Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Versuch und Rücktritt

Unmittelbares Ansetzen und Unterlassen - fehlende Quasikausalität

Unmittelbares Ansetzen und Unterlassen - fehlende Quasikausalität

24. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem

T sieht, wie sein Sohn S gerade in der Elbe ertrinkt. Er geht davon aus, dass er ihn noch retten kann. Da ihm der Tod des S egal ist, geht er weiter. S ertrinkt. Später wird festgestellt, dass T den S gar nicht mehr hätte retten können.

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Einordnung des Falls

Unmittelbares Ansetzen und Unterlassen - fehlende Quasikausalität

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T hat sich wegen vollendeten Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Erforderlich ist, dass das Unterlassen des Täters kausal für den Erfolgseintritt ist (sog. Quasi-Kausalität). Dies ist der Fall, wenn die unterlassene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Auch wenn T gehandelt hätte, wäre S ertrunken. Das Unterlassen war daher nicht quasi-kausal für den Erfolgseintritt.
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2. Der versuchte Totschlag durch Unterlassen ist strafbar (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB).

Ja!

Der Versuch durch Unterlassen ist dann strafbar, wenn es sich um ein Delikt handelt, bei dem der Versuch auch durch Handlung strafbar ist. Rechtsfolge des § 13 Abs. 1 StGB ist die Gleichstellung des Unterlassens mit einer Handlung im engeren Sinne. Dabei ist wie sonst auch der Versuch eines Verbrechens stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt (§ 23 Abs. 1 StGB). Totschlag ist ein Verbrechen, da die angedrohte Mindestfreiheitsstrafe 5 Jahre beträgt (§§ 212 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB).

3. T hatte „Tatentschluss“ bezüglich der objektiven Merkmale des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Es gelten die Maßstäbe, die auch sonst für den Versuch gelten, wobei der Täter die Merkmale der unechten Unterlassungstat ebenfalls in den Vorsatz aufgenommen haben muss. T hatte Vorsatz in Bezug auf die objektiven Merkmale des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB), also die Tötung eines Menschen. Die hier vorliegende Zweiteilung dient der Verständlichkeit.

4. T hatte „Tatentschluss“, den Totschlag durch Unterlassen zu begehen.

Ja, in der Tat!

Zwar war keine Rettungsmöglichkeit gegeben und das Unterlassen daher nicht kausal. Allerdings unternimmt T nichts, obwohl er zu dem Zeitpunkt nicht ausschließen kann, dass er den S möglicherweise retten könnte. Daher nimmt er billigend in Kauf, dass er eine mögliche Rettungshandlung unterlässt und sein Unterlassen dabei quasi-kausal für den Tod des S ist. T wusste auch, dass er als Vater von S eine besondere Verantwortungsposition innehatte. Damit hat er Vorsatz bezüglich seiner Beschützergarantenposition in Form der Parallelwertung in seiner Laiensphäre. Die Entsprechungsklausel ist bei § 212 StGB nach herrschender Meinung nicht relevant.

5. Das unmittelbare Ansetzen beim Unterlassungsdelikt gleicht dem unmittelbaren Ansetzen durch Tätigkeit.

Nein!

Das unmittelbare Ansetzen beim Unterlassungsdelikt weicht vom unmittelbaren Ansetzen beim Handlungsdelikt ab, da beim Handlungsdelikt am Vorgehen des Täters angeknüpft wird. Zwar lässt sich die gleiche Definition anwenden, allerdings sind die Kriterien beim Unterlassungsdelikt noch weniger greifbar, da regelmäßig nur an einen Zeitablauf angeknüpft wird und nicht an eine vom Täter vorgestellte Handlungskette.

6. T hat nach herrschender Meinung unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt.

Genau, so ist das!

Die herrschende Meinung geht daher von einem unmittelbaren Ansetzen aus, wenn die erste mögliche Rettungshandlung nicht vorgenommen wird und eine unmittelbare Gefahr für das geschützte Rechtsgut entsteht. T hat keine Rettung (z.B. Wasserwacht, DLRG, Feuerwehr etc.) herbeigerufen, obwohl S sich in einer lebensbedrohlichen Situation befand.

7. Andere Theorien stellen auf absolute Zeitpunkte ab.

Ja, in der Tat!

