+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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T schlendert über die Friedrichstraße und kauft eine Currywurst. Als sie zum Abbeißen ansetzt, springt ihr Es Chihuahua Chucky entgegen, um sich die Wurst zu schnappen. Da die Wurst beim Ausweichen herunterfallen würde, tritt T aus. Sie schießt Chucky „volley“ und todbringend 5 m weit.

Einordnung des Falls

Defensiver Notstand, § 228 BGB – 4

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Wenn T den Hund zerstört hat, um eine durch ihn drohende Gefahr von sich abzuwenden, ist ihr Handeln gerechtfertigt, wenn die Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zur Gefahr steht (§ 228 BGB).

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Genau, so ist das!

In objektiver Hinsicht verlangt § 228 BGB eine (1) Notstandslage, eine (2) Notstandshandlung und eine (3) Interessenabwägung. Außerdem muss der Täter in subjektiver Hinsicht mit (4) Verteidigungsabsicht (subjektives Rechtfertigungselement) handeln. § 228 BGB wird als defensiver Notstand bezeichnet, da der Täter hier in defensiver Weise eine Sache beschädigt oder zerstört, von der eine Gefahr droht. Dagegen wird § 904 BGB als aggressiver Notstand bezeichnet, da der Täter hier in aggressiver Weise auf eine Sache einwirkt, von der selbst gar keine Gefahr ausgeht.

2. Als T nach Chucky trat, befand sie sich in einer Notstandslage (§ 228 BGB).

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Ja, in der Tat!

Eine Notstandslage (§ 228 BGB) liegt vor, wenn von einer Sache eine Gefahr für ein Rechtsgut droht. Eine Gefahr ist ein Zustand, der bei ungehindertem Fortgang den Eintritt eines Schadens für ein notstandsfähiges Rechtsgut ernstlich befürchten lässt, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen getroffen werden. Der Chihuahua hatte es auf die Wurst abgesehen, welche im Eigentum der T stand. Es war zu befürchten, dass Chucky die Wurst auffressen würde.

3. Das Treten nach Chucky ist eine erforderliche Notstandshandlung (§ 228 BGB).

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Ja!

Eine Notstandshandlung (§ 228 BGB) ist erforderlich wenn sie geeignet ist und das relativ mildeste Mittel darstellt. Geeignet ist eine Handlung, wenn sie dazu förderlich ist, die Gefahr abzuwehren. Das mildeste Mittel setzt voraus, dass bei gleicher Eignung ein Mittel gewählt wurde, dass per se milder ist als die anderen zur Verfügung stehenden Mittel. Die Zerstörung des Hundes mit dem Tritt hat die Gefahr durch den Hund abgewehrt. Jedoch hätte T stattdessen auch versuchen können, sich wegzudrehen. Dabei hätte T allerdings die Wurst herunterfallen können. Das Wegdrehen wäre daher nicht gleich geeignet.

4. Das Treten nach Chucky ist eine verhältnismäßige Notstandshandlung (§ 228 BGB).

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Nein, das ist nicht der Fall!

Verhältnismäßig ist die Notstandshandlung, wenn bei einer Interessenabwägung der Schaden an der gefährlichen Sache nicht außer Verhältnis zu der drohenden Gefahr steht. Die Currywurst hatte T gerade ohne große Mühe und Kosten gekauft. Das verteidigte Interesse an der Currywurst steht außer Verhältnis zu dem Eigentum an dem Hund Chucky.

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QUIG

QuiGonTim

26.3.2022, 21:19:02

Liebes Jurafuchs-Team, das ist wieder einmal ein gelungener Fall. Ich bin schon auf die Illustration gespannt. ;) Allerdings sind mir zwei Fragen aufgekommen: 1. Ist der Tritt in dieser Intensität tatsächlich das mildeste Mittel? Ein Chihuahua ist zwar nicht sonderlich scher. Dennoch erfordert es einen erhöhten Kraftaufwand, den Hund 5 Meter weit zu „kicken“. Wäre ein leichterer, für das Tier nicht tödlich wirkender Tritt nicht ein Frage kommendes milderes Mittel gewesen? 2. Ist bei der Interessenabwägung lediglich die subjektive Eigentumsposition zu berücksichtigen oder werden auch objektive, rechtliche Wertungen, im vorliegenden Fall die des Tierschutzes, einbezogen? Besten Dank im Voraus :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

