Gegenwärtigkeit der Gefahr: Umstritten ist jedoch, ob dabei auf die Sicht eines objektiven Betrachters oder aber auf tatsächliche Umstände abzustellen ist.


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Die B ext auf der Wiesn fünf Biermaß. Nun öffnet B das Auto und steckt den Schlüssel in die Zündung. B's Cousine C beobachtet sie den ganzen Abend. Damit B nicht mit dem Auto fährt, zieht C den Schlüssel und steckt ihn ein. Dabei wollte B nur ihren Rausch im warmen Auto ausschlafen.

Einordnung des Falls

Gegenwärtigkeit der Gefahr: Umstritten ist jedoch, ob dabei auf die Sicht eines objektiven Betrachters oder aber auf tatsächliche Umstände abzustellen ist.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Durch den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) entfällt das Unrecht der Tat und der Täter bleibt straffrei.

Ja, in der Tat!

In der Regel ist ein Verhalten rechtswidrig, sofern der gesetzliche Tatbestand erfüllt ist. Der Tatbestand indiziert die Rechtswidrigkeit (Ausnahme: sogenannte offene Tatbestände). Handelt der Täter allerdings gerechtfertigt, so liegt auch kein Unrecht mehr vor. Die Erfüllung des Tatbestandes wird im konkreten Fall gebilligt.

2. Der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) befasst sich ausschließlich mit dem Schutz von Allgemeingütern.

Nein!

Die in § 34 S. 1 StGB aufgezählten Rechtsgüter (Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum) stellen keine abschließende Regelung dar. So soll nach dem Wortlaut des § 34 S. 1 StGB auch ein anderes Rechtsgut geschützt sein. Nach der h.M. macht die Einbeziehung eines anderen Rechtsguts deutlich, dass auch Allgemeingüter als notstandsfähige Rechtsgüter gelten. Damit schützt der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) sowohl Individualrechtsgüter als auch Allgemeingüter.

3. Die Beurteilung einer Gefahr richtet sich unstreitig nach den tatsächlichen Umständen im Zeitpunkt der Notstandshandlung.

Nein, das ist nicht der Fall!

Ob im Zeitpunkt der Notstandhandlung eine Gefahr vorlag, wird nach unterschiedlichen Ansätzen geklärt. Es besteht nur Einigkeit darüber, dass die Gefahr nach einer ex-ante Sicht zu beurteilen ist. Damit ist es unerheblich, ob im Nachhinein gar keine Gefahr vorlag. Die Einzelheiten sind jedoch umstritten. So stellt sich zunächst die Frage, (1) auf welchen Maßstab für die Beurteilung einer Gefahr abzustellen ist. Die h.M. beurteilt die Situation aus der ex-ante Sicht eines verständigen Betrachters. Dagegen soll es nach einer anderen Ansicht auf die tatsächlichen Umstände im Tatzeitpunkt ankommen. Außerdem stellt sich die Frage, (2) auf wessen Beurteilungsmaßstab abzustellen ist. Die h.M. stellt auf das Urteil eines sachkundigen objektiven Beobachters ab, der über das gegebenenfalls vorhandene Sonderwissen des Notstandstäters verfügt. Andere Ansichten wollen bspw. auf das Urteil einer Person aus dem Verkehrskreis des Täters oder gar auf das gesamte menschliche Erfahrungswissen abstellen. Besteht aufgrund der tatsächlichen Umstände keine Gefahr, so liegt möglicherweise ein Erlaubnistatbestandsirrtum vor.

4. Für die Annahme einer gegenwärtigen Gefahr kommt es nach der h.M. auf die ex-ante-Beurteilung eines sachkundigen objektiven Beobachters an.

Ja, in der Tat!

