Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Objektive Zurechnung

Freiverantwortliche Selbstgefährdung („Substitutionsfall“)

Freiverantwortliche Selbstgefährdung („Substitutionsfall“)

3. Juli 2025

22 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Arzt A überlässt dem opiatabhängigen Patienten P einen Methadonvorrat zur eigenverantwortlichen Einnahme. P hat infolge langjähriger Methadoneinnahme Erfahrung. A weiß, dass P nicht stabil ist und nie die Tagesdosis einhält. P stirbt durch eine Überdosis.

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Einordnung des Falls

Substitutionsfall (BGH NJW 2014, 1680 – freiverantwortliche Selbstgefährdung)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Da A kraft überlegenen Fachwissens das Risiko besser erfasst hat als P, ist ihm der Erfolg trotz eigenverantwortlicher Selbstschädigung des P objektiv zuzurechnen.

Nein, das trifft nicht zu!

Eine die Zurechnung ausschließende eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers ist von der einverständlichen Fremdgefährdung abzugrenzen. Das Opfer gefährdet sich selbst, wenn es selbstgefährdende Handlungen vornimmt oder sich in eine schon bestehende Gefahr hineinbegibt und die Tatherrschaft nicht allein bei dem "Täter" liegt. Eigenverantwortlich ist diese Selbstgefährdung nach der verbreiteten Ansicht der Einwilligungslösung, wenn der Entschluss des Opfers nach den Grundsätzen einer wirksamen Einwilligung nicht zu beanstanden, insbesondere frei von Willensmängeln ist. Die ebenfalls vertretene Exkulpationslösung schließt Eigenverantwortlichkeit erst dann aus, wenn das Opfer bei entsprechender Anwendung der §§ 19, 20, 35 StGB und § 3 JGG schuldlos wäre. Insbesondere ist Eigenverantwortlichkeit nach beiden Ansichten ausgeschlossen, wenn das Opfer infolge einer Intoxikation nicht mehr zu einer hinreichenden Risikobeurteilung fähig ist. Zwar hatte A überlegenes Fachwissen. P hatte jedoch durch die langjährige Einnahme hinreichende Erfahrung im Umgang und der Dosierung mit Methadon. Willensmängel sind nicht ersichtlich, Entschuldigungsgründe ebenfalls nicht. P handelte also sowohl nach der Einwilligungs- als auch nach der Exkulpationslösung eigenverantwortlich. Der Erfolg ist A daher nicht objektiv zuzurechnen.
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2. Bei einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Opfers ist dessen Tod dem Täter nicht objektiv zuzurechnen (solange der Täter keine Tatherrschaft hat).

Ja!

Objektiv zurechenbar ist ein Erfolg, wenn durch das Verhalten des Täters (1) eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen worden ist, die (2) sich im tatbestandsmäßigen Erfolg realisiert. Gefährdet das Opfer sich eigenverantwortlich selbst, realisiert sich im Erfolg keine vom Täter geschaffene rechtlich missbilligte Gefahr, sondern das vom Opfer eigenverantwortlich übernommene Risiko. Wer das zur Selbstverletzung führende eigenverantwortliche Handeln des Selbstschädigers vorsätzlich oder fahrlässig veranlasst, ermöglicht oder fördert, ist nicht strafbar. Ausnahme: Der Täter hatte kraft überlegenen Wissens Tatherrschaft.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Elijah

Elijah

29.3.2020, 17:49:59

A wusste, dass P nicht stabil ist und sich nicht an die Tagesdosis hält. Trotzdem gab er ihm einen Vorrat. Wieso ist ihm Ps Tod nicht zuzurechnen?

Marilena

Marilena

29.3.2020, 21:07:30

Hi Elijah, danke für Deinen Kommentar. Weil P langjährige Erfahrung und damit selbst Tatherrschaft hatte. Objektiv nicht zurechenbar ist ein Erfolg, der aus einer Ver- haltensweise entspringt, die erst zusammen mit einer eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstverletzung oder Selbstgefährdung des Opfers diesen tatbestandlichen Erfolg verwirklicht. Notwendig hierfür ist allerdings, dass das Opfer freiverantwortlich handelt und sich die Mitwirkung des Täters lediglich auf die bloße Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung der Selbstgefährdung bezieht. P hat sich eigenverantwortlich selbstgefährdet, sodass die objektive Zurechnung zu verneinen ist.

Elijah

Elijah

29.3.2020, 21:11:28

Hi Marilena, vielen Dank für deine Antwort. Wenn ich dich richtig verstehe, kommt es beim freiverantwortlichen Handeln nicht auf die (z. B. psychische) Gesundheit des Opfers an. Oder?

