalu](238351) @[Nocebo](222699)

Gigachad1
17.4.2024, 17:53:19
Würde man dann versuchten Totschlag bejahen?

Nedjem
18.4.2024, 17:47:03
Genau, der versuchte Totschlag durch die ersten zwei Schüsse gegenüber A und B ist gem. 212 I, 22, 23 I StGB erfüllt.

Nocebo
28.7.2024, 10:38:21
Der BGH macht es offenbar - ich finde das ziemlich unsinnig. "Ihm wären zumindest Schüsse auf weniger sensible Körperregionen möglich gewesen, ohne dabei die Erfolgschancen seiner Verteidigung im relevanten Umfang zu schmälern. Er sei bei Abgabe nur zwei bis drei Meter hinter den Fliehenden gewesen und sei zudem ein geübter Schütze. Die Schüsse seien somit nicht das mildeste Abwehrmittel gewesen." Es wurde ja offenbar nicht mal der - anscheinend leicht zu treffende - Oberkörper getroffen. Dann zu fordern, dass man auf eine noch schwieriger zu treffende Körperregion zielen soll, überzeugt mich nicht.
Jan
20.6.2024, 11:11:10
Irgendwie erscheint mir die Lösung sehr fragwürdig. Insb. die
konkludente An
drohungbei dem Ziehen der Schusswaffe ist nicht gerade einleuchtend, wenn immer die 3 Stufen Theorie - mit ausdrücklicher Warnung - vertreten wird. Der Fall lässt sich gut mit dem Fischteich-Fall vergleichen, in dem ein Mann mit einem Gewehr auf zwei fliehende Diebe schießt. Dort wird die
Notwehrunstreitig verneint, da der Angriff zum einen nicht mehr gegenwärtig ist durch die Flucht und auch die Erforderlichkeit entfällt. Wieso wird das ganze hier anders bewertet?
RealOmnimodo 🇺🇦
15.8.2024, 18:45:05
Ich schließe mich den Kollegen in den Kommentaren zum Fall an, die das Ergebnis als fragwürdig erachten. Zudem scheint mir auch ein Fall der fehlenden
Gebotenheitaufgrund eines krassen Missverhältnisses zwischen angegriffenem Rechtsgut (4000€) und der Verteidigungshandlung (Einsatz von Schusswaffen) vorzuliegen. Eine Abwägung der Rechtsgüter findet bei der
Notwehrja eigentlich nicht statt. Hier ist die Abwehrhandlungen aber geeignet, den Tod des Angreifers herbeizuführen. Muss das vorliegend berücksichtigt werden?
Vincent
3.2.2025, 15:26:26
Mir erschließt sich die Begründung des BGH im Falle der Unbekanntheit darüber wer das
Geldin B
esitz hat nicht. Zwar erscheint es durchaus logisch, dass der Angreifer die Gefahr trägt, allerdings ist doch fragwürdig inwiefern es vertretbar ist, dass ein Leben genommen wird, ohne, dass der Schießende Sicher weiß, ob seine Maßnahme geeignet ist. Gerade, da es in diesem Fall "nur um
Geld" geht erscheint mir das Ergebnis unbillig. Müsste hier nicht auch eine Abwägung der bedrohten Rechtsgüter stattfinden ? Ich denke in Fällen in denen ein Mord bevorsteht und der in
Notwehrhandelnde nicht sicher weiß wer die Waffe führt wäre diese Ergebnis durchaus vertretbar - im vorliegenden Fall finde ich die Begründung jedoch zumindest Anzweifelbar