Bei versuchter Unterlassung 5
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T ist von ihrem Ehemann O genervt, da dieser dauerhaft vor dem Fernseher sitzt. Sie weigert sich daher, diesen weiterhin zu umsorgen und sagt ihm, dass es ihr egal sei, wenn dieser verdurstet. Als O tatsächlich 3 Tage nichts trinkt, fühlt T sich schlecht und bringt ihm Wasser.
Diesen Fall lösen 62,8 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Bei versuchter Unterlassung 5
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Der versuchte Totschlag durch Unterlassen ist strafbar (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB).
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. T hatte „Tatentschluss“ bezüglich der objektiven Merkmale des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB)
Nein, das ist nicht der Fall!
Fundstellen
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Juraddicted
5.8.2024, 09:38:32
Hat man als Ehefrau keine derartigen Pflichten (BGB/ GG/ StGB?), wenn sich der (zugegebenerweise erwachsene, selbstverantwortliche) Ehemann derart lebensgefährlich gefährdet? Hat man zB bei einem Wohnungsbrand nicht gleichlaufende „Retterpflichten“/ Garantenstellung? Dankeschön :)
Tobias Krapp
7.8.2024, 11:12:12
Hallo Juraddicted, danke für deine Nachfrage. Hier muss man zwischen Garantenstellung und objektiver Zurechnung (hier in der Form des Schutzzwecks der Garantenstellung) unterscheiden. Auch bei „klassischen“ Beschützerverantwortlichkeiten wie bei Ehegatten gibt es nur beschränkte Gefahrenabwendungspflichten. Beschützerverantwortlichkeiten bedeuten nicht eine - gar nicht mögliche - Gewähr absoluter Gefahrenfreiheit. Man muss in jedem Einzelfall anhand von Inhalt und Zielrichtung der Garantenpflicht feststellen, ob bei Unterlassen gerade der spezifische Schutzzweck der Garantenstellung ein Handeln erfordert. Bei voll handlungsfähigen, nicht eingeschränkten Ehegatten ist das Versorgen mit Wasser im Alltag Gegenstand der Selbstverantwortung. Dies fällt nicht unter den Schutzzweck der Garantenstellung. Hier zeigt sich auch, dass unterschiedliche Situationen und Garantenstellungen unterschiedliche Pflichten erzeugen können: Bei einem Kleinkind etwa wäre die Nichtversorgung mit Wasser aufgrund der höheren Verantwortlichkeit der Eltern und mangels eigenverantwortlicher Handlungsmöglichkeiten des Kindes anders zu beurteilen und vom Schutzzweck der Garantenstellung erfasst. Auch bei dem von dir gewählten Beispiel des Wohnungsbrands liegt die Situation anders, da hier kein alltäglicher Vorfall oder eine selbstverantwortliche Entscheidung zugrunde liegt. Bei dieser Ausnahmesituation wäre ein Ehegatte als Beschützergarant (die Zumutbarkeit der Handlung vorausgesetzt) handlungspflichtig. Man sieht also: Es geht hier letztlich um eine wertende Betrachtung der Gefahr und ihres Ursprungs. Man muss das in der Klausur nur in juristisch hübsche Worte verpacken ;) Viele Grüße - für das Jurafuchsteam - Tobias @[Wendelin Neubert](409)
Juraddicted
7.8.2024, 11:27:01
Vielen Dank für Deine schnelle und ausführliche Antwort! :) Das hat mir schon einmal gut weitergeholfen. Könntest Du die Abgrenzung zwischen obj Zurechnung und Garantenstellung bitte noch einmal genauer erläutern? Die Garantenstellung könnte also „bei beiden“ auftauchen? Dankeschön :)
Tobias Krapp
7.8.2024, 14:37:26
Hallo Juradiccted, gerne! Die Abgrenzung ist beim unechten