Marilena

Marilena

29.3.2020, 21:16:18

Gerne. Das Opfer muss zumindest noch zu einer hinreichenden Risikobeurteilung fähig sein, aber nicht unbedingt psychisch gesund, genau.

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

13.9.2022, 16:02:05

Ich verstehe es dennoch nicht… Wenn eine Verurteilung im Originalfall wegen der BtMG-§§ stattfand, muss doch zumindest diesbezüglich eine objektive Zurechnung bejaht worden sein? Der Fall von euch knüpft doch insoweit auch nicht an einen konkreten Straftatbestand an, sodass die oZ doch eigentlich auch hier bejaht werden müsste kraft überlegenen Wissens (Opfer ist nicht stabil).

N00B

n00b

16.3.2025, 09:15:39

Ich halte das hier für ein sehr unglückliches Beispiel.

BEN

benjaminmeister

12.4.2025, 10:53:29

Ich hadere ebenfalls: Das Opfer kann doch hier nicht zeitgleich instabil sein und trotzdem noch zu einer hinreichenden Risikobeurteilung fähig sein? Hier spricht mMn. doch viel mehr für eine Fremdgefährdung oder zumindest eine nicht-

eigenverantwortliche Selbstgefährdung

. Ganz anders dieser ähnliche JF-Fall: https://applink.jurafuchs.de/ZpsqTcEcvSb (dort wird auf das "nicht stabil" verzichtet und richtigerweise eine

eigenverantwortliche Selbstgefährdung

bejaht).

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

9.7.2020, 13:28:03

Wäre hier es nicht sinnvoll eine

Garantenstellung

13 StGB anzuprüfen Tod durch Unterlassene Betreuung der Einnahme ?

DC20

dC20

6.8.2020, 09:53:48

Ich würde hier eher noch eine fahrlässige Tötung prüfen..?!🤔

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

29.4.2021, 17:19:44

Hallo ihr beiden, sowohl der

Totschlag durch Unterlassen

(§§ 212 I, 13 StGB) als auch die fahrlässige Tötung (§

222 StGB

) sind in solchen Konstellationen durchaus denkbar. Insoweit kommt es - wie so häufig - auf die Nuancen des Einzelfalls. Vielleicht schon einmal vorweg, im Ausgangsfall wurde der Arzt zwar nicht wegen eines Tötungsdelikts, aber zumindest wegen unerlaubtem Verschreiben von Betäubungsmitteln in 125 Fällen verurteilt (§ 29 I 1 Nr. 6a BtMG iVm § 13 I BTMG). Im Hinblick auf eine Strafbarkeit wegen

Totschlag durch Unterlassen

, dürfte es vorliegend an einer Pflicht des Substitutionsarztes fehlen, die Patienten bei der Einnahme zu beaufsichtigen. Denn die eigenverantwortliche Einnahme soll hier ja gerade ohne Aufsicht erfolgen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

29.4.2021, 17:25:29

Richtiger Anknüpfungspunkt ist somit nicht die fehlende Beaufsichtigung, sondern die Herausgabe und Abgabe der Drogen. Dies ist indes ein aktives Handeln, weswegen hier durchaus fahrlässige Tötung in Betracht kommt. Insoweit hat der BGH indes explizit ausgeführt, dass die

eigenverantwortliche Selbstgefährdung

eine Verantwortlichkeit sowohl bei fahrlässigem als auch bei vorsätzlichem Verhalten ausschließt. Aus diesem Grund ist hier auch die fahrlässige Tötung nach §

222 StGB

abzulehnen. Eine spannende Entscheidung zur eigenverantwortlichen Selbstgefährdung findet ihr auch bei BGH, NStZ 2016, 406 (GBL-Einnahme). Auch hier wurde zunächst ein Tötungsdelikt wegen bewusster Selbstgefährdung verneint. Durch die anschließende Untätigkeit des anwesenden "Täters" wurde letztlich aber

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

29.4.2021, 17:26:50

Totschlag durch Unterlassen

in dieser Konstellation bejaht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Isabell

Isabell

10.11.2021, 09:51:44

"nicht stabil zu sein" beinhaltet keine sichere Prognose, dass unmittelbar eine Gefahr für den Patienten besteht. Es kann vorkommen, dass dieser Zustand längere Zeit besteht, ohne dass irgendetwas passiert.

