Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Fahrlässigkeit

Verantwortungsbereich Dritter, Schulterluxations-Fall

Verantwortungsbereich Dritter, Schulterluxations-Fall

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die B fährt O unter Missachtung von dessen Vorrang am Zebrastreifen an. Zur Behandlung der so erlittenen Schulterluxation spritzt die Ärztin A dem O ein Muskelerschlaffungsmittel, ohne ihn jedoch an ein Beatmungsgerät anzuschließen. O erstickt aufgrund der Lähmung seiner Atemmuskulatur.

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Einordnung des Falls

Verantwortungsbereich Dritter, Schulterluxations-Fall

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Relevante Tathandlung der A ist das Unterlassen, den O an das Beatmungsgerät anzuschließen (§ 13 StGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine tauglich Tathandlung ist jedes menschliche Verhalten. Unterschieden wird zwischen aktivem Tun und Unterlassen. Abgrenzungskriterium ist dabei der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit. Das fehlende Anschließen an ein Beatmungsgerät entfaltet nur durch die vorherige Verabreichung des Muskelrelaxanz seine tödliche Wirkung. Abzustellen ist daher auf das Spritzen des Mittels als aktives Tun.
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2. A hat sich wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht, indem sie O das Muskelrelaktionsmittel spritzte (§ 222 StGB).

Ja, in der Tat!

Indem A entgegen der Regeln der ärztlichen Kunst den O nach Verabreichung des Muskelrelaxanz nicht an ein Beatmungsgerät anschloss, verhielt sie sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig und verursachte objektiv zurechenbar den für einen durchschnittlichen Arzt nicht unvorhersehbaren Tod des O. Dabei ist davon auszugehen, dass A auch nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen in der Lage war, die Sorgfaltsregeln zu erfüllen und den Tod vorherzusehen.

3. Auch B hat den Tod des O kausal herbeigeführt (§ 222 StGB).

Ja!

Nach der Äquivalenztheorie (= conditio-sine-qua-non-Formel) ist eine Handlung kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.Hätte B den O nicht angefahren, wäre dieser nicht ins Krankenhaus gebracht und dort der fehlerhaften und tödlichen Behandlung durch A unterzogen worden.

4. B hat sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig verhalten.

Genau, so ist das!

Der einschlägige Sorgfaltsmaßstab ergibt sich aus § 26 Abs. 1 S. 1, 2 StVO.Danach müssen Fahrzeuge an Fußgängerüberwegen den zu Fuß Gehenden das Überqueren der Fahrbahn ermöglichen und dafür, wenn nötig, warten. B hat am Zebrastreifen den Vorrang des O indes missachtet.

5. Die hM. sieht den Zurechnungszusammenhang zwischen dieser Sorgfaltspflichtverletzung und dem Tod des O allerdings als unterbrochen an.

Ja, in der Tat!

Bei tödlichen Folgen ärztlicher Behandlungsfehler differenziert die hM. für die Zurechnung des Erfolgs zum Ausgangstäter nach der Schwere der ärztlichen Verfehlung. Bei groben Kunstfehlern geht sie von einer Verschiebung der Verantwortungsbereiche aus. Indes bleibt bei leichten Fehlern die Zurechnung des Todeserfolgs zum Ausgangstäter bestehen. Mit letzteren Fehlleistungen sei nämlich grundsätzlich zu rechnen. Das Spritzen des Muskelrelaxans ohne anschließende Beatmung ist als gravierendes Fehlverhalten der A einzustufen, sodass der Erstickungstod des O der B nicht mehr zugerechnet werden kann.

6. Nach aA. ist indes maßgeblich, ob der Arzt eine neue Gefahrenquelle eröffnet oder lediglich die Ausgangsgefahr nicht abwendet.

Ja!

Teile der Literatur schließen eine Zurechnung des Todeserfolgs zum Ausgangstäter dann aus, wenn der Tod durch eine vom Arzt eröffnete neue Gefahrenquelle eintritt. Indes bleibt die Zurechnung erhalten, wenn der Arzt die Ausgangsgefahr aufgrund des Behandlungsfehlers nicht abwendet. Der Erstickungstod stellt sich nicht als Realisierung der von B durch das Anfahren geschaffenen Gefahr dar. Vielmehr schuf A die gänzlich neue Gefahr des Erstickungstods erst durch ihr Verhalten, sodass auch nach dieser Ansicht eine Zurechnung nicht erfolgen kann. Ein Streitentscheid ist somit entbehrlich. In der Klausur ist die verbleibende Strafbarkeit des B nach § 229 StGB zu beachten.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

BL

Blotgrim

27.5.2022, 10:16:50

Warum wird hier das verabreichen des Mittels als relevante Handlung in der ersten Frage angesehen ? Hätte man das Opfer an ein Beatmungsgerät angeschlossen wäre ja nichts passiert. Oder ließe sich beides vertreten, man kommt am Ende ja zum selben Ergebnis ?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

21.6.2022, 11:49:56

Hallo Blotgrim, die Abgrenzung zwischen Strafbarkeit durch Tun oder Unterlassen erfolgt nach dem Schwerpunkt der

Vorwerfbarkeit

. Danach ist an dieser Stelle die erste Handlung relevant, da dadurch die Gefahr des Erstickungstodes durch Lähmung der Atemmuskulatur geschaffen wird. Ohne die Spritze hätte es ja gar nicht erst des Beatmungsgerätes bedurft. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team.

FUCH

Fuchsfrauchen

29.8.2023, 23:07:01

Ich finde diese Fälle irgendwie frustrierend. Die Spritze zu setzen war nach ärztlicher Kunst genau richtig - nur das nicht anschließen des Beatmungsgeräts war doch das Problem und mE liegt hier der Schwerpunkt der

Vorwerfbarkeit

.


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