+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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T fährt für eine „kleine“ Lernsession zu E. Als T aufbrechen möchte, schnappt sich Goldie, Labradordame des E, einen Schuh von T. Sie beginnt, zu knurren und zu kauen. T schleudert ihr seine Habersacktasche auf die Schnauze. Goldie erleidet einen kleinen Kratzer und gibt den Schuh frei.

Einordnung des Falls

Defensiver Notstand, § 228 BGB – 3

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Wenn T den Hund beschädigt hat, um eine durch ihn drohende Gefahr von sich abzuwenden, ist sein Handeln gerechtfertigt, wenn die Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zur Gefahr steht (§ 228 BGB).

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Ja!

In objektiver Hinsicht verlangt § 228 BGB eine (1) Notstandslage, eine (2) Notstandshandlung und eine (3) Interessenabwägung. Außerdem muss der Täter in subjektiver Hinsicht mit (4) Verteidigungsabsicht (subjektives Rechtfertigungselement) handeln. § 228 BGB wird als defensiver Notstand bezeichnet, da der Täter hier in defensiver Weise eine Sache beschädigt oder zerstört, von der eine Gefahr droht. Dagegen wird § 904 BGB als aggressiver Notstand bezeichnet, da der Täter hier in aggressiver Weise auf eine Sache einwirkt, von der selbst gar keine Gefahr ausgeht.

2. Als T mit der Habersacktasche geschlagen hat, befand er sich in einer Notstandslage (§ 228 BGB).

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Genau, so ist das!

Eine Notstandslage (§ 228 BGB) liegt vor, wenn von einer Sache eine Gefahr für ein Rechtsgut droht. Eine Gefahr ist ein Zustand, der bei ungehindertem Fortgang den Eintritt eines Schadens für ein notstandsfähiges Rechtsgut ernstlich befürchten lässt, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen getroffen werden Eine Gefahr droht bereits dann, wenn nach den tatsächlichen Umständen der Eintritt eines Schadens nahe liegt. Die Labradordame hatte den Schuh, Eigentum des T, im Maul und begonnen, diesen zu zerkauen. Es war zu befürchten, dass der Schuh dadurch beschädigt werden würde.

3. Die Interessenabwägung fällt zugunsten des T aus (§ 228 BGB).

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Ja, in der Tat!

Bei der Interessenabwägung darf der Schaden an der gefährlichen Sache nicht außer Verhältnis zu der drohenden Gefahr stehen. Zwar hat E vermutlich eine freundschaftliche Beziehung zu Goldie, sodass das verteidigte geschützte Interesse ein geringeres Gewicht im Vergleich zum Eigentum an Goldie hat. Der Schaden an der Hündin steht jedoch nicht außer Verhältnis zu der drohenden Gefahr für das Eigentum von T.

4. T handelte mit Verteidigungsabsicht (subjektives Rechtfertigungselement).

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Ja!

Aus dem Wortlaut von § 228 S. 1 BGB („um“ … abzuwenden) ergibt sich, dass der Verteidiger einen Verteidigungswillen, d.h. eine zielgerichtete Verteidigungsabsicht haben muss. T wollte die Hündin dazu bringen, den Schuh freizugeben.

5. T trifft eine Schadensersatzpflicht für den zu versorgenden Kratzer der Hündin.

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Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Schadensersatzpflicht trifft den Notstandstäter nur, wenn er die Gefahr verschuldet hat (§ 228 S. 2 BGB). Im Umkehrschluss besteht keine Schadensersatzpflicht, wenn der Täter die Gefahr nicht verschuldet hat. Goldie hat sich den Schuh alleine geschnappt. T trifft keine Schuld. Die Rechtfertigungswirkung von § 228 S. 1 BGB bleibt von einer eventuell bestehenden Schadensersatzpflicht (§ 228 S. 2 BGB) nach h.M. unberührt.

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Klima-Kleber

Klima-Kleber

1.2.2023, 21:29:08

Halte ich - insbesondere im Hinblick auf die knappe Begründung - für so nicht vertretbar!

Paul

Paul

2.2.2023, 08:44:26

Ich nehme mal an, du spielst insbesondere auf die Interessenabwägung zu Gunsten des T an. m.E. ist es gerade andersherum. Eine von der Lösung abweichende Ansicht ist aus meiner Sicht auch vertretbar, doch fehlt es hierzu an Angaben im Sachverhalt. Vorstellbar wäre z.B., dass der Schuh vlt durch die ersten Bissspuren bereits unbrauchbar geworden ist und somit bereits erheblich an Wert verloren hat oder dass das idelle Interesse der E sehr viel größer ist. Doch wie gesagt basiert das auf weiteren Überlegungen, welche sich so ohne weiteres nicht aus dem Sachverhalt ergeben. Folglich halte ich die Lösung für diesen Sachverhalt für sehr gut vertretbar. Ein andere Ansicht wird mit dem vorhandenen Informationen aus meiner Sicht schwierig.