Unterlassungsdelikt dogmatisch wirklich etwas knifflig und variiert zwischen Literatur und Rechtsprechung: Möglichkeit 1, wie dies Teile der Literatur machen: Im Rahmen der Garantenstellung wird nur festgestellt, dass Ehegatten Beschützergaranten sind (und dies kurz begründet). Im Rahmen der objektiven Zurechnung wird dann gefragt, ob sich ein vom Täter gesetztes,
rechtlich missbilligtes Risikoim Erfolg realisiert hat. Ist das vom Täter gesetzte Risiko ein Unterlassen, muss danach zunächst festgestellt werden, ob es sich dabei überhaupt um ein
rechtlich missbilligtes Risikohandelt. Dies wäre dann in der Klausur das Einfallstor für die obigen Überlegungen zu Schutzzweck und Freiverantwortlichkeit. Diesem Aufbau folgt auch unser Fall hier, daher wurde im Fall die
objektive Zurechnungverneint. Möglichkeit 2, wie dies andere Teile der Literatur und die Rechtsprechung machen: Im Rahmen der Garantenstellung wird zunächst die Eigenschaft als Beschützergarant geprüft. Dann wird in einem nächsten Schritt direkt geprüft, wie weit die Pflicht zum Handeln reicht. Es wird also nicht nur die grundsätzliche Eigenschaft als Garant thematisiert, sondern in einem zweiten Schritt die Reichweite geprüft, also stehen nach diesem Aufbau hier in diesem zweiten Schritt die obigen Überlegungen. Der BGH wählt diesen Aufbau naturgemäß deswegen, da er bei
Vorsatzdelikten ohnehin nicht mit der objektiven Zurechnung arbeitet. Selbst wenn man die
objektive Zurechnungaber grundsätzlich anerkennt, könnte man diesen Aufbau wählen. Für die
objektive Zurechnungbliebe dann nur noch, ob sich die Gefahr realisiert hat, die der Täter durch die pflichtwidrige Unterlassung der gebotenen Rettungshandlung geschaffen oder aufrechterhalten hat. Die Frage, ob es sich um ein
rechtlich missbilligtes Risikohandelt, wäre dann "herausgeschält" in die Garantenpflicht. Dies kann man durchaus dogmatisch begründen: Um ein
rechtlich missbilligtes Risikokann es sich beim Unterlassen nur handeln, wenn der Täter rechtlich für das Ausbleiben des Erfolges einzustehen hat, also verpflichtet ist, zur Erfolgsabwendung tätig zu werden. Nichts anderes beschreibt die Garantenpflicht. Insofern bestehen hier also zwischen der "klassischen Formel" der objektiven Zurechnung und der Garantenpflicht dogmatisch Überschneidungen. Man darf sich dann nicht irritieren lassen: Der Sache nach geht es genau um die obigen Wertungsfragen der objektiven Zurechnung, bloß unter dem Punkt der Reichweite der Garantenpflicht diskutiert. Auch hier wird also klar zwischen grundsätzlicher Garantenstellung einerseits und Reichweite der Garantenpflichten andererseits unterschieden. Man würde dann in unserem Fall dann in der Lösung die
objektive Zurechnungnicht mehr ansprechen. Prinzipiell kannst du beide Möglichkeiten als Aufbau wählen, da beide so vertreten werden. Vom Gefühl der Lösungsskizzen her würde ich aber sogar sagen, dass Möglichkeit 2 in Lösungsskizzen etwas verbreiteter ist, was wohl auch daran liegt, dass etliche Klausurfälle der Rechtsprechung nachgebildet sind. Mit Lösungsmöglichkeit 2 wirst du die Lösungsskizze daher wahrscheinlich häufiger "treffen". Viele Grüße - für das Jurafuchsteam - Tobias
Juraddicted
8.8.2024, 10:51:27
Vielen lieben Dank für Deinen Einsatz! :) jetzt ist es mir klar geworden und ich hoffe, ich weiß, was in der Klausur zu tun ist. Liebe Grüße