Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Objektive Zurechnung

Freiverantwortliche Selbstgefährdung („Substitutionsfall“)

Freiverantwortliche Selbstgefährdung („Substitutionsfall“)

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Arzt A überlässt dem opiatabhängigen Patienten P einen Methadonvorrat zur eigenverantwortlichen Einnahme. P hat infolge langjähriger Methadoneinnahme Erfahrung. A weiß, dass P nicht stabil ist und nie die Tagesdosis einhält. P stirbt durch eine Überdosis.

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Einordnung des Falls

Substitutionsfall (BGH NJW 2014, 1680 – freiverantwortliche Selbstgefährdung)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Da A kraft überlegenen Fachwissens das Risiko besser erfasst hat als P, ist ihm der Erfolg trotz eigenverantwortlicher Selbstschädigung des P objektiv zuzurechnen.

Nein, das trifft nicht zu!

Eine die Zurechnung ausschließende eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers ist von der einverständlichen Fremdgefährdung abzugrenzen. Das Opfer gefährdet sich selbst, wenn es selbstgefährdende Handlungen vornimmt oder sich in eine schon bestehende Gefahr hineinbegibt und die Tatherrschaft nicht allein bei dem "Täter" liegt. Die Eigenverantwortlichkeit ist ausgeschlossen, wenn das Opfer infolge einer Intoxikation nicht mehr zu einer hinreichenden Risikobeurteilung fähig ist.Da P durch die langjährige Methadoneinnahme Erfahrung hatte, bestand auf Seiten des A keine Tatherrschaft kraft überlegenen Wissens.
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2. Bei einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Opfers ist dessen Tod dem Täter nicht objektiv zuzurechnen (solange der Täter keine Tatherrschaft hat).

Ja!

Objektiv zurechenbar ist ein Erfolg, wenn durch das Verhalten des Täters (1) eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen worden ist, die (2) sich im tatbestandsmäßigen Erfolg realisiert. Gefährdet das Opfer sich eigenverantwortlich selbst, realisiert sich im Erfolg keine vom Täter geschaffene rechtlich missbilligte Gefahr, sondern das vom Opfer eigenverantwortlich übernommene Risiko. Wer das zur Selbstverletzung führende eigenverantwortliche Handeln des Selbstschädigers vorsätzlich oder fahrlässig veranlasst, ermöglicht oder fördert, ist nicht strafbar. Ausnahme: Der Täter hatte kraft überlegenen Wissens Tatherrschaft.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Elijah

Elijah

29.3.2020, 17:49:59

A wusste, dass P nicht stabil ist und sich nicht an die Tagesdosis hält. Trotzdem gab er ihm einen Vorrat. Wieso ist ihm Ps Tod nicht zuzurechnen?

Marilena

Marilena

29.3.2020, 21:07:30

Hi Elijah, danke für Deinen Kommentar. Weil P langjährige Erfahrung und damit selbst Tatherrschaft hatte. Objektiv nicht zurechenbar ist ein Erfolg, der aus einer Ver- haltensweise entspringt, die erst zusammen mit einer eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstverletzung oder Selbstgefährdung des Opfers diesen tatbestandlichen Erfolg verwirklicht. Notwendig hierfür ist allerdings, dass das Opfer freiverantwortlich handelt und sich die Mitwirkung des Täters lediglich auf die bloße Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung der Selbstgefährdung bezieht. P hat sich eigenverantwortlich selbstgefährdet, sodass die

objektive Zurechnung

zu verneinen ist.

Elijah

Elijah

29.3.2020, 21:11:28

Hi Marilena, vielen Dank für deine Antwort. Wenn ich dich richtig verstehe, kommt es beim freiverantwortlichen Handeln nicht auf die (z. B. psychische) Gesundheit des Opfers an. Oder?

Marilena

Marilena

29.3.2020, 21:16:18

Gerne. Das Opfer muss zumindest noch zu einer hinreichenden Risikobeurteilung fähig sein, aber nicht unbedingt psychisch gesund, genau.

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

13.9.2022, 16:02:05

Ich verstehe es dennoch nicht… Wenn eine Verurteilung im Originalfall wegen der BtMG-§§ stattfand, muss doch zumindest diesbezüglich eine

objektive Zurechnung

bejaht worden sein? Der Fall von euch knüpft doch insoweit auch nicht an einen konkreten Straftatbestand an, sodass die oZ doch eigentlich auch hier bejaht werden müsste kraft überlegenen Wissens (Opfer ist nicht stabil).

