Strafrecht
Strafrecht Allgemeiner Teil
Objektive Zurechnung
Objektive Zurechnung: Zurechnungszusammenhang bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung
Objektive Zurechnung: Zurechnungszusammenhang bei eigenverantwortlicher Selbstgefährdung
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
A fährt in eine Kreuzung ein und übersieht ein „Stop“-Zeichen sowie das Auto des vorfahrtsberechtigten R. Durch den Unfall erleidet R lebensgefährliche Verletzungen. R lehnt die OP wegen der 5 bis 15 %igen Mortalitätsquote ab und stirbt.
Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 1 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Der Zurechnungszusammenhang zwischen A’s pflichtwidrigem Handeln und Rs Tod ist durch die eigenverantwortliche Selbstgefährdung des R unterbrochen.
Nein, das trifft nicht zu!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
ErdbärIn
5.11.2020, 07:19:00
Aber mal anders gesagt: R verweigert eine zu 85 bis 95 Prozent lebensrettenden Eingriff. Demgegenüber steht die 100 prozentige Wahrscheinlichkeit zu sterben. Damit ist es nicht mehr das Werk des A, was zum Tode führt, sondern die Ablehnung der ansonsten normalerweise durchgeführten Behandlung.
Amelie
5.11.2020, 11:09:37
Ich glaube die h.M. sieht hier als Begründung, dass dem Opfer nicht die Schuld für den Unfall und die Auswirkungen zugeschobenen werden sollte. Die Mindermeinung vertritt hingegen, dass das Opfer zumutbare Behandlungen akzeptieren sollte. Konkret zu deinem Punkt: es käme nie zur Ablehnung der Behandlung, wenn der A denn Unfall nicht gebaut hätte.
Eigentum verpflichtet 🏔️
5.11.2020, 13:26:32
Hallo ErdbärIn und Amelie, danke für eure Anmerkungen. Die Rspr. (und h wohl h.M.) nimmt eine
eigenverantwortliche Selbstgefährdungnur unter sehr restriktiven Voraussetzungen an. Gerade gestern wurde ein Beschluss des BGH zu § 251 StGB (
Raub mit Todesfolge) veröffentlicht (BGH, Beschl. v. 17.3.2020, 3 StR 574/19). Darin führt er aus, dass das Opfer einer Gewalttat, welches keine ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt, keine neue Ursache für das Versterben setze. Es wirke dem vom Täter gesetzten tödlichen Risiko nur nicht entgegen. Daher begründe die Entscheidung gegen die Behandlung keine "'neue'"Todesgefahr. Demnach liegt der für § 251 StGB nötige gefahrspezifische Zusammenhang vor.
Eigentum verpflichtet 🏔️
5.11.2020, 13:31:50
Schaut man sich nun unseren Fall (angelehnt an OLG Celle NJW 2001, 2816) an, so hat das OLG dazu ausgeführt: "Selbst wenn er eigenverantwortlich die weitere Behandlung (...) abgelehnt haben sollte, ist dies unter Berücksichtigung der festgestellten Mortalitätsquote für die Operation von 5 bis 15 % nicht als offenkundig unvernünftig anzusehen. Dabei ist natürlich auch entscheidend, dass das Opfer durch die Operation FRÜHER sterben könnte, als ohne Operation. Deswegen kann eine Abwägung nach der prozentualen Wahrscheinlichkeiten des Überlebens nicht getroffen werden. LG ;)
Veterator
7.6.2021, 10:16:40
Hallo "Eigentum"! Zuerst: Echt cool, dass ihr tagesaktuell Urteile einarbeitet, finde die BGH-Erläuterung sogar noch hilfreicher. Stehe aber leider trotzdem auf dem Schlauch und wäre dankbar für Hilfe: Setzt R denn eine neue Ursache für das Versterben, wenn er nun einer OP zustimmen und bei dieser versterben würde? Die Gefahr, die A geschaffen hätte, hätte sich trotzdem verwirklicht, da R ohnehin bereits in Lebensgefahr schwebte und so keine (wie der BGH sagt) n e u e Gefahr schafft, oder? Du führst aus, dass R durch die OP früher versterben könnte als durch die unmittelbaren Unfallwunden. Liegt durch den früheren Eintritt bereits ein Dazwischentreten vor? Er verstirbt zwar letztlich nicht an den Unfallwunden. Aber dass er die Behandlung dieser annimmt, kann dem A nicht zum Vorteil werden, oder? Ansonsten könnte für ihn im Idealfall eine Strafbarkeit entfallen, weil man versucht, die Folgen seiner Handlung abzumildern. Das dürfte doch nur der Fall sein, wenn das Dazwischentreten von einigem Gewicht ist. Und das bemisst sich (hier) allein nach der offenkundigen Unvernunft, sprich zumindest nach dem Verhältnis der Überlebenschance mit OP oder ohne OP. Sprich bei der restriktiven Auslegung, die du nennst: Der
objektive Zurechnungszusammenhang könnte nur entfallen, wenn R die OP wählt, wenn seine Überlebenschancen ohne OP sehr hoch und mit OP sehr niedrig sind oder wenn er sie ablehnt, obwohl seine Chancen mit OP sehr hoch und ohne OP sehr niedrig sind, korrekt? Bei allen anderen Konstellationen, auch bei jeweils sehr hohen Mortalitätsquoten, wäre der Erfolg nie dem R als Dazwischentreten sondern stets dem A als Verursacher der ursprünglichen Gefahr zuzurechnen, oder? Also kommt es doch stark auf den Prozentsatz als Indikator für die Unvernunft des Dazwischentretens und nicht auf den früheren Eintritt an, oder? Hoffe, es wird klar, was ich meine und vielen Dank für die Hilfe. 😊
Johannes Nebe
11.6.2022, 11:56:30
Was EisbärIn schreibt, dass R ohne Operation zu 100 % gestorben wäre, gibt der Fall nicht her. Aber bedeutsam müsste die Wahrscheinlichkeit des Todes ohne Operation schon sein. Denn von ihr hängt dann der Grad des "unvernünftigen" Verhaltens des R ab.