Vorsätzliche a.l.i.c. bei verhaltensneutralen Erfolgsdelikten - Grundfall


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Klassisches Klausurproblem

T möchte seinen seit geraumer Zeit nervenden Sohn S mit einem Messer erstechen. Bevor er diesen Plan in die Tat umsetzt, betrinkt er sich bewusst in einen schuldausschließenden Zustand, um nicht bestraft werden zu können und weil er weiß, dass ihm im nüchternen Zustand der Mut für die Tat fehlen würde.

Einordnung des Falls

Vorsätzliche a.l.i.c. bei verhaltensneutralen Erfolgsdelikten - Grundfall

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T hat sich wegen Totschlags zum Nachteil von S strafbar gemacht, indem er mit einem Messer auf diesen eingestochen hat (§ 212 StGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Die schuldhafte Verwirklichung einer Straftat setzt voraus, dass der Täter bei Tatbegehung schuldfähig gem. § 20 StGB gewesen ist. Danach handelt ohne Schuld, wer bei Begehung der Tat etwa wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Eine akute Alkoholintoxikation stellt einen tiefgreifende Bewusstseinsstörung dar. Ausweislich des Sachverhalts befand sich T aufgrund seiner Alkoholisierung auch in einem schuldausschließenden Zustand.

2. In Fällen, wie dem vorliegenden, ist eine Strafbarkeit des Täters stets ausgeschlossen.

Nein!

In Fällen, in denen der Täter im schuldfähigen Zustand eine Ursache für eine Tat setzt, die er später im schuldunfähigen Zustand verwirklicht, muss eine Strafbarkeit nicht zwingend ausgeschlossen sein. Denn dann greift die Rechtsfigur der "actio libera in causa (a.l.i.c.)", weil die Tat zwar in ihrem Vollzug (in actu) unfrei, aber in ihrer Ursache (in causa) frei ist. Der Anhaltspunkt für die Strafbarkeit bildet also die Verursachungshandlung im schuldfähigen Zustand. Die Begründung der a.l.i.c. ist allerdings umstritten. Zu unterscheiden sind noch im Rahmen der Schuld zu prüfende Ausnahme- und Ausdehnungsmodelle sowie selbstständig zu prüfende Tatbestandsmodelle.

3. Nach einer Ansicht wäre die Strafbarkeit des T mit einer Ausnahme vom Schuldgrundsatz zu begründen.

Genau, so ist das!

Nach dem Ausnahmemodell scheidet in Fällen der a.l.i.c. eine Anwendbarkeit des § 20 StGB ausnahmsweise aus. Denn derjenige Täter, der sich auf einen Strafbarkeitsmangel beruft, den er selbst vorsätzlich herbeigeführt hat, handele rechtsmissbräuchlich. T könnte sich demnach nicht darauf berufen, dass er während der Messerstiche schuldunfähig war, weil er diesen Zustand gerade gezielt herbeigeführt hat, um nicht bestraft werden zu können. Eine Ausnahme von einer strafrechtlichen Norm contra legem stellt allerdings einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG dar. Ferner widerspricht diese Ansicht dem verfassungsrechtlichen Schuldprinzip ("nulla poena sine culpa").

4. Gemäß einer von einer anderen Ansicht präferierten weiten Auslegung des § 20 StGB, ist T indes schon nicht "bei Begehung der Tat" schuldunfähig gewesen.

Ja, in der Tat!

Nach dem Ausdehnungsmodell ist der Begriff "bei Begehung der Tat" in § 20 StGB extensiv auszulegen, sodass der gesamte Zeitraum von Beginn der Defektbegründung bis hin zur Vollendung der tatbestandsmäßigen Handlung einzubeziehen sei. Grundlage ist ein normatives Schuldverständnis, nach dem dem Täter das Strafbarkeitsmerkmal Schuld wertend zugeschrieben werden müsse. T war bei Beginn des Sich-Betrinkens noch nicht in einem schuldunfähigen Zustand. Gegen diese Ansicht spricht, dass der Begriff "bei Begehung der Tat" in § 8 S. 1 StGB legal definiert ist. Ein von den §§ 8 S. 1, 16, 17 StGB abweichendes Verständnis des Begriffs verstieße ebenfalls gegen Art. 103 Abs. 2 GG.