Andere Theorien orientieren sich nicht an der Gefährdung, sondern an Zeitpunkten zwischen Vorsatz und Vollendung oder Fehlschlag. Dabei stellt eine Theorie auf die letzte Handlungsmöglichkeit ab und eine andere auf die erste Handlungsmöglichkeit. Zwar werden die Theorien beide abgelehnt, in der Praxis wird jedoch im Ergebnis häufig auf die erste Handlungsmöglichkeit abgestellt, da das Kriterium der unmittelbaren Gefährdung wertungsoffen ist. Daneben wird teilweise vertreten, dass die letzte sichere Handlungsmöglichkeit ausschlaggebend ist. Bei der Argumentation für oder gegen eine Theorie muss man sich auch an der Wertung für das unmittelbare Ansetzen durch Handlung orientieren, da das Gesetz gerade keine Sonderregelungen für das Unterlassen vorsieht.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

MAR

Martymcfly

28.3.2021, 10:35:11

Was ist der Unterschied von "erster Handlungssmoglichkeit" der Mindermeinung zu "erster Rettungsmöglichkeit" der h.M.? Ist beim Unterlassensdelikt nicht jede geforderte Handlung eine Rettungsmöglichkeit?

TeamRahad 🧞

TeamRahad 🧞

24.5.2021, 08:07:18

Wenn ich es richtig verstanden habe, verlangt die hM zusätzlich zum Nichtergreifen der ersten Handlungs-/Rettungsmöglichkeit noch den Eintritt einer unmittelbaren Gefahr (orange-farbiger Text in der vorletzten Frage). Die MM lässt allein das Nichtergreifen der ersten Handlungs-/Rettungsmöglichkeit genügen. In der letzten Antwort ist dann noch erläutert, dass wegen der Schwammigkeit der "unmittelbaren Gefährdung" die hM faktisch oft der MM entspricht.

Im🍑nderabilie

Im🍑nderabilie

31.1.2023, 18:48:23

Irrt sich der T nicht über

Tatumstände

, wenn er überhaupt von einer Rettungsmöglichkeit ausgeht? Das erscheint mir hier etwas widersprüchlich..

Paul

Paul

31.1.2023, 20:40:49

Nein, beim Versuch kommt es ja gerade auf die subjektive Vorstellung des Täters an.(vgl § 22 StGB) Nach seiner subjektiven Vorstellung liegen alle Tabestandsvoraussetzungen des § 212 I StGB vor. Es spielt für den Versuch keine Rolle, dass die Kausalität objektiv nicht vorlag.

Richter Alexander Hold

Richter Alexander Hold

11.10.2024, 11:34:03

Es handelt sich hier vorliegend um einen umgekehrten

Tatumstandsirrtum

, daher um einen untauglichen Versuch. Der Täter stellt sich irrig Umstände vor, bei dessen tatsächlichem Vorliegen er wegen vollendeter Tat (hier Totschlag durch Unterlassen) strafbar wäre. Da aber der Erfolg nicht eintritt, bleibt er sozusagen im Versuchsstadium hängen. Er hat damit eine rechtsfeindliche Gesinnung gezeigt und diese auch durch

unmittelbares Ansetzen

objektiv betätigt, sodass egal ist, dass eine Vollendungsstrafbarkeit wegen fehlender Quasi-Kausalität (der Vater hätte den Sohn ja auch bei Vornahme der Rettungshandlung nicht retten können) von Anfang an nicht möglich war. Insofern befand er sich tatsächlich in einem Irrtum über

Tatumstände

, nur dass er nicht in Unkenntnis von

Tatumstände

n war (

Tatumstandsirrtum

gem. 16 I 1 StGB) sondern in der irrigen Annahme von

Tatumstände

n, nämlich in der irrigen Annahme der Quasi-Kausalität seines Unterlassens (umgekehrter

Tatumstandsirrtum

bzw.

untauglicher Versuch

gem. 22 StGB).

BECCA00

Becca00

23.1.2024, 17:45:11

Kommt es nicht darauf an, dass nach den Vorstellungen des Täters bereits eine unmittelbare Gefährdung für das Rechtsgut eingetreten ist? Dann hätte T in der Frage davor doch noch nicht unmittelbar angesetzt, weil er nach seiner Vorstellung den S noch retten konnte...?


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