Öffentliches Recht

Staatsorganisations-Recht

Wahlen und Wahlrechtsgrundsätze

Vereinbarkeit eines Kommunalwahlrechts für Minderjährige mit dem GG (BVerwG, 13.06.2018)

Vereinbarkeit eines Kommunalwahlrechts für Minderjährige mit dem GG (BVerwG, 13.06.2018)

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

S ist 16 Jahre alt und Bürgerin in der Stadt A in NRW. S geht zur Kommunalwahl, um von ihrem aktiven Wahlrecht Gebrauch zu machen. In der Schlange am Wahllokal trifft S den Greis G. G ist der Meinung, „Kinder“ dürften nicht wählen. Das sei seiner Ansicht nach „nicht rechtens“.

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Einordnung des Falls

Vereinbarkeit eines Kommunalwahlrechts für Minderjährige mit dem GG (BVerwG, 13.06.2018)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. In vielen Bundesländern ist das Mindestwahlalter für Kommunalwahlen auf 16 Jahre festgelegt. Diese Gesetze müssten verfassungsgemäß sein.

Genau, so ist das!

Eine Kommunalwahl ist eine Wahl in einer Gemeinde bzw. Stadt. Gewählt wird der Gemeinde- oder der Stadtrat sowie ein (Ober)Bürgermeister oder eine (Ober)Bürgermeisterin. Auch unter die Kommunalwahlen fallen die Wahlen der kommunalen Vertretungen in den Landkreisen, also des Landrats bzw. der Landrätin sowie der Mitglieder des Kreistags. Die Regeln für die Kommunalwahlen werden in Landesgesetzen konkretisiert. In vielen Bundesländern können deutsche Staatsbürger (sowie EU-Bürger) mit festem Wohnsitz in der Gemeinde bereits ab 16 Jahren an Kommunalwahlen teilnehmen, z.B. in Brandenburg (§ 8 BbgKWahlG) oder in Nordrhein-Westfalen (§ 7 KWahlG). In anderen Bundesländern darf erst ab 18 Jahren gewählt werden.
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2. Minderjährige gehören nicht zum Staatsvolk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG, mit der Folge, dass das aktive Kommunalwahlrecht für Minderjährige gegen Art. 20 Abs. 2 GG verstößt.

Nein, das trifft nicht zu!

Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG bestimmt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Nach Art. 20 Abs. 2 GG wird die Staatsgewalt vom Volke unter anderem in Wahlen ausgeübt. Nach der Rspr. des BVerwG lasse sich aus Art. 20 Abs. 2 GG i.V.m. der Präambel des GG und Art. 116 Abs. 1 GG zwar erkennen, dass die Zugehörigkeit zum Staatsvolk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG allein durch die deutsche Staatsangehörigkeit vermittelt wird. Aus Art. 20 Abs. 2 GG lasse sich jedoch nicht ableiten, das Staatsvolk bestehe nur aus deutschen Staatsangehörigen, die mindestens 18 Jahre alt seien.

3. Das aktive Kommunalwahlrecht für Minderjährige verstößt gegen Art. 38 Abs. 2 GG.

Nein!

Art. 38 Abs. 2 GG enthält eine grundgesetzliche Altersgrenze nur für Bundestagswahlen. Eine Altersgrenze für das Wahlrecht auf Landesebene sieht das GG nicht vor. Länder, Kreise und Gemeinden müssen eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG). Die Ausgestaltung des Landeswahlrechts obliegt den Ländern im Rahmen der Grenzen des Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG.

4. Das aktive Kommunalwahlrecht für Minderjährige verstößt gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG).

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl untersagt den unberechtigten Ausschluss von Staatsbürgern von der Teilnahme an der Wahl, insbesondere aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen. Für Wahlen auf Landesebene ergibt sich der Grundsatz aus Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG. Er entspricht inhaltlich jedoch Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Mangels Regelung zum Wahlalter steht dem Landesgesetzgeber ein Einschätzungsspielraum zu. Voraussetzung für die Teilnahme der Wahl ist aber eine hinreichende Verstandesreife des Wählenden, denn diese ist in einer Demokratie notwendige Voraussetzung für die Teilnahme am politischen Diskurs und eine rationale Wahlentscheidung. Es ist allerdings nicht ersichtlich, dass Bürgern, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, eine solche Verstandesreife fehlt.

