Befundsicherungspflicht (Fabrikationsfehler)


mittel

Diesen Fall lösen 61,8 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A kauft bei Edeka eine Fanta-Mehrwegglasflasche des Herstellers Coca-Cola (C). Als A sie zu Hause öffnet, zerspringt die Glasflasche wegen Haarrisses im Glas in 1.000 Scherben, von denen eine das Auge der A trifft. Vor der Auslieferung hatte C die Flasche nicht nochmal kontrolliert. Es ist weder feststellbar, ob der Riss bei der Herstellung des C verursacht wurde, noch ob C bei der Produktion schuldhaft handelte.

Einordnung des Falls

Befundsicherungspflicht (Fabrikationsfehler)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Wird jemand durch ein Produkt verletzt, wird nach § 1 Abs. 1 ProdHaftG vermutet, dass das Produkt einen Fehler hatte (Fehlernachweis).

Nein, das trifft nicht zu!

Der Geschädigte muss nach dem Gesetzeswortlaut zunächst den Fehler, die Verletzung und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Verletzung nachweisen (§ 1 Abs. 4 S. 1 ProdHaftG). Das bedeutet: Der Geschädigte muss vor allem nachweisen, dass das Produkt einen Produktfehler (§ 3 ProdHaftG) aufweist. Dafür genügt, dass er das Vorliegen eines Fehlers zumindest plausibel macht. Er muss den Fehler nicht genau innerhalb des Produkts lokalisieren und auch keine rechtliche Einschätzung dazu abgeben, um welche Art des Fehlers (Konstruktions-, Fabrikations- oder Instruktionsfehler) es sich handelt.

2. Der Geschädigte muss im Rahmen des ProdHaftG dann auch beweisen, dass dieser Fehler schon beim Inverkehrbringen der Sache bestand und dem Organisations- und Gefahrenbereich des Herstellers entstammt (Fehlerbereichsnachweis).

Nein!

Kann der Fehlernachweis geführt werden, genügt schon die Darlegung, dass der Fehler zumindest im Zeitpunkt des Schadensfalls vorlag. Ist dies der Fall, wird davon ausgegangen, dass das betreffende Produkt von seinem Hersteller auch fehlerhaft in Verkehr gebracht worden ist, solange dieser sich nicht entlasten kann (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG). Der Fehlerbereichsnachweis trifft somit nicht den Geschädigten, sondern den Hersteller.

3. A kann beweisen, dass das Produkt im Zeitpunkt ihrer Verletzung einen Fehler hatte.

Genau, so ist das!

Im Zeitpunkt des Schadensfalls hatte die Flasche unstreitig einen Produktfehler (§ 3 Abs. 1 ProdHaftG), der kausal zur Verletzung der A führte, indem die Flasche einen Riss aufwies, der zum Zerbersten der Flasche führte (Fehlernachweis). Auch ist C unstreitig Hersteller (§ 4 Abs. 1 ProdHaftG). Mehr muss A nicht nachweisen: Der Hersteller muss das Vorliegen von Ausschlussgründen darlegen und beweisen (§ 1 Abs. 2 ProdHaftG); ein Verschulden ist nicht erforderlich.

4. C kann sich entlasten, weil der Fehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik beim Inverkehrbringen des Produkts nicht erkennbar war (§ 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG).

Nein, das trifft nicht zu!

Für das Vorliegen der einzelnen Haftungsausschlussgründe in § 1 Abs. 2 ProdHaftG ist der Hersteller darlegungs- und beweispflichtig (§ 1 Abs. 4 S. 2 ProdHaftG). Der Hersteller kann sich mit dem Nachweis entlasten, dass der Fehler seines Produkts nach dem Stand der Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem er es in den Verkehr gebracht hat, schlichtweg nicht erkannt werden konnte (§ 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG). Dieser Einwand betrifft aber lediglich die Haftung für Entwicklungsrisiken. Er kann daher nur bei Konstruktions- und Instruktionsfehlern geltend gemacht werden, nicht aber bei Fabrikationsfehlern. Die Haftung für unerkennbare Ausreißer wird hierdurch also nicht begrenzt.

5. C kann sich hier damit entlasten, dass der Fehler möglicherweise auch erst nach dem Inverkehrbringen eingetreten ist.

Nein!

Der Hersteller kann sich auch darauf berufen, dass nach den Umständen davon auszugehen sei, dass das schädigende Produkt den Fehler im Zeitpunkt des Inverkehrbringens noch nicht aufwies (negativer Fehlerbereichsnachweis (§ 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG)). "Nach den Umständen davon auszugehen ist" bedeutet ein reduziertes Beweismaß auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit. Kann der Hersteller nachweisen, dass er seine Befundsicherungspflicht erfüllt hat, so ist er in den Sprudelflaschen-Fällen daher auch nicht nach § 1 ProdHaftG haftbar. Hier hat C seine Befundsicherungspflicht nicht erfüllt und kann keine überwiegende Wahrscheinlichkeit plausibel darlegen, sodass er sich nicht entlasten kann.

Jurafuchs kostenlos testen


DI

divenir

11.6.2022, 23:37:15

Wie soll A denn im Zeitpunkt des Prozesses beweisen können, dass die - jetzt nur noch in 1000 Scherben vorhandene - Glasflasche einen Haarriss hatte?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

14.6.2022, 20:41:14

Berechtigte Frage, divenir! Hier wird es auf Zeugenaussagen und Gutachten von Sachverständigen ankommen, die die Flasche untersuchen und prüfen, ob das Zerspringen durch äußere Einwirkung (zB herunterfallen) oder andere Ursachen (zB Haarriss) verursacht wurde (vgl. https://www.schweizer.eu//aktuelles/urteile/6471-bgh-revisionsurteil-vom-9-mai-1995-vi-zr-158-94-hamm). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Johannes Nebe

Johannes Nebe

4.3.2024, 15:39:41

Zu diesem Fall gibt es ja einen Zwilling unter der Rubrik Produzentenhaftung. Während dort (wohl unter Aussparung des ProdHaftG) ein Fehlerbereichsnachweis durch den Geschädigten erforderlich ist (bzw. nur unter anderen Bedingungen der

Befundsicherungspflicht

wieder entbehrlich wird), muss hier den Fehlerbereichsnachweis der Hersteller führen. Vielleicht könntet Ihr die beiden Fälle mal miteinander in Beziehung setzen?


© Jurafuchs 2024