Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Fahrlässigkeit

Verantwortungsbereich Dritter, Schulterluxations-Fall

Verantwortungsbereich Dritter, Schulterluxations-Fall

31. Mai 2025

9 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die B fährt O unter Missachtung von dessen Vorrang am Zebrastreifen an. Zur Behandlung der so erlittenen Schulterluxation spritzt die Ärztin A dem O ein Muskelerschlaffungsmittel, ohne ihn jedoch an ein Beatmungsgerät anzuschließen. O erstickt aufgrund der Lähmung seiner Atemmuskulatur.

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Einordnung des Falls

Verantwortungsbereich Dritter, Schulterluxations-Fall

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Relevante Tathandlung der A ist das Unterlassen, den O an das Beatmungsgerät anzuschließen (§ 13 StGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine tauglich Tathandlung ist jedes menschliche Verhalten. Unterschieden wird zwischen aktivem Tun und Unterlassen. Abgrenzungskriterium ist dabei der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit. Das fehlende Anschließen an ein Beatmungsgerät entfaltet nur durch die vorherige Verabreichung des Muskelrelaxanz seine tödliche Wirkung. Abzustellen ist daher auf das Spritzen des Mittels als aktives Tun.
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2. A hat sich wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht, indem sie O das Muskelrelaktionsmittel spritzte (§ 222 StGB).

Ja, in der Tat!

Indem A entgegen der Regeln der ärztlichen Kunst den O nach Verabreichung des Muskelrelaxanz nicht an ein Beatmungsgerät anschloss, verhielt sie sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig und verursachte objektiv zurechenbar den für einen durchschnittlichen Arzt nicht unvorhersehbaren Tod des O. Dabei ist davon auszugehen, dass A auch nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen in der Lage war, die Sorgfaltsregeln zu erfüllen und den Tod vorherzusehen.

3. Auch B hat den Tod des O kausal herbeigeführt (§ 222 StGB).

Ja!

Nach der Äquivalenztheorie (= conditio-sine-qua-non-Formel) ist eine Handlung kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.Hätte B den O nicht angefahren, wäre dieser nicht ins Krankenhaus gebracht und dort der fehlerhaften und tödlichen Behandlung durch A unterzogen worden.

4. B hat sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig verhalten.

Genau, so ist das!

Der einschlägige Sorgfaltsmaßstab ergibt sich aus § 26 Abs. 1 S. 1, 2 StVO.Danach müssen Fahrzeuge an Fußgängerüberwegen den zu Fuß Gehenden das Überqueren der Fahrbahn ermöglichen und dafür, wenn nötig, warten. B hat am Zebrastreifen den Vorrang des O indes missachtet.

5. Die hM. sieht den Zurechnungszusammenhang zwischen dieser Sorgfaltspflichtverletzung und dem Tod des O allerdings als unterbrochen an.

Ja, in der Tat!

Bei tödlichen Folgen ärztlicher Behandlungsfehler differenziert die hM. für die Zurechnung des Erfolgs zum Ausgangstäter nach der Schwere der ärztlichen Verfehlung. Bei groben Kunstfehlern geht sie von einer Verschiebung der Verantwortungsbereiche aus. Indes bleibt bei leichten Fehlern die Zurechnung des Todeserfolgs zum Ausgangstäter bestehen. Mit letzteren Fehlleistungen sei nämlich grundsätzlich zu rechnen. Das Spritzen des Muskelrelaxans ohne anschließende Beatmung ist als gravierendes Fehlverhalten der A einzustufen, sodass der Erstickungstod des O der B nicht mehr zugerechnet werden kann.

6. Nach aA. ist indes maßgeblich, ob der Arzt eine neue Gefahrenquelle eröffnet oder lediglich die Ausgangsgefahr nicht abwendet.

Ja!

Teile der Literatur schließen eine Zurechnung des Todeserfolgs zum Ausgangstäter dann aus, wenn der Tod durch eine vom Arzt eröffnete neue Gefahrenquelle eintritt. Indes bleibt die Zurechnung erhalten, wenn der Arzt die Ausgangsgefahr aufgrund des Behandlungsfehlers nicht abwendet. Der Erstickungstod stellt sich nicht als Realisierung der von B durch das Anfahren geschaffenen Gefahr dar. Vielmehr schuf A die gänzlich neue Gefahr des Erstickungstods erst durch ihr Verhalten, sodass auch nach dieser Ansicht eine Zurechnung nicht erfolgen kann. Ein Streitentscheid ist somit entbehrlich. In der Klausur ist die verbleibende Strafbarkeit des B nach § 229 StGB zu beachten.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

BL

Blotgrim

27.5.2022, 10:16:50

Warum wird hier das verabreichen des Mittels als relevante Handlung in der ersten Frage angesehen ? Hätte man das Opfer an ein Beatmungsgerät angeschlossen wäre ja nichts passiert. Oder ließe sich beides vertreten, man kommt am Ende ja zum selben Ergebnis ?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

21.6.2022, 11:49:56

Hallo Blotgrim, die Abgrenzung zwischen Strafbarkeit durch Tun oder Unterlassen erfolgt nach dem

Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit

. Danach ist an dieser Stelle die erste Handlung relevant, da dadurch die Gefahr des Erstickungstodes durch Lähmung der Atemmuskulatur geschaffen wird. Ohne die Spritze hätte es ja gar nicht erst des Beatmungsgerätes bedurft. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team.