5. Nach den Tatbestandsmodellen fungiert indes eine Strafbarkeit des T gemäß § 212 StGB i.V.m. den Grundsätzen zur a.l.i.c. als eigenständiger Prüfungspunkt. Nach einer Ansicht macht sich T durch das Sich-Betrinken zum Werkzeug seiner selbst.

Ja!

Das Modell der mittelbaren Täterschaft zieht eine Parallele zu § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB. Demnach mache sich der sich in einen schuldausschließenden Zustand versetzende Täter zum Werkzeug seiner selbst. Für die Strafbarkeit ist demnach an diese Einwirkung anzuknüpfen. Durch das Sich-Betrinken macht T sich selbst zum schuldlos handelnden Tatmittler. Er begeht den Totschlag durch sich selbst. Allerdings ist kennzeichnend für die mittelbare Täterschaft, dass der Hintermann das Werkzeug in der Hand hält, es also steuert. In Fällen der a.l.i.c. verliert der Täter indes gerade die Steuerung über sich selbst. Außerdem verlangt § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB die Tatbegehung durch einen "anderen".

6. Nach der herrschenden Lösung wird der Beginn der Tat auf das Herbeiführen des schuldausschließenden Rauschzustandes vorgelagert, sodass sich T bereits durch das Sich-Betrinken gemäß § 212 StGB strafbar gemacht hat.

Genau, so ist das!

Die Vorverlagerungstheorie sieht die relevante Tathandlung als actio praecedens bereits in dem Herbeiführen des schuldausschließenden Rauschzustandes. Voraussetzung dafür ist, dass der Täter in der Defektbegründung eine Ursache für die spätere Tat gesetzt und er seinen Vorsatz sowohl auf die Herbeiführen des Defekts als auch auf die nach Wegfall der Schuldfähigkeit begangene konkrete Tat erstreckt hat. Erst durch das Sich-Betrinken war T "mutig" genug, den S zu erstechen. Auch hatte er während des Sich-Betrinkens schon die spätere Tötung des S ins Auge gefasst.

7. Indes schließt eine weit verbreitete Ansicht die Konstruktion der a.l.i.c. aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken sogar gänzlich aus.

Ja, in der Tat!

Nach der Unvereinbarkeitslehre bestehe zwar im Hinblick auf den unzureichenden Strafrahmen des § 323a StGB ein erhebliches praktisches Bedürfnis zur Bestrafung schwerer Rauschtaten nach den Grundsätzen der a.l.i.c. Allerdings helfe dies nicht über den Gesetzeswortlaut und verfassungsrechtliche Bedenken hinweg. Danach bliebe nur eine Strafbarkeit des T wegen Vollrausches gemäß § 323a StGB. Im Hinblick auf das Ausnahme- und Ausdehnungsmodell schlagen die verfassungsrechtlichen Bedenken durch (vgl. oben). Allerdings schöpft diese Ansicht die Möglichkeiten der lex lata nicht aus. Der bei der eigentlichen Tathandlung vorliegende Schuldmangel kann gerade durch einen Vorwerfbarkeitszusammenhang zwischen Vorhandlung und Tathandlung ausgeglichen werden.

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lennart20

lennart20

20.4.2023, 12:01:35

Ihr könntet hier noch Anmerkungen zur fahrlässigen alic hinzufügen. Danke

lennart20

lennart20

20.4.2023, 12:04:59

Muss ich revidieren, kommt im Anschluss zu diesem Fall. Also alles wunderbar liebes Jurafuchs-team

Nora Mommsen

Nora Mommsen

20.4.2023, 12:05:57

Hallo lennart20, danke dir für den Hinweis. Nach allgemeiner Ansicht braucht es keiner fahrlässigen ALIC, da die fahrlässig begangene Tat nach den allgemeinen Grundsätzen zu sorgfaltswidrigem Verhalten beurteilt werden kann. Liebe Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

OBJE

objektivezurechnung

23.9.2023, 16:13:14

Ihr schreibt, dass das Ausnahmemodell eine Ausnahme vom Schuldprinzip macht, aber macht es nicht (auch oder vor allem) eine Ausnahme vom Koinzidenzprinzip?