29.3.2022, 12:14:31

Hallo QuiGonTim, vielen Dank für Deine Anmerkungen. Zu 1) In der Tat kann man hier bereits bei der Erforderlichkeit ansetzen und fragen, ob ein milderer Tritt ebenfalls möglich wäre. Das Mittel muss dabei zudem gleich geeignet sein. Maßgeblich ist hier die konrete Kampflage. Ob es insofern tatsächlich gereicht hätte, den Hund leicht zu treten, ohne dass er direkt wieder nach der Wurst schnappt, ist insofern zweifelhaft. Aber wie gesagt, hier besteht Raum für Argumentation. Wenn der andere Tritt den Angriff aber lediglich abschwächt, während der Volleyschuss ihn beendet, so ist der mildere Tritt nicht gleich geeignet. Zu 2): Bei dem Begriff der Interessenabwägung musst Du wirklich vorsichtig formulieren. Denn eine Interessenabwägung findet bei der Notwehr grundsätzlich NICHT statt, vielmehr ist diese dem Notstand vorbehalten. Die Einschränkung über die Gebotenheit ist insofern lediglich ein Korrektiv im Randbereich. Objektiv rechtliche Wertungen spielen in der Literatur und der Rechtsprechung zumindest in den praxisrelevanten Fällen keine Rolle. Vielmehr geht es nur um die Frage, ob die mit der Verteidigung verbundene Beeinträchtigung oder Gefährdung des Angreifers in einem groben Missverhältnis zur drohenden Verletzung des Verteidigers steht (vgl. Perron/Eisele, in: Sch/Sch-StGB, 30.A. 2019, § 32 RdNr. 50). Dabei geht es aber nicht nur um Eigentumsbeeinträchtigungen, sondern vor allem auch um Schäden an Leib und Leben. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Johannes Nebe

Johannes Nebe

23.9.2022, 07:35:21

Lukas' Antwort zu 2) verwirrt mich. Sie bezieht sich auf Notwehr. Im vorliegenden Fall geht es aber um Notstand. Was begreife ich nicht?

FABY

Faby

24.4.2023, 16:59:56

@[Lukas Mengestu](136780) Wegen der noch offenen Frage von Johannes Nebe :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.4.2023, 11:08:27

Hallo ihr Lieben, entschuldigt bitte die Verwirrung. Die Ausführungen zu 2) betreffen in der Tat einen anderen Fall (zB jemand hetzt den Hund auf T, wodurch eine Notwehrlage besteht). Im Falle des Notstandes bedarf es in der Tat der Interessenabwägung, wobei auch Belange des Tierschutzes als notstandsfähige Rechtsgüter in die Interessenabwägung hineinfließen. Dies folgt aus der Strafbarkeit der Tierquälerei nach § 17 TierschG sowie dem Verfassungsauftrag in Art. 20a GG. Da Tiere keine Träger von eigenen Rechten sind, geht es hierbei insoweit um ein Rechtsgut der Allgemeinheit. Sofern sich der Täter (anders als hier) zugunsten eines Tieres auf den Notstand berufen will, muss allerdings bei der Interessenabwägung berücksichtigt werden, dass staatliche Abhilfemaßnahmen grundsätzlich vorrangig sind (vgl. MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, StGB § 34 Rn. 72). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ALE

alexd.227

29.1.2024, 17:56:18

eure illustrationen gehören laut anderen antworten immer zu den Sachverhalten. die frau schafft es also, dem hund einen Karate-Kick mitzugeben, ohne dass die Wurst fällt, aber beim wegdrehen wäre sie runtergefallen? das scheint mir als argumentation sehr zweifelhaft.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

30.1.2024, 09:41:48

Hallo alexd.227, fair enough - der Fall ist zugegebenermaßen etwas konstruiert ;-) Dennoch würde ich Dir für Klausuren im Ernstfall raten, den Sachverhalt so zu nehmen, wie er konstruiert wurde. Sofern hier explizit steht, dass zu befürchten war, dass die Wurst fällt, solltest Du das der Prüfung zugrunde legen. Das ist tatsächlich auch gar nicht so weit von der Praxis entfernt, sondern ähnelt sehr dem Vorgehen der Revisionsgerichte. Da diese selbst keine Tatsachenfeststellung betreiben, müssen sie den Sachverhalt grds. so nehmen, wie das Tatgericht ihn ermittelt hat (wobei die Möglichkeit der Zurückverweisung und Neuermittlung besteht). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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