S3T

S3tr

9.7.2020, 13:28:03

Wäre hier es nicht sinnvoll eine Garantenstellung 13 StGB anzuprüfen Tod durch Unterlassene Betreuung der Einnahme ?

DC20

dC20

6.8.2020, 09:53:48

Ich würde hier eher noch eine fahrlässige Tötung prüfen..?!🤔

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

29.4.2021, 17:19:44

Hallo ihr beiden, sowohl der Totschlag durch Unterlassen (§§ 212 I, 13 StGB) als auch die fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) sind in solchen Konstellationen durchaus denkbar. Insoweit kommt es - wie so häufig - auf die Nuancen des Einzelfalls. Vielleicht schon einmal vorweg, im Ausgangsfall wurde der Arzt zwar nicht wegen eines Tötungsdelikts, aber zumindest wegen unerlaubtem Verschreiben von Betäubungsmitteln in 125 Fällen verurteilt (§ 29 I 1 Nr. 6a BtMG iVm § 13 I BTMG). Im Hinblick auf eine Strafbarkeit wegen Totschlag durch Unterlassen, dürfte es vorliegend an einer Pflicht des Substitutionsarztes fehlen, die Patienten bei der Einnahme zu beaufsichtigen. Denn die eigenverantwortliche Einnahme soll hier ja gerade ohne Aufsicht erfolgen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

29.4.2021, 17:25:29

Richtiger Anknüpfungspunkt ist somit nicht die fehlende Beaufsichtigung, sondern die Herausgabe und Abgabe der Drogen. Dies ist indes ein aktives Handeln, weswegen hier durchaus fahrlässige Tötung in Betracht kommt. Insoweit hat der BGH indes explizit ausgeführt, dass die

eigenverantwortliche Selbstgefährdung

eine Verantwortlichkeit sowohl bei fahrlässigem als auch bei vorsätzlichem Verhalten ausschließt. Aus diesem Grund ist hier auch die fahrlässige Tötung nach § 222 StGB abzulehnen. Eine spannende Entscheidung zur eigenverantwortlichen Selbstgefährdung findet ihr auch bei BGH, NStZ 2016, 406 (GBL-Einnahme). Auch hier wurde zunächst ein Tötungsdelikt wegen bewusster Selbstgefährdung verneint. Durch die anschließende Untätigkeit des anwesenden "Täters" wurde letztlich aber

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

29.4.2021, 17:26:50

Totschlag durch Unterlassen in dieser Konstellation bejaht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Isabell

Isabell

10.11.2021, 09:51:44

"nicht stabil zu sein" beinhaltet keine sichere Prognose, dass unmittelbar eine Gefahr für den Patienten besteht. Es kann vorkommen, dass dieser Zustand längere Zeit besteht, ohne dass irgendetwas passiert.

Sassun

Sassun

20.10.2024, 17:31:32

Ist der Maßstab zur Prüfung der Eigenverantwortlichkeit nicht eigentlich umstritten? Exkulpations- & Einwilligungsl

ehre

wären doch zumindest zu nennen, obgleich ein Streit hier nicht unbedingt angelegt ist.

TI

Tim

29.10.2024, 19:41:50

Die

eigenverantwortliche Selbstgefährdung

stellt an sich ja ein die

objektive Zurechnung

ausschließendes Merkmal dar und wird deswegen im objektiven Tatbestand geprüft. Eine etwaige Einwilligung wird dagegen erst auf der Rechtfertigungs- bzw. Rechtswidrigkeitsebene relevant. Ich würde diese Begriffe also nicht vermengen. In der Klausur bietet es sich aus meiner Sicht an, zuerst zu überlegen, ob eine

eigenverantwortliche Selbstgefährdung

aufgrund überlegenen Täterwissens ausgeschlossen sein könnte. Wenn das nicht der Fall ist, ließe sich noch prüfen, ob der Täter oder das Opfer das Tatgeschehen stärker beherrscht hat. In Fällen, in denen das Opfer drogenabhängig ist, stellt sich das besondere Problem, ob allein aufgrund der durch die Abhängigkeit beeinflussten Wahrnehmung stets die Eigenverantwortlichkeit ausgeschlossen sein sollte. Das wird aber vom BGH mit dem Argument der unbilligen uferlosen Ausweitung der strafrechtlichen Zurechnung abgelehnt (BGH 1. StR 389/13). Der Prüfungsmaßstab soll sich also auch hier nach den (ggf. strittigen) Umständen des Einzelfalls richten.


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