5. Das aktive Kommunalwahlrecht für Minderjährige verstößt gegen einfaches Bundesrecht, etwa §§ 107ff. BGB und § 62 VwGO.

Nein, das trifft nicht zu!

Diese einfachgesetzlichen Vorschriften beinhalten keinen Maßstab für die Regelung des Wahlalters im Kommunalwahlrecht. Aus ihnen lässt sich zudem kein allgemeiner Rechtsgrundsatz ableiten, dass Minderjährigen keine von ihnen selbst wahrzunehmenden Rechte eingeräumt werden dürfen. Insbesondere verlangt das Bundesrecht keinen auf allen Gebieten des privaten und des öffentlichen Rechts gleich gestalteten Minderjährigenschutz. Das aktive Kommunalwahlrecht für Minderjährige, die das 16. Lebensjahr vollendet hatten, ist insgesamt verfassungsgemäß.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

G0D0FM

G0d0fMischief

15.10.2024, 12:01:54

Durch die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre wird doch einer größeren Zahl von Staatsbürgern das Recht zur Teilnahme an den Kommunalwahlen ermöglicht. Oder liegt das Argument darin, dass eine unberechtigte Benachteiligung aller unter 16jährigen vorliegen könnte?

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

25.10.2024, 18:44:25

Hey @[G0d0fMischief](217996), danke für die Frage. Du liegst mit dem Gefühl, dass die Möglichkeit eines Verstoß gegen die Allgemeinheit der Wahl sich in diesem Fall nicht wirklich aufdrängt, sehr richtig. Deswegen hat das BVerwG einen solchen auch abgelehnt. Der Verstoß wird geprüft, weil die Klägerin im Originalfall die Verfassungswidrigkeit des Kommunalwahlrechts für 16-Jährige unter anderem mit einem Verstoß gegen die Allgemeinheit der Wahl begründet hat. Das Urteil des BVerwG lässt darauf schließen, dass die Klägerin den Verstoß gegen die Allgemeinheit der Wahl mit der fehlenden „Verstandsreife“ von 16-Jährigen begründet hat. Dass diejenigen, die Wählen können, eine gewisse Verstandsreife haben müssen, ergibt sich zwar nicht aus dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl direkt, muss aber bei der Erfüllung dieses Grundsatzes beachtet werden. Die „Allgemeinheit“ wird also auf die „reife Allgemeinheit“ beschränkt. Siehe hierzu die folgende Stelle aus dem Urteil: „Die Umsetzung und Konkretisierung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl obliegt - mangels einer Regelung des Mindestalters bei Kommunalwahlen im Verfassungsrecht selbst - dem Landesgesetzgeber, dem dabei, wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, ein Einschätzungsspielraum eröffnet ist. Der Gesetzgeber hat in diesem Rahmen das Kommunalwahlrecht in einer Weise auszugestalten, die auch anderen Verfassungsprinzipien hinreichend Geltung verschafft. Damit ist der Gesetzgeber von Verfassungs wegen gehalten, in typisierender Weise eine hinreichende Verstandesreife zur Voraussetzung des aktiven Stimmrechts zu machen, weil dadurch dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes Rechnung getragen wird. Denn Demokratie lebt vom Austausch sachlicher Argumente auf rationaler Ebene.“ (RdNr. 14) Da es aber laut BVerwG gerade nicht erkennbar ist, dass 16-Jährige die nötige Verstandsreife nicht für eie Kommunalwahl nicht besitzen, kommt das BVerwG zu dem Ergebnis, dass das Wahlrecht verfassungsmäßig ist. Ich hoffe, ich konnte dir damit weiterhelfen. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team

G0D0FM

G0d0fMischief

28.10.2024, 11:29:42

@[Linne_Karlotta_](243622) vielen Dank für die ausführliche Antwort!! :)


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