Strafrecht
Strafrecht Allgemeiner Teil
Rechtfertigungsgründe
Tatbestandsausschließendes Einverständnis / Rechtfertigende Einwilligung
Tatbestandsausschließendes Einverständnis / Rechtfertigende Einwilligung
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Der vierjährige E ist schwer krank. Um sein Leben zu retten, ist eine sofortige Operation erforderlich. Seine Eltern lehnen die Operation aus finanziellen Gründen ab. Dennoch nimmt Arzt A die lebensrettende Operation vor, als E nach einem Atemstillstand in das Krankenhaus eingeliefert wird. Die Operation gelingt.
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Einordnung des Falls
Tatbestandsausschließendes Einverständnis / Rechtfertigende Einwilligung
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Arzt A hat nach der herrschenden Meinung (h.M.) den Tatbestand einer Körperverletzung erfüllt (§ 223 Abs. 1 StGB).
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. A handelte gerechtfertigt durch eine tatsächliche Einwilligung.
Nein!
3. A handelt gerechtfertigt durch eine mutmaßliche Einwilligung.
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Marius
9.12.2020, 11:47:46
Ist das hier nicht eher die sogenannte „hypothetische“ Einwilligung? Die nicht mit der mutmaßlichen zu verwechseln ist? ;-) Rengier, AT, S.224, Rn 62
Juranus
9.12.2020, 18:42:47
Ich würde sagen, nein, die hypothetische Einwilligung kommt hier nicht zum Tragen. Im Unterschied zu mutmaßlichen Einwilligung hätte bei der hypothetischen Einwilligung der Wille in Erfahrung gebracht werden können. Aus den in der Lösung genannten Gründen wird auf E abgestellt. Dieser ist bei Hinzutreten des Arztes aber nicht bei Bewusstsein, so dass er nicht befragt werden kann. Daher kommt es mE nach auf die mutmaßliche Einwilligung an.
Dolusdave
11.2.2021, 15:52:14
Eine hypothetische Einwilligung liegt in diesem Zusammenhang v.a. dann vor, wenn der Betroffene nicht hinreichend über die Folgen des Eingriffs aufgeklärt würde. Dann ist das hypothetische Element: Wenn der Betroffene aufgeklärt worden wäre, hätte er dem Eingriff voraussichtlich zugestimmt.
jomolino
22.10.2021, 16:30:31
Eine hypothetisch Einwilligung überwindet bei einer erklärten Saber wegen Willensmangel unwirksamen Einwilligung den Mangel. Vom BGH bisher nur für Mängel aufgrund fehlerhafter Aufklärung vor OPs entschieden.
Isabell
1.1.2021, 15:36:54
Ich finde es widersprüchlich erst auf die Ablehnung der Eltern abzustellen, um dann im nächsten Schritt die mutmaßliche Einwilligung des E anzunehmen. Hätte man dann nicht auch schon in der Frage davor auf den E als Rechtsgutsinhaber abstellen müssen?
Eigentum verpflichtet 🏔️
1.1.2021, 18:37:48
Hallo Isabell, in der 2. Frage wird nach der "tatsächlichen" Einwilligung gefragt. Eine solche liegt hier eindeutig nicht vor.
smend40
28.7.2021, 17:09:09
Der Rückgriff auf eine mutmaßliche Einwilligung erscheint mir auch zweifelhaft. E ist aufgrund seines Alters nicht einwilligungsfähig, die mutmaßliche Einwilligung kann ein solch konstitutives Defizit aber nicht überbrücken. Vielmehr dient die mutmaßliche Einwilligung lediglich der Ermöglichung von Selbstbestimmung in Situationen in denen es dem Rechtsgutsträger temporär verwehrt ist tatsächlich einzuwilligen. Gangbar erscheint mir hier einzig der Weg über 34.
Isabell
28.7.2021, 17:13:32
Es geht mir nicht um die 2. Frage, sondern um die Lösung im allgemeinen.
Sniter
21.1.2023, 11:19:11
Ich glaube es geht hier v.a. um § 1666 BGB. Richtig ist, dass die mutmaßliche Einwilligung gegenüber der tatsächlichen Einwilligung subsidiär ist und die tatsächliche Einwilligung nicht "überlagern" darf. Wäre der Fall anders -der Rechtsgutsträger selbst würde die OP aus finanziellen Gründen verweigern-, dann muss diesem -wenn auch unvernünftigen- Willen des Rechtsgutsträgers Rechnung getragen werden. Grds darf bei der Einwilligung durch den gesetzl. Vertreter nichts anderes gelten. Im Falle der Gefährdung des Kindeswohls haben die Eltern ihre Sorgfaltspflicht nicht ausgeübt. Dementsprechend darf hier ausnahmsweise die mutmaßliche Einwilligung die tatsächliche Einwilligung überlagern.
