Strafrecht
Strafrecht Allgemeiner Teil
Schuld
Trunkenheitsfahrtfall – Fahrlässige und vorsätzliche a.l.i.c. bei verhaltensgebundenen Straßenverkehrsdelikten
Trunkenheitsfahrtfall – Fahrlässige und vorsätzliche a.l.i.c. bei verhaltensgebundenen Straßenverkehrsdelikten
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Der durstige A macht auf einer längeren Autofahrt einen Zwischenstopp an einer Raststätte, wo er 5 Liter Bier und mehrere Schnäpse trinkt. Wie dabei billigend in Kauf genommen, überfährt er auf der Weiterfahrt gänzlich betrunken (BAK: 3,2 ‰) und unfähig, das Unrecht seines Tuns einzusehen, fahrlässig zwei Fahrradfahrer.
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Einordnung des Falls
Trunkenheitsfahrtfall – Fahrlässige und vorsätzliche a.l.i.c. bei verhaltensgebundenen Straßenverkehrsdelikten
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. A hat sich wegen fahrlässiger Tötung der beiden Radfahrer strafbar gemacht, indem er sie überfuhr (§ 222 StGB).
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. Dennoch könnte in Fällen, wie dem vorliegenden, eine Strafbarkeit des Täters wegen eines Tötungsdelikts nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein.
Genau, so ist das!
3. Im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte ist der Rückgriff auf die Rechtsfigur der a.l.i.c. allerdings unnötig. A hat sich gemäß § 222 StGB durch das Sich-Betrinken strafbar gemacht.
Ja, in der Tat!
4. Eine Strafbarkeit des A wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a), Abs. 3 Nr. 1, § 11 Abs. 2 StGB scheitert grundsätzlich an dem schuldausschließenden Zustand des A.
Ja!
5. Auch hier kommt allerdings eine Anwendung der Rechtsfigur der a.l.i.c. in Betracht. Nach einer Ansicht könnte so die Strafbarkeit des A mit einer Ausnahme vom Schuldgrundsatz begründet werden.
Genau, so ist das!
6. Gemäß einer von einer anderen Ansicht präferierten, weiten Auslegung des Begriffs, ist A indes schon nicht "bei Begehung der Tat" schuldunfähig gewesen.
Ja, in der Tat!
7. Nach den Tatbestandsmodellen wäre jedoch eine Strafbarkeit des A gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a), Abs. 3 Nr. 1, § 11 Abs. 2 StGB i.V.m. den Grundsätzen der a.l.i.c. denkbar.
Ja!
8. Bei verhaltensgebundenen Delikten wie dem § 315c StGB sind jedoch nach Ansicht des BGH die Grundsätze der Tatbestandsmodelle zur a.l.i.c. nicht anwendbar.
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Sniter
23.1.2023, 12:18:11
Liebes Jurafuchs-Team, die letzte Frage dieses Falls beschäftigt mich. Hier wird betont, dass der BGH die Anwendung der ALIC bei verhaltensgebundenen Delikten ablehnt. Gibt es denn dazu relevante Gegenstimmen? Ich meine klar, irgendeine aA gibt es immer, aber ich dachte das wäre whM.
Nora Mommsen
25.1.2023, 13:52:17
Hallo Sniter, du hast Recht. Dies ist in der Tat für
verhaltensgebundene Delikteganz herrschende Meinung. Mit der Frage soll nochmal herausgestellt werden, dass sich der BGH in seiner Rechtsprechung damit explizit auseinandergesetzt und die Anwendung abgelehnt hat. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Sniter
6.2.2023, 09:38:58
Liebes Jurafuchs-Team, in diesem Fall hat der Täter einen Tatzeit-BAK von 3,2 Promille und es geht um ein Tötungsdelikt. Sicherlich liegt der Fokus des Falls auf der ALIC, aber ist die Schuld bei Tötungsdelikten (wozu denke ich auch § 222 zählt) nicht erst bei mehr als 3,3 Promille ausgeschlossen? Dementsprechend müsste der Täter wegen § 222 zu bestrafen sein, weil er die Radfahrer überfahren hat. Auf das Sich-Betrinken kommt es dann gar nicht an...