Die h.M. bestimmt aus der ex-ante-Sicht, ob eine Gefahr vorlag. Bei der Beurteilung ist nach der h.M. auf das Urteil eines sachkundigen objektiven Beobachters abzustellen, der über das gegebenenfalls vorhandene Sonderwissen des Notstandstäters verfügt. Unerheblich ist, ob tatsächlich eine Gefahr vorlag. Als Argument für die h.M. kann angeführt werden, dass das Merkmal der Gefahr in § 34 StGB aus einer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung besteht. Aus diesem Grund sollte die Gefahrbeurteilung nicht vollkommen objektiviert werden. B steht unter Alkoholeinfluss und steckt den Schlüssel in die Zündung. Ein sachkundiger Beobachter würde eine Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs annehmen.

5. B's Ehemann ist durch einen alkoholisierten Autofahrer verunglückt. Daher fährt B nie betrunken. Dies ist C bekannt. Das Sonderwissen der C ist nach h.M. unbeachtlich.

Nein!

Nach der h.M. wird auf die Sicht eines sachkundigen objektiven Beobachters abgestellt, der über das gegebenenfalls vorhandene Sonderwissen des Notstandstäters verfügt. Unerheblich ist, ob tatsächlich eine Gefahr vorlag. C weiß, dass B nie betrunken fährt. Dieses Sonderwissen ist nach der h.M. beachtlich. Ein sachkundiger objektiver Beobachter, mit dem Wissen, dass B nie betrunken fährt, hätte keine Gefahr angenommen.

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Isabell

Isabell

20.12.2020, 16:53:27

Das finde ich wenig überzeugend. Denn eine Auswirkung von Alkohol ist schließlich, dass der Betrunkene nicht mehr vollständig rational denkt und daran sein Handeln ausrichtet. Andernfalls würde es ja an der Grundlage für die Annahme der verminderten Schuldfähigkeit nach Alkoholkonsum fehlen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

17.5.2021, 16:58:30

Hallo Isabell, dein Störgefühl lässt sich nach mE nach sehr gut hören. Allerdings kann ich mir ebenso gut vorstellen, dass bei einer derart einschneidenden Erfahrung, wie dem Verlust des eigenen Ehepartners durch einen Unfall, eingeübte Handlungsmuster - wie das Stehenlassen des eigenen Wagens bei Trunkenheit - auch im Zustand der Volltrunkenheit unbewusst noch aufrechterhalten werden. Hier fehlt mir indes die notwendige psychologische Expertise, um das abschließend beurteilen zu können. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Isabell

Isabell

17.5.2021, 17:04:52

Und plötzlich macht die "Entscheidung im Einzelfall" so viel Sinn. Auch wenn man es im Studium meist total unbefriedigend empfunden hat, wenn es darauf hinaus lief 😁

JLW

JLW

17.5.2021, 09:40:36

Zählt zu diesem Sonderwissen dann auch die Tatsache, dass B nur im warmen Auto schlafen wollte ?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

17.5.2021, 16:51:06

Hallo JLW, zu dem Sonderwissen zählen nur Umstände, von denen der Täter tatsächlich Kenntnis hat. Den Grund, warum B sich ins Auto begibt, kennt C aber gerade nicht. Sie weiß lediglich, dass B das Auto aufgrund ihrer traumatischen Erfahrung auf keinen Fall bewegen wird. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ri

ri

27.7.2021, 21:59:22

Kann mir jemand nochmal den Unterschied zwischen Unrecht und Unwert erklären?