LI

Lindasey

10.3.2025, 13:22:41

Es wäre hilfreich, wenn noch wie im Urteil im Beispielfall darauf hingedeutet werden würde, dass P nicht auf Grund von Entzugserscheinungen handelte und auch schon vorher über längere Zeiträume das Mittel nicht eingenommen hat. Ansonsten finde ich ist der Fall im Hinblick auf die Eigenverantwortlichkeit und der Beschreibung des P als instabil verwirrend und die Lösung macht erst durch das ausführliche Urteil Sinn.

julivis

julivis

24.6.2025, 08:14:04

Frage mich, wie man hier von Eigenverantwortlichkeit sprechen will. Dazu braucht es einen freien Willen, der ja auch gerade durch BGH Urteil bei psychisch erkrankten Menschen bzgl. des § 216 StGB angezweifelt wurde. Ich finde, eine Suchterkrankung lässt ähnliche Zweifel an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung!

Nadim Sarfraz

Nadim Sarfraz

24.6.2025, 17:58:56

Hi @[julivis](289523), guter Punkt! Das war einer der Gründe, weshalb die StA damals in die Revision gegangen ist und mit dem sich der BGH deshalb auch auseinanderzusetzen hatte. Im Ergebnis hat der BGH auf Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LG Berlin (an die er iRd rechtlichen Bewertung gebunden ist) keinen Willensmangel aufgrund der Suchtkrankheit gesehen (Rn. 83 f.): "Die Feststellungen ergeben auch keine auf Grund der allgemein bestehenden Opiatabhängigkeit oder den Folgen des der übermäßigen Methadoneinnahme vorausgehenden Strafvollzugs eingetretene Einschränkung der Fähigkeit des Patienten K, eigenverantwortlich das Risiko seines selbstgefährdenden Verhaltens einzuschätzen und abzuwägen. K stand bei der Einnahme des zum Tode führenden Methadons nicht unter dem Einfluss von Alkohol oder von unerlaubten Betäubungsmitteln. Ob eine relevante Einschränkung der Fähigkeit zu freiverantwortlicher Entscheidung über die Vornahme als risikoreich erkannten selbstgefährdenden Verhaltens bei Vorliegen von akuten körperlichen Entzugserscheinungen oder bei Angst vor solchen auf Grund früher erlebter Wirkungen des Entzugs eintreten kann, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Solche Umstände hat das Tatgericht nicht festgestellt. Die getroffenen Feststellungen erlauben auch keinen tragfähigen Rückschluss auf einen derartigen Zustand des Patienten nach seiner Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt am 29.8.2011. Die planmäßige Beschaffung eines größeren Vorrats des Substitutionsmittels unter Einschaltung seiner Ehefrau lässt unter Berücksichtigung der sonstigen Feststellungen keinen Schluss auf eine durch Suchtdruck – in dem vorgenannten Sinne – hervorgerufene Einschränkung der Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln im Umgang mit den verschriebenen Substitutionsmitteln zu. Ausweislich der mitgeteilten Ergebnisse der durchgeführten Drogentests hatte K auch bereits früher über längere Zeiten hinweg das Substitutionsmittel gerade nicht eingenommen. Der festgestellte Umfang des durch Tests nachgewiesenen (Bei-)Konsums verbotener Betäubungsmittel trägt zwar die Bewertung, der Patient sei unzuverlässig und daher nicht für das Take-Home-Verfahren geeignet. Anhaltspunkte dahingehend, dass der Patient die Kontrolle über sich und damit die Fähigkeit zu freiverantwortlicher, risikoabwägender Entscheidung verlieren werde, lassen sich dem jedoch nicht entnehmen." Festzuhalten ist, dass eine Suchterkrankung nicht automatisch zu einer willensausschließenden Konstitution des Geschädigten führt und damit eine

eigenverantwortliche Selbstgefährdung

weiterhin möglich ist. Im Einzelfall ist das aber (bei entsprechenden tatgerichtlichen Feststellungen) durchaus möglich. Liebe Grüße, Nadim für das Jurafuchs-Team

julivis

julivis

24.6.2025, 18:02:45

Danke für die ausführliche Antwort! Jedenfalls revisionsfest war es damit. Vielleicht könnte man ja noch in die Antworten aufnehmen, dass es in anderen Fällen ausgeschlossen sein kann. Mir fiel nur auf, dass es bei der eigenverantwortlichen Selbsthefährdung viele Fälle in die Richtung gab und es nie irgendwo erwähnt wurde, sich aber do aufgedrängt hat, es jedenfalls anzudenken (wad ja auch geschehen ist anscheinend). Aber das sprengt vermutlich den Rahmen mancher Aufgaben ☺️


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