QuiGonTim
31.3.2022, 09:29:16
Liebes Jurafuchs-Team, in den Kommentaren zu diesem Fall wurde die Abgrenzung von mutmaßlicher und hypothetischer Einwilligung ja schon diskutiert. Könntet ihr dazu noch ein paar Aufgaben hinzufügen? Super wäre auch eine Aufgabe zum Prüfungsaufbau. :)
Lukas_Mengestu
31.3.2022, 10:41:57
Vielen Dank für Deinen Hinweis, QuiGonTim. Das werden wir noch ausbauen. Beste Grüße, Lukas- für das Jurafuchs-Team
CH1RON
3.5.2022, 19:11:34
Nach „zu retten“ und „Operation vor“ dürfte jeweils ein Komma stehen ;)
Lukas_Mengestu
4.5.2022, 11:25:25
Sehen wir auch so, danke Dir :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
bibu knows best
22.6.2022, 15:14:28
Ich fände es gut vor diesem Fall eine Einheit zu generellen Arten von Einwilligungen (tatsächlich hypothetisch mutmaßlich) einzuführen
Lukas_Mengestu
23.6.2022, 11:28:35
Vielen Dank für den Hinweis, bibu knows best. Das leite ich gerne an die Redaktion weiter. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Dominic
26.8.2023, 23:15:02
Ich glaube die Antwort auf die Frage, ob ein ärztlicher Heileingriff nach hM eine tatbestandliche Körperverletzung darstellt, ist falsch. Zumindest stimmt sie nicht mit der Begründung überein.
MK-
4.9.2023, 08:40:02
das hat mich auch verwirrt. zuerst die aussage: nach hM ist das eine KV, welche richtig sei. und dann in der Begründung: nach hM schon keine Körperverletzung. Da ist etwas vertauscht worden… 🤔
Leo Lee
9.9.2023, 11:31:40
3420 Hallo Dominic und MK-, in der Tat ist der Erklärungstext etwas missverständlich geschrieben; diese haben wir nun entsprechend angepasst. Gemeint war damit allerdings, dass eine h.M. INNERHALB der Literatur diese Meinung vertritt. Die „eigentliche“ h.M. (angeführt von der Rechtsprechung) bejaht immer eine Körperverletzung auf der Tatbestandsebene. Hierzu kann ich die Lektüre von Rengier BT II 21. Auflage, § 13 Rn. 24 ff. empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Natze
6.7.2024, 12:25:47
wie verhält es sich mit 1666? Stellt man fest, dass eine Kindswohlgefährdung im Sinne des 1666 vorliegt und ein Gericht das Einverständnis ersetzen würde oder wende ich den Rechtsgedanken des 1666 entsprechend an aufgrund der Eilbedürftigkeit wegen der lebensbedrohlichen Lage?
eviiimaria
12.10.2024, 10:59:27
Hallo, Da die mutmaßliche Einwilligung ja subsidiär zur echten rechtfertigenden Einwilligung ist, habe ich mich gefragt ob man dann die rfg. extra nochmal vorher prüft und ablehnt mangels Erklärung, oder ob man das innerhalb der mutmaßlichen feststellen kann?
Linne_Karlotta_
13.10.2024, 13:16:16
Hallo @[eviiimaria ](255301), danke für deine Frage! Wie so oft kommt es hier m.E. auf die Fallgestaltung / den Schwerpunkt der Klausur an. Du solltest in jedem Fall an irgendeiner Stelle deutlich machen, dass du weißt, dass vorrangig die ausdrücklich erklärte Einwilligung zu prüfen wäre. Damit machst du deutlich, dass du das nicht einfach „übersehen“ hast. Wenn es ganz eindeutig keinerlei Äußerung des Opfers gab, also auch nicht durch
konkludentes Verhalten, dann würde ich direkt auf die mutmaßliche Einwilligung springen und zu anfangs in einem Satz feststellen, dass nur diese mangels ausdrücklicher oder
konkludenter Erklärung des Opfers in Betracht kommt. So setzt du den richtigen Schwerpunkt und sparst dir Zeit, die ja in strafrechtlichen Klausuren sowieso knapp ist. Wenn es allerdings irgendeine Art von Erklärung des Opfers in Betracht kommt, solltest du die kurz anprüfen und deutlich machen, wieso darin keine Einwilligung liegt. Wie viel zu hierzu schreibst, kommt auf den Einzelfall an bzw. darauf, ob die Klausur darauf angelegt ist, diesen Punkt zu problematisieren. Achte hierbei - wie immer - auf Anzeichen im Sachverhalt und der Aufgabenstellung. Ich hoffe, ich konnte dir damit weiterhelfen! Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team