FUCH

Fuchsfrauchen

29.8.2023, 23:07:01

Ich finde diese Fälle irgendwie frustrierend. Die Spritze zu setzen war nach ärztlicher Kunst genau richtig - nur das nicht anschließen des Beatmungsgeräts war doch das Problem und mE liegt hier der

Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit

.

Rechtsanwalt B. Trüger

Rechtsanwalt B. Trüger

6.1.2025, 15:31:51

Ich sehe es wie @[Fuchsfrauchen](89264)! Ich verstehe den Sachverhalt auch so, dass die Spritze medizinisch angebracht/nötig war. mMn liegt der

Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit

nicht im Spritzen ohne Anschluss an das Beatmungsgerät (aktives Tun), sondern im bloßen Unterlassen des Anschließen. Andernfalls könnte man gefühlt jeden Sachverhalt/jede

Vorwerfbarkeit

dahingehend ausweiten, dass man die unterlassene Handlung mit in das aktive Tun hineinzieht, und der

Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit

in solchen Fällen nie im Unterlassen liegen würde. Dies könnte in jedem Fall zu folgender Rechnung führen: Spritzen/aktives Tun + kein Anschluss ans Gerät/Unterlassen = i.E. aktives Tun mMn muss man den Fall hier aufspalten und auf das Unterlassen abstellen. Gerne könnt Ihr mich mit entsprechender Erklärung vom Gegenteil hier überzeugen:)

BEN

benjaminmeister

12.4.2025, 11:15:51

Ich finde den Fall auch tricky. Es gibt ja das Beispiel mit den Operationen durch einen Herzchirugen, der mehrere Patienten mit Hepatits B infiziert, weil er sich vorher (!) nicht untersuchen lassen hat. Der

Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit

wird allgemein beim aktiven Tun, nämlich der Vornahme der Operation ohne die vorherige Untersuchung gesehen. Das ergibt Sinn, weil hätte er nicht operiert, wäre die Nichtvornahme der eigenen Untersuchung nicht vorwerfbar. Hier liegt der Fall aber mMn. anders (in Übereinstimmung mit den guten Ausführungen von @[Rechtsanwalt B. Trüger](208842)): Die Spritze war medizinisch angebracht und kann nicht vorwerfbar sein. Erst der danach gebotene Anschluss an die Maschine wurde unterlassen (!) und ist vorwerfbar. Das kann man auch super mit den Baustellenfälle vergleichen: Das Schaffen der Gefahrenquelle "genehmigte Baustelle" ist nicht vorwerfbar. Vorwerfbar ist nur, dass es unterlassen wurde die Gefahrenquelle anschließend ausreichend zu sichern. Da würde auch niemand auf die Idee kommen und die

Vorwerfbarkeit

darin sehen, dass jemand eine (genehmigte aber ungesicherte) Baustelle erschaffen hat, sondern eben im nachträglichen Unterlassen der ausreichenden Sicherung. Vielleicht kann hier jemand nochmal drüber schauen @[Sebastian Schmitt](263562).

MerkurMagie

MerkurMagie

5.5.2025, 10:56:45

@[Rechtsanwalt B. Trüger](208842) Ich finde es aber auch interessant, dass alle hier im Thread direkt annehmen, dass die Betäubung mit einem derart starken Mittelchen lege artis ist. Ich bin offensichtlich kein Arzt, gehe aber davon aus, dass hier nicht allgemeingültig davon ausgegangen werden darf, dass diese zwingend

erforderlich

ist. Ausgehend von diesem Überlegung ist es wiederum deutlich naheliegender, diese Betäubung als Tathandlung heranzuziehen, da diese grundsätzlich die Gefahr der Atemweglähmung schafft und auch nicht als nach lege Artis zwingende Gefahrverringerung angesehen werden kann.

BEN

benjaminmeister

5.5.2025, 16:16:34

@[MerkurMagie](205550) ich finde aus dem Sachverhalt geht es - mangels anderweitiger Hinweise und weil von "zur Behandlung" die Rede ist - schon deutlich hervor, dass die Spritze lege artis sein muss und nur das unterlassene Anschließen an die Beatmungsmachine ein Behandlungsfehler ist. Bei so Arztfällen sollten wir uns schon darauf verlassen können, dass im Sachverhalt ausdrücklich erwähnt wird, wenn etwas "zur Behandlung" zwar subjektiv gewollt ist aber objektiv diese Behandlung falsch/nicht zielführend ist. Das ist hier gerade nicht der Fall. Kritisiert wird im Sachverhalt nur das Unterlassen der Beatmung und der darauf basierende Atemstillstand. Das die Spritze ansich falsch ist, kann man als medizinischer Laie im Sachverhalt nirgends erkennen.


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