Tigerwitsch

Tigerwitsch

27.7.2021, 23:42:53

Das „Unrecht“ meint die tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung selbst. Der Begriff fasst die drei Verbrechenskategorien (Handlung – Tatbestandsmäßigkeit – Rechtswidrigkeit) zusammen. Schuldhaftes Verhalten ist nicht erforderlich. Der Unwert wird in sog. Handlungs- und Erfolgsunwert aufgeteilt. Handlungsunwert = Unwert der verbotenen Handlung. Das Verhalten kann entweder vorsätzlich oder fahrlässig erfolgen. Vorsätzliches Verhalten lässt sich nochmals in Absicht, direkten Vorsatz und bedingten Vorsatz unterteilen. Ferner kann ein Verhalten leicht oder grob fahrlässig sein. Erfolgsunwert = die Handlung des Täters hat Folgen, die diesem zurechenbar sind. Darunter fallen sowohl eine konkrete Gefahr als auch ein Verletzungserfolg. Beispiel 1: Autofahrer A fährt zu schnell an einer unübersichtlichen Stelle; ihm kommt ein anderes Auto entgegen und kracht auf A. Beide werden verletzt. -> Handlungsunwert (+), da vorsätzliche Handlung des A. -> Erfolgsunwert (+), da konkrete Gefahr und sogar Verletzungserfolg. Beispiel 2: A schießt im Wald auf einem frequentierten Weg herum. Verletzt wird niemand. A ist allein. -> Handlungsunwert (+), da zumindest (grob) fahrlässiges Handeln des A. -> Erfolgsunwert (-), da A allein ist und keine Gefahr/Verletzungserfolg bestand.

QUIG

QuiGonTim

22.3.2022, 13:49:22

@[Tigerwitsch](2840) Danke, für die tolle Zusammenfassung. :)

Constanze.Jauch

Constanze.Jauch

21.2.2023, 11:46:20

Hallo liebes Jura-Fuchs-Team, da das Sonderwissen nach h.M. beachtlich ist führt es dazu, dass auch wenn C dieses Wissen hat (B fährt immer betrunken Auto) und sie nicht einschreitet und B dann einen Unfall baut, ich auch die Strafbarkeit der C dann prüfen muss? Z.B. nach § 222 StGB? Liebe Grüsse

Nora Mommsen

Nora Mommsen

21.2.2023, 15:50:32

Hallo Constanze.Jauch, danke für deine Frage. In dem Fall ist eine Schwierigkeit das Unterlassen von der Fahrlässigkeit abzugrenzen. In dem von dir beschriebenen Fall würde ich den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit im Unterlassen sehen, sodass lediglich eine Unterlassensstrafbarkeit in Betracht kommt. Diese setzt aber neben dem Unterlassen und der Möglichkeit der Vornahme der Handlung auch eine Garantenstellung voraus. Allein die Ehegattenstellung macht noch keinen Überwachergaranten aus. Ehegatten können zwar untereinander ähnliche Schutz- und Fürsorgepflichten wie gegenüber Kindern, allerdings nicht zum Schutz Dritter wenn der Ehepartner voll schuldfähig ist. Daher scheidet eine Strafbarkeit meines Erachtens für die Ehefrau aus. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Skywalker

Skywalker

6.2.2024, 18:13:34

Laut Rengier Strafrecht AT 14. Auflage soll nach der h.M. der Betrachter neben dem Sonderwissen des potenziellen Täters außerdem Kenntnis über die objektiven Umstände haben. Dies würde zwar mE nach im vorliegen Fall nichts ändern, weil die Absichten der Betrunkenen keine objektiven Umstände darstellen, allerdings ist insofern eure Definition nicht vollständig und leider auch irreführend. Die hM (laut Rengier) objektiviert nämlich gerade die Prüfung der Gefahrenlage während der Fall hier im Gesamtbild (konkret auch in der Argumentation für die Beurteilung) für eine weniger objektive Betrachtung spricht. Wenn ich die von Rengier benannte h.M. richtig verstehe und es auch die h.M. ist, würden sich lediglich unterschiede zur ex-post Betrachtung im Rahmen einer Prüfung bzgl. einer Notwehrlage ergeben, wenn wie hier subjektive Umstände die Gefahrenlage ausschließen. Würde beispielsweise die Polizei weniger Meter weiter bereitstehen (objektiver Umstand), um die Betrunkene aufzuhalten wäre eine Gefahrenlage von vorn herein zu verneinen.


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