Paul
6.2.2023, 11:45:55
Hallo Sinter, die Grenze von 3,3 Promille BAK ist kein starres Kriterium und entfaltet lediglich eine Indizwirkung.(Vgl. MüKoStGB/Streng StGB § 20 Rn. 68f) Der Leitsatz aus BGH NJW 1997, 2460 lautet dahingehend „Es gibt keinen gesicherten medizinisch–statistischen Erfahrungssatz darüber, daß ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit auszugehen ist“. In dem vorliegenden Fall wird die Schuldunfähigkeit daher durch die Angaben im Sachverhalt klargestellt („unfähig, das Unrecht seines Tuns einzusehen“).
Kai
6.11.2024, 12:01:30
Hey, ich bin auch über die Promillegrenze gestolpert. Klar, die 3,3 haben nur Indizwirkung für das Vorliegen eines biologischen Befundes. Hier gibt es aber keinerlei Anhaltspunkte, die andeuten würden, dass der Fahrer einen solchen hätte, auch ohne die 3,3 Promille zu überschreiten. Die Schuldfähigkeit entsteht im Rahmen der gemischten Methode ja gerade dadurch, dass ein biologischer Befund vorliegt und der Täter deswegen (!) unfähig ist, das Unrecht seines Tuns einzusehen. Liegt schon kein biologischer Befund vor (was hier aufgrund des BAK-Werts unter 3,3 und mangels weiterer Indizien auch nicht anzunehmen ist), ist der Täter mE auch nicht schuldunfähig, obwohl er das Unrecht nicht mehr einsehen. Insbesondere führt das zu Verwunderung, da man für diesen Fall im SV auch ohne Probleme 3,3 als BAK-Wert hätte nutzen können. Bei 3,2 denkt man sich als Nutzer: Aha, über den 3,0 für die normale Schuldfähigkeit, aber gerade unter den 3,3, die bei Tötungsdelikten erforderlich ist. Da muss ein Problem liegen. Sofern ich alles richtig verstanden habe und nicht irgendwo einem Denkfehler unterliege, wäre es tatsächlich sinnvoll, den BAK-Wert einfach hochzusetzen, zumal in der Erklärung der entsprechenden Frage überhaupt nicht näher auf die Indizwirkung hins. des biologischen Befunds eingegangen, sondern lediglich die Schuldunfähigkeit aufgrund der Unfähigkeit, das Unrecht zu erkennen, angenommen wird.
Jonas22
29.6.2023, 23:02:29
Wie müsste ich das dann in der Klausur prüfen? Muss ich dann auch den ganzen Streit bezüglich der Alic führen? Oder reicht es darzustellen, warum dies im Ergebnis bei verhaltensgebundenen Delikten abgelehnt wird?
antoniasophie
4.1.2024, 10:55:01
Interessiert mich auch! 🤔
IsiRider
15.1.2024, 12:49:08
Zusammenfassend auch für mich interessant. Wann muss man die Alic gar nicht ansprechen, auch wenn Alkohol im Spiel ist?
NF
30.6.2023, 18:13:11
Zum
Vorsatz: Schließen die Formulierungen "Billigend in Kauf nehmen" und "Fahrlässig" sich nicht gegenseitig aus?
objektivezurechnung
23.9.2023, 16:47:16
Frage ich mich auch… in der zugrundeliegenden Entscheidung steht jedenfalls - wenn ich es richtig sehe - nichts davon, dass der Täter den Erfolg billigend in Kauf genommen hat
Reus04
28.9.2023, 12:23:54
„Strafbarkeit des A wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gem. §§
315cAbs. 1 Nr. 1 a), Abs. 3 Nr. 1, §11 Abs.2 StGB scheitert an dem schuldausschließenden Zustand des A“ Warum wird hier „§
315cAbs. 3 Nr.1“ zitiert? Der bezieht sich doch auf die Fahrlässigkeit oder?
Reus04