Rücknahme eines begünstigenden VAs: Vertrauensschutz vs. öffentliches Rücknahmeinteresse


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Carlotta Calathea (C) will in ihrem Garten ein mehrstöckiges Tropenhaus errichten. Nachdem Baubehörde B ihr zunächst die erforderliche Baugenehmigung erteilt hat, bemerkt B, dass das Bauvorhaben unvereinbar mit dem Baurecht ist. B nimmt die Baugenehmigung deswegen zurück.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts ist - im Vergleich zur Rücknahme eines belastenden Verwaltungsakts - nur eingeschränkt möglich.

Ja!

Will die Behörde einen begünstigenden Verwaltungsakt zurücknehmen, ist das aus Sicht des Adressaten grundsätzlich nachteilig. Die Rücknahme eines belastenden Verwaltungsakts hingegen ist für den Bürger in der Regel vorteilhaft. Die Regeln des § 48 VwVfG funktionieren im Sinne dieser Annahme: Während die Behörde einen belastenden Verwaltungsakt jederzeit zurücknehmen darf (§ 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG), kann die Behörde einen begünstigenden Verwaltungsakt (Legaldefinition in § 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG) nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 48 Abs. 2-4 VwVfG zurücknehmen.

2. Die Baugenehmigung ist ein belastender Verwaltungsakt.

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein belastender Verwaltungsakt liegt vor, wenn die getroffene Regelung nachteilig für den Bürger ist. Dagegen liegt ein begünstigender Verwaltungsakt vor, wenn dieser ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt (§ 48 Abs. 1 S. 2 VwVfG). Durch die Baugenehmigung wird das Bauvorhaben der C einerseits als materiell rechtmäßig anerkannt (= Legalisierungswirkung), andererseits gestattet sie C, mit ihrem Bauvorhaben anzufangen (= Gestattungswirkung). Die Genehmigung ist rechtlich vorteilhaft und damit ein begünstigender Verwaltungsakt. Die Subsumtion kann in einem unproblematischen Fall wie hier noch knapper ausfallen.

3. Cs Interesse am Fortbestand der Begünstigung steht dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts gegenüber.

Ja, in der Tat!

Die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakt trifft den Adressaten besonders hart, wenn er auf den Fortbestand der Begünstigung vertraut hat. Andererseits besteht ein öffentliches Interesse daran, dass rechtswidrige Verwaltungsakte nicht länger bestehen bleiben, sondern zurückgenommen werden. Die Behörde muss die beiden widerstreitenden Interessen gegeneinander abwägen, wenn sie den Verwaltungsakt zurücknehmen will. Eine Rücknahme ist nur dann möglich, wenn das öffentliche Interesse überwiegt. Die Details der Abwägung regelt § 48 Abs. 2, Abs. 3 VwVfG. B kann die Baugenehmigung nur zurücknehmen, wenn das öffentliche Rücknahmeinteresse überwiegt. Der Vertrauensschutz ist ein allgemeiner, rechtsstaatlicher Grundsatz. Nach der wohl h.M. ist dieser deswegen auch außerhalb des Anwedungsbereichs von § 48 Abs. 2 VwVfG im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen und nicht erst im Rahmen der Entscheidung über eine Entschädigung nach § 48 Abs. 3 VwVfG.

4. Die Rücknahme von Cs Baugenehmigung unterliegt den Einschränkungen des § 48 Abs. 2 VwVfG.

Nein!

§ 48 Abs. 2-4 VwVfG normiert Einschränkungen der Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte. § 48 Abs. 2 VwVfG regelt die Rücknahme von Verwaltungsakten, die einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistungen gewähren. Hat der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut und ist sein Vertrauen schutzwürdig, ist die Rücknahme ausgeschlossen. Auch für sonstige Verwaltungsakte – die nicht unter § 48 Abs. 2 fallen – müssen Aspekte des Vertrauensschutzes berücksichtigt werden. Dies ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip. Die Baugenehmigung gewährt keine Geldleistung oder teilbare Sachleistung. Dennoch muss die Behörde bei der Ermessensentscheidung der Schutz von Cs Vertrauen berücksichtigen. Bei der Abwägung können die Kriterien aus § 48 Abs. 2 S. 2, 3 VwVfG als Ausdruck eines allgemeingültigen Grundsatzes entsprechend herangezogen werden.

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GO

gova

15.5.2024, 16:10:06

Ihr schreibt in der Antwort zur vorletzten Frage, dass B die Baugenehmigung nur zurücknehmen kann, wenn das öffentliche Rücknahmeinteresse überwiegt. Aber ist diese Prüfung bei einer Baugenehmigung als sonstiger VA iSd. § 48 III VwVfG nicht gerade entbehrlich? Abs. 3 regelt nicht die Rücknahme, sondern den (möglicherweise) daraus entstehenden Entschädigungsanspruch.

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

7.6.2024, 11:15:06

Hallo @[gova](211395)! Danke für Deine Nachfrage. Es stimmt, dass § 48 Abs. 3 VwVfG sich wörtlich nur auf den Entschädigungsanspruch bezieht und unsere Antwort hier in der Tat etwas missverständlich ist. Allerdings spielen die Kriterien des Vertrauensschutzes aus § 48 Abs. 3 VwVfG nach wohl h.M. bereits bei der Ermessensentscheidung, ob der Verwaltungsakt zurückgenommen werden soll oder nicht, eine entscheidende Rolle. Die Prüfung, ob der Vertrauensschutz das öffentliche Rücknahmeinteresse überwiegt, ist aus Gründen der rechtsstaatlichen Bedeutung des Vertrauensschutzes also auch bei der Rücknahme von Verwaltungsakten vorzunehmen, die nicht unter § 48 Abs. 2 VwVfG fallen (siehe dazu auch: Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17.A. 2019, RdNr. 705). Bei der Abwägung können die Kriterien aus § 48 Abs. 2 S. 2, S. 3 VwVfG als allgemein gültige Grundsätze herangezogen werden. Wir haben die Thematik in der Aufgabe jetzt konkretisiert, damit es verständlicher ist. Ich hoffe, ich konnte Dir damit weiterhelfen. Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team


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