Strafrecht
Strafrecht Allgemeiner Teil
Objektive Zurechnung
Freiverantwortliche Selbstgefährdung („Substitutionsfall“)
Freiverantwortliche Selbstgefährdung („Substitutionsfall“)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Arzt A überlässt dem opiatabhängigen Patienten P einen Methadonvorrat zur eigenverantwortlichen Einnahme. P hat infolge langjähriger Methadoneinnahme Erfahrung. A weiß, dass P nicht stabil ist und nie die Tagesdosis einhält. P stirbt durch eine Überdosis.
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Einordnung des Falls
Substitutionsfall (BGH NJW 2014, 1680 – freiverantwortliche Selbstgefährdung)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Da A kraft überlegenen Fachwissens das Risiko besser erfasst hat als P, ist ihm der Erfolg trotz eigenverantwortlicher Selbstschädigung des P objektiv zuzurechnen.
Nein, das trifft nicht zu!
Jurastudium und Referendariat.
2. Bei einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Opfers ist dessen Tod dem Täter nicht objektiv zuzurechnen (solange der Täter keine Tatherrschaft hat).
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Elijah
29.3.2020, 17:49:59
A wusste, dass P nicht stabil ist und sich nicht an die Tagesdosis hält. Trotzdem gab er ihm einen Vorrat. Wieso ist ihm Ps Tod nicht zuzurechnen?
Marilena
29.3.2020, 21:07:30
Hi Elijah, danke für Deinen Kommentar. Weil P langjährige Erfahrung und damit selbst Tatherrschaft hatte. Objektiv nicht zurechenbar ist ein Erfolg, der aus einer Ver- haltensweise entspringt, die erst zusammen mit einer eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstverletzung oder Selbstgefährdung des Opfers diesen tatbestandlichen Erfolg verwirklicht. Notwendig hierfür ist allerdings, dass das Opfer freiverantwortlich handelt und sich die Mitwirkung des Täters lediglich auf die bloße Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung der Selbstgefährdung bezieht. P hat sich eigenverantwortlich selbstgefährdet, sodass die
objektive Zurechnungzu verneinen ist.
Elijah
29.3.2020, 21:11:28
Hi Marilena, vielen Dank für deine Antwort. Wenn ich dich richtig verstehe, kommt es beim freiverantwortlichen Handeln nicht auf die (z. B. psychische) Gesundheit des Opfers an. Oder?
Marilena
29.3.2020, 21:16:18
Gerne. Das Opfer muss zumindest noch zu einer hinreichenden Risikobeurteilung fähig sein, aber nicht unbedingt psychisch gesund, genau.
ehemalige:r Nutzer:in
13.9.2022, 16:02:05
Ich verstehe es dennoch nicht… Wenn eine Verurteilung im Originalfall wegen der BtMG-§§ stattfand, muss doch zumindest diesbezüglich eine
objektive Zurechnungbejaht worden sein? Der Fall von euch knüpft doch insoweit auch nicht an einen konkreten Straftatbestand an, sodass die oZ doch eigentlich auch hier bejaht werden müsste kraft überlegenen Wissens (Opfer ist nicht stabil).
S3tr
9.7.2020, 13:28:03
Wäre hier es nicht sinnvoll eine Garantenstellung 13 StGB anzuprüfen Tod durch Unterlassene Betreuung der Einnahme ?
dC20
6.8.2020, 09:53:48
Ich würde hier eher noch eine fahrlässige Tötung prüfen..?!🤔
Lukas_Mengestu
29.4.2021, 17:19:44
Hallo ihr beiden, sowohl der Totschlag durch Unterlassen (§§ 212 I, 13 StGB) als auch die fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) sind in solchen Konstellationen durchaus denkbar. Insoweit kommt es - wie so häufig - auf die Nuancen des Einzelfalls. Vielleicht schon einmal vorweg, im Ausgangsfall wurde der Arzt zwar nicht wegen eines Tötungsdelikts, aber zumindest wegen unerlaubtem Verschreiben von Betäubungsmitteln in 125 Fällen verurteilt (§ 29 I 1 Nr. 6a BtMG iVm § 13 I BTMG). Im Hinblick auf eine Strafbarkeit wegen Totschlag durch Unterlassen, dürfte es vorliegend an einer Pflicht des Substitutionsarztes fehlen, die Patienten bei der Einnahme zu beaufsichtigen. Denn die eigenverantwortliche Einnahme soll hier ja gerade ohne Aufsicht erfolgen.
Lukas_Mengestu
29.4.2021, 17:25:29
Richtiger Anknüpfungspunkt ist somit nicht die fehlende Beaufsichtigung, sondern die Herausgabe und Abgabe der Drogen. Dies ist indes ein aktives Handeln, weswegen hier durchaus fahrlässige Tötung in Betracht kommt. Insoweit hat der BGH indes explizit ausgeführt, dass die
eigenverantwortliche Selbstgefährdungeine Verantwortlichkeit sowohl bei fahrlässigem als auch bei vorsätzlichem Verhalten ausschließt. Aus diesem Grund ist hier auch die fahrlässige Tötung nach § 222 StGB abzulehnen. Eine spannende Entscheidung zur eigenverantwortlichen Selbstgefährdung findet ihr auch bei BGH, NStZ 2016, 406 (GBL-Einnahme). Auch hier wurde zunächst ein Tötungsdelikt wegen bewusster Selbstgefährdung verneint. Durch die anschließende Untätigkeit des anwesenden "Täters" wurde letztlich aber
Lukas_Mengestu
29.4.2021, 17:26:50
Totschlag durch Unterlassen in dieser Konstellation bejaht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Isabell
10.11.2021, 09:51:44
"nicht stabil zu sein" beinhaltet keine sichere Prognose, dass unmittelbar eine Gefahr für den Patienten besteht. Es kann vorkommen, dass dieser Zustand längere Zeit besteht, ohne dass irgendetwas passiert.
Sassun
20.10.2024, 17:31:32
Ist der Maßstab zur Prüfung der Eigenverantwortlichkeit nicht eigentlich umstritten? Exkulpations- & Einwilligungsl
ehrewären doch zumindest zu nennen, obgleich ein Streit hier nicht unbedingt angelegt ist.
Tim
29.10.2024, 19:41:50
Die
eigenverantwortliche Selbstgefährdungstellt an sich ja ein die
objektive Zurechnungausschließendes Merkmal dar und wird deswegen im objektiven Tatbestand geprüft. Eine etwaige Einwilligung wird dagegen erst auf der Rechtfertigungs- bzw. Rechtswidrigkeitsebene relevant. Ich würde diese Begriffe also nicht vermengen. In der Klausur bietet es sich aus meiner Sicht an, zuerst zu überlegen, ob eine
eigenverantwortliche Selbstgefährdungaufgrund überlegenen Täterwissens ausgeschlossen sein könnte. Wenn das nicht der Fall ist, ließe sich noch prüfen, ob der Täter oder das Opfer das Tatgeschehen stärker beherrscht hat. In Fällen, in denen das Opfer drogenabhängig ist, stellt sich das besondere Problem, ob allein aufgrund der durch die Abhängigkeit beeinflussten Wahrnehmung stets die Eigenverantwortlichkeit ausgeschlossen sein sollte. Das wird aber vom BGH mit dem Argument der unbilligen uferlosen Ausweitung der strafrechtlichen Zurechnung abgelehnt (BGH 1. StR 389/13). Der Prüfungsmaßstab soll sich also auch hier nach den (ggf. strittigen) Umständen des Einzelfalls richten.