LELEE

Leo Lee

24.9.2023, 10:36:08

Hallo objektivezurechnung, das stimmt auf jeden Fall, dass das Ausnahemodell auch eine Ausnahme vom Koinzidenzprinzip macht. Dies geschieht über „zwei Ecken“, indem eine Ausnahme vom Schuldprinzip gemacht wird. Da aber die Schuld bei der Tatbegehung (Koinzidenz) vorliegen muss, wird konsequenterweise eine Ausnahme auch vom Koninzidenzprinzip gemacht :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

HGWrepresent

HGWrepresent

25.10.2023, 22:19:29

Das Koinzidenzprinzip hier in der Klausur zu erwähnen, wäre aber ziemlich gut. Sollte also hinzugefügt werden, wenn möglich

HGWrepresent

HGWrepresent

25.10.2023, 22:22:00

Ist das Vorverlagerungsmodell nicht eine Unterform des Tatbestandsmodell? Der Tatbestand wird auf das sich mit Dopplevorsatz Betrinken vorverlagert

LELEE

Leo Lee

29.10.2023, 11:00:50

Hallo HGWrepresent, in der Tat könnte man das so sagen! Die Tatbestandsmodelle haben alle gemeinsam, dass die alic keine Ausnahme vom § 20 StGB darstellt, sondern vielmehr das Sichbetrinken Teil der „Begehung der Tat“ i.S.v. § 20 StGB (also dessen Bestandteil) ist. Dieser Bestandteil führt dann kausal zum Erfolg. Eine Ausprägung hiervon ist dann die Vorverlagerungstheorie, die besagt, dass das Sichbetrinken die Handlung darstellte, die dann kausal zum Tod führt usw. Beachte zudem, dass auch die Ausdehnungstheorie – die besagt, dass „bei Begehung“ im Grunde ausgedehnt wird auf den gesamten Zeitraum vom Trinken bis zum Töten – ein Tatbestandsmodell ist. Ansonsten kann ich dir die Lektüre von Wessels/Beulke/Satzger AT 52. Auflage, Rn. 657 ff. sehr empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

TO

tonys

10.1.2024, 21:27:23

Wenn sich der Täter nach hM schon beim sich-betrinken strafbar macht, müsste er mit dem ersten Schluck unmittelbar zum Versuch angesetzt haben, falls der Taterfolg nicht eintreten sollte, oder?

LELEE

Leo Lee

14.1.2024, 14:58:00

Hallo Tony, vielen Dank für diese sehr gute Frage! Der von dir genannte Ansatz ist einer, den man sehr gut vertreten kann. Leider gibt es auch innerhalb der h.M. einen Streit darüber, wann eigentlich das unm. Ansetzen beginnt (mit Eintritt der Schuldlosigkeit oder bereits mit dem Trinken?). Einer Ansicht nach beginnt der Versuch erst bei Eintritt der Schuldunfähigkeit. Überwiegend wird anscheinend jedoch angenommen, dass die Grenze bei einer ALIC-Versuchstat nicht anders verläuft als gewöhnlich. D.h., dass ganz klassisch die Formel mit „jetzt geht’s los“ – aber bei der „richtigen“ Tat später (also wenn man gerade dabei ist zu schießen o.ä.) und nicht schon beim Trinken – greift, wozu das Trinken an sich noch nicht gehört. Eine sehr gute Darstellung dieses Streits findest u.a. hier: https://www.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/ls-mitsch/Examen/43.pdf, Seite 4 :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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