DO

Dominik

6.2.2023, 20:57:56

Naaaaja, ich bin nicht der grünste Tierfreund, muss aber Klima-Kleber zustimmen… Es spielt ja nicht nur das Eigentumsrecht und der materielle Schaden als verletztes Individualrechtsgut eine Rolle, sondern auch das durch unsere Verfassung in Art. 20a normierte Staatsziel des Umwelt- und Tierschutzes, sowie die spezielleren gesetzlichen Regelungen zur Strafbarkeit von Tierquälerei. Somit ist auch unsere Rechtsordnung als Allgemeinrechtsgut durch diese Handlung angegriffen - und das in unverhältnismäßiger Art und Weise. Schließlich hätte auch eine durchsetzbare Schadensersatzpflicht gegen den Hundehalter bestanden und eine so drastische - geradezu tierquälerische - Verletzung des Hundes wäre nicht nötig gewesen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

31.7.2023, 18:42:09

Hallo ihr drei, vielen Dank für eure Anmerkungen. Wir haben uns den Fall noch einmal angesehen und stimmen euch zu. Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit hatten hier die besseren Argumente gegen die Annahme des Defensivnotstandes gesprochen. Wir haben den Fall entsprechend modifiziert. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

QUIG

QuiGonTim

20.4.2023, 09:24:40

Liebes Jurafuchs-Team, in anderen Kommentaren zu diesem Fall klang schon die Frage nach dem Tierschutz als relevantes Interesse im Rahmen der Abwägung. Klärt uns doch bitte mal auf. Kann das Universalrechtsgut des Tierschutzes im Rahmen der Interessenabwägung eine Rolle spielen?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

20.4.2023, 12:52:58

Hallo QuiGonTim, danke für die Anregung diese Frage nochmal vertieft zu behandeln. Das Tierwohl als solches kann gefährdetes Rechtsgut sein, das eine entsprechende Handlung rechtfertigt. Man denke an den Hund, der bei sommerliche Hitze im Auto verbleiben muss und durch ein eingeschlagenes Fenster von der Feuerwehr befreit wird. Dies ist im Rahmen von § 32 StGB ausgeschlossen, der ja einen Angriff auf ein Individualrechtgut erfordert. Darüber hinaus ist es weniger der Tierschutz im engeren Sinne als die zivilrechtliche Betrachtung des Tieres als Sache gem. § 90 Abs. 1 BGB die eine Rolle spielt. Zwar darf die Verteidigung bis hin zur Tötung des angreifenden Tieres reichen. Sollte aber das zu rettende Gut hier schon unwiderbringlich zerstört oder zumindest erheblich beschädigt sein, kann dies keine extreme Beschädigung des Tieres rechtfertigen. Der Schaden darf also nicht außer Verhältnis zur Gefahr stehen, wobei diese Voraussetzung eine Interessenabwägung verlangt, deren Maßstab im Vergleich zu § 34 zu Gunsten der Rechtsgüter des Gefährdeten verschoben ist. Ausreichend ist sonach, dass das verteidigte Schutzgut nicht außer Verhältnis zum beeinträchtigten steht.Darüberhinaus gilt es zu beachten, dass in die Abwägung auch einfließt, ob Sachgüter oder eben die Unversehrheit einer Person gefährdet wird. Der Tierschutz ist somit bedingt abwägungsfähig. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

DIAA

Diaa

27.7.2023, 21:48:02

Gilt der Streitstand des fehlenden Verteidigungswillens auch für die anderen Rechtfertigungsgründe?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

31.7.2023, 18:54:36

Hallo Diaa, auch bei den anderen Rechtfertigungsgründen ist streitig, welche Folgen das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselementes hat (Vollendungsstrafbarkeit oder "bloß" Versuch?). Bei den zivilrechtlichen Notständen wird teilweise sogar gänzlich auf die Notwendigkeit eines subjektiven Rettungswillens verzichtet, sodass in diesem Fall allein die objektive Rechtslage für die Frage der Rechtswidrigkeit ausschlaggebend wäre (vgl. Übersicht bei BeckOGK/Rövekamp, 1.9.2022, BGB § 228 Rn. 27 ff.) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

DIAA

Diaa

31.7.2023, 20:38:14

Dankeschön


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