Unmittelbares Ansetzen und Unterlassen - fehlende Garantenstellung


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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

T sieht einen jungen Mann im Wasser ertrinken, den sie für ihren pubertierenden Sohn S hält. In Wirklichkeit ertrinkt gerade ein Fremder. Da S der T zuletzt sehr auf die Nerven gegangen ist, lässt T ihn ertrinken, obwohl sie erkennt, dass sie ihn leicht retten könnte.

Einordnung des Falls

Unmittelbares Ansetzen und Unterlassen - fehlende Garantenstellung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T hat sich wegen vollendeten Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB).

Nein!

Ein Unterlassen wegen vollendeten Totschlags (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB) ist nur dann strafbar, wenn auch eine Garantenstellung besteht. Zwar ist der Taterfolg eingetreten. Es besteht jedoch objektiv keine Garantenstellung. Daher ist der objektive Tatbestand nicht erfüllt.

2. Der versuchte Totschlag durch Unterlassen ist strafbar (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Der Versuch durch Unterlassen ist dann strafbar, wenn es sich um ein Delikt handelt, bei dem der Versuch auch durch Handlung strafbar ist. Rechtsfolge des § 13 Abs. 1 StGB ist die Gleichstellung des Unterlassens mit einer Handlung im engeren Sinne. Dabei ist wie sonst auch der Versuch eines Verbrechens stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt (§ 23 Abs. 1 StGB). Totschlag ist ein Verbrechen, da die angedrohte Mindestfreiheitsstrafe 5 Jahre beträgt (§§ 212 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB).

3. T hatte „Tatentschluss“ bezüglich der objektiven Merkmale des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Es gelten die Maßstäbe, die auch sonst für den Versuch gelten, wobei der Täter die Merkmale der unechten Unterlassungstat ebenfalls in den Vorsatz aufgenommen haben muss. T hatte Vorsatz in Bezug auf die objektiven Merkmale des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB), also die Tötung eines Menschen. Die hier vorliegende Zweiteilung dient der Verständlichkeit.

4. T hatte „Tatentschluss“, den Totschlag durch Unterlassen zu begehen.

Ja!

T hat vorsätzlich in Bezug auf das Unterlassen einer möglichen Rettungshandlung gehandelt, wobei das Unterlassen quasi-kausal für den Erfolgseintritt war. Zwar trifft T hinsichtlich des fremden Mannes objektiv keine Garantenstellung, jedoch hat T die Vorstellung, dass es sich um ihren Sohn handelt. Dabei ist im Tatentschluss von der Tätervorstellung auszugehen und zu prüfen, ob der objektive Tatbestand erfüllt wäre, wenn diese zutrifft. Wäre der Ertrinkende tatsächlich S, hätte T eine Pflicht die Gefahr abzuwehren, da sie ihren Sohn schützen muss. Diese Verantwortungsposition ist auch für einen Laien erkennbar. T hat daher Tatentschluss in Bezug auf ihre Garantenstellung. Die Entsprechungsklausel ist bei § 212 StGB nach herrschender Meinung nicht relevant.

5. Das unmittelbare Ansetzen beim Unterlassungsdelikt gleicht dem unmittelbaren Ansetzen durch Tätigkeit.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das unmittelbare Ansetzen beim Unterlassungsdelikt weicht vom unmittelbaren Ansetzen beim Handlungsdelikt ab, da beim Handlungsdelikt am Vorgehen des Täters angeknüpft wird. Zwar lässt sich die gleiche Definition anwenden, allerdings sind die Kriterien beim Unterlassungsdelikt noch weniger greifbar, da regelmäßig nur an einen Zeitablauf angeknüpft wird und nicht an eine vom Täter vorgestellte Handlungskette

6. T hat nach herrschender Meinung unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt.

Ja, in der Tat!

Die herrschende Meinung geht daher von einem unmittelbaren Ansetzen aus, wenn die erste mögliche Rettungshandlung nicht vorgenommen wird (also das Geschehen aus den Händen gegeben wird) und eine unmittelbare Gefahr für das geschützte Rechtsgut entsteht. T hat den Mann nicht gerettet, obwohl sich dieser in unmittelbarer Ertrinkungsgefahr befand.

7. Andere Theorien stellen auf absolute Zeitpunkte ab.

Ja!

Andere Theorien orientieren sich nicht an der Gefährdung, sondern an Zeitpunkten zwischen Vorsatz und Vollendung oder Fehlschlag. Dabei stellt eine Theorie auf die letzte Handlungsmöglichkeit ab und eine andere auf die erste Handlungsmöglichkeit. Zwar werden die Theorien beide abgelehnt, in der Praxis wird jedoch im Ergebnis häufig auf die erste Handlungsmöglichkeit abgestellt, da das Kriterium der unmittelbaren Gefährdung wertungsoffen ist. Daneben wird teilweise vertreten, dass die letzte sichere Handlungsmöglichkeit ausschlaggebend ist. Bei der Argumentation für oder gegen eine Theorie muss man sich auch an der Wertung für das unmittelbare Ansetzen durch Handlung orientieren, da das Gesetz gerade keine Sonderregelungen für das Unterlassen vorsieht.

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Jakob G.

Jakob G.

3.1.2021, 12:08:52

Korrekturhinweis zum Fall des ertrinkenden Sohn S. "T hat den Notarzt nicht gerufen, obwohl S lebensbedrohlich verletzt war und sein Leben gefährdet war." Das Klingt nach dem vorigen Fall in dem der Vater den Sohn anfährt. Noch etwas: Einmal (kurz vor o.G.) wird von der Kausalität und

Quasikausalität

der Unterlassung gesprochen. Meines Wissens müsste es in beiden Fällen Quasi-Kausalität heißen. Oder wird die ex-post betrachtete Quasi-Kausalität der Unterlassung schlicht Kausalität genannt?

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

3.1.2021, 23:07:23

Hallo Jakob, danke für den Hinweis, wir haben das korrigiert! Quasi-Kausalität ist bei unechten Unterlassungsdelikten der genauere Terminus und sollte demnach auch so verwendet werden.

LH

L. H.

8.1.2021, 00:57:59

Hi! Ich würde anregen, den Sachverhalt dahingehend ein bisschen auszubauen, dass das unmittelbare Ansetzen der T und der Taterfolg (der Tod des S) erkennbarer sind. Diese beiden Dinge werden in den Fragen/Erklärungen als gegeben angenommen, ich finde allerdings, dass sie - anders als zum Beispiel der Tatentschluss der T - dem Sachverhalt nicht eindeutig zu entnehmen sind.

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

23.1.2021, 15:09:36

M.E. kommt es nicht darauf an, ob S stirbt oder nicht. Da nur der Versuch geprüft wird, kommt es auf die Vorstellung der T an, welche den S ja gerade sterben lassen möchte. Selbst wenn S überlebt oder doch nie in Lebensgefahr war, liegt ein Versuch vor. Auch Eventuqlvorsatz würde ausreichen.

HannaHaas

HannaHaas

18.1.2024, 20:20:12

Wenn T hier also gewusst hätte, dass der Ertrinkende nicht ihr Sohn ist, sondern ein Fremder und nichts unternommen hätte, dann wäre sie also nur wegen unterlassener Hilfeleistung § 323c StGB zu bestrafen?

LELEE

Leo Lee

20.1.2024, 11:11:26

Hallo Rébecca Haas, vielen Dank für die sehr gute Frage! Genauso ist es! Wenn T sehr wohl weiß, dass der Ertrinkende ein „Fremder“ ist und auch anderweitig keine Garantenstellung besteht, scheidet § 13 StGB aus, weshalb nur noch der § 323c StGB möglich wäre :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

HannaHaas

HannaHaas

20.1.2024, 13:54:01

Danke Leo Lee für deine schnelle Antwort!:)

LELEE

Leo Lee

20.1.2024, 13:57:04

Sehr gerne, wir freuen uns auf weiter Fragen von dir :)

nullumcrimen

nullumcrimen

26.4.2024, 20:04:38

Ist T dann nur wegen Versuchs und vollendetem §323c strafbar? Weil rein objektiv besteht ja keine Garantenstellung

TI

Timurso

27.4.2024, 00:18:48

Genau, ja. Hinsichtlich 323c gilt es evtl. noch den error in persona anzusprechen, der dort aber irrelevant ist.

TI

Timurso

27.4.2024, 00:17:47

In Frage 6 steht als Maßstab, dass die h.M. auf die erste Rettungsmöglichkeit abstellt. Tatsächlich setzt der Täter nach h.M. aber unmittelbar an, wenn er das Geschehen so aus der Hand gibt, dass eine konkrete Gefährdung für das Opfer besteht. Entsprechend verwirrend sind auch die nächste Frage und dortige Erklärung, da zuvor nie von Gefährdung gesprochen wird und auch die Frage dann in eine falsche Richtung lenkt, weil die vermittelnde Ansicht (konkrete Gefährdung) ja gerade nicht auf einen "absoluten Zeitpunkt" abstellt. Auch im Hinblick auf die Formulierung "absoluter Zeitpunkt" finde ich die letzte Frage schwierig. Konnte mir darunter wenig vorstellen. Als absoluten Zeitpunkt würde ich am ehesten etwas verstehen wie "10 Minuten nach dem Erkennen der Gefahr" oder ähnliches.

LELEE

Leo Lee

28.4.2024, 11:12:45

Hallo Timurso, vielen Dank für dein Feedback! In der Tat hat noch der teil mit „aus der Hand geben“ gefehlt bei der h.M., weshalb wir das als Klammerzusatz ergänzt haben. Beachte i.Ü., dass die konkrete Gefahr auch als „unmittelbare“ Gefahr umschrieben werden kann (hier unterscheiden sich etwa je nach Autor die Formulierungen) :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

TI

Timurso

28.4.2024, 11:18:15

@[Leo Lee](213375) Hey Leo, ich glaube du hast mich etwas misverstanden. Es geht mir hier primär nicht um die Formulierung, sondern darum, dass die Antwort auf die Frage eine andere sein müsste. Von den drei Meinungen (1. Rettungsmöglichkeit, aus der Hand geben, letzte Rettungsmöglichkeit) ist die vermittelnde, das aus der Hand geben, die ganz herrschende Meinungen. In diesem Fall wird jedoch die erstere fälschlicherweise als die h.M. bezeichnet und infolgedessen geraten auch die Antworten und restlichen Erklärungen aus den Fugen.

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

19.6.2024, 08:52:25

Ich meine, dass die h.M. hier richtig wiedergegeben wird. Die h.M. besagt doch, dass (aus der Sicht des Täters) die 1. Rettungsmöglichkeit verstreichen und eine unmittelbare Gefahr für das geschützte Rechtsgut bestehen muss. So ist es auch hier angegeben: "Die herrschende Meinung geht daher von einem unmittelbaren Ansetzen aus, wenn die erste mögliche Rettungshandlung nicht vorgenommen wird (also das Geschehen aus den Händen gegeben wird) und eine unmittelbare Gefahr für das geschützte Rechtsgut entsteht." In Abgrenzung dazu lässt die a.A. das Verstreichenlassen der 1. Rettungsmöglichkeit genügen und fordert gerade keine unmittelbare Gefährdung für das geschützte Rechtsgut.

TI

Timurso

19.6.2024, 09:06:46

@[Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat](249958) hey da hast du Recht. Ich kann aktuell nicht mehr nachvollziehen inwiefern sich die Aufgabe ggf. seit meinem Kommentar geändert wurde, aber jetzt sieht es auf jeden Fall auch für mich richtig aus. Also außer vllt die Tatsache, dass das Kriterium "1. Rettungsmöglichkeit" typischerweise nicht Teil der Definition der h.M. ist, weil es nicht mit einem "aus der Hand geben" des Geschehens gleichbedeutend ist. Also natürlich muss zusätzlich auch die 1. Rettungsmöglichkeit verstreichen, aber das ist ja bereits Tatbestandsmerkmal des Unterlassen im Prüfungspunkt "Unterlassen der rechtliche gebotenen Handlung trotz physisch-realer Handlungsmöglichkeit" bzw. was man hier im Versuch im "Tatentschluss" als Spiegelbild der objektiven Merkmale prüfen würde. Insofern ist die Wiederholung des Merkmals als Voraussetzung des unmittelbaren Ansetzens imo verwirrend (und zeigt auch, warum die Mindermeinung nicht vertretbar ist, bei ihr kommt der Einschränkung des "unmittelbaren Ansetzens" kein eigener Bedeutungsgehalt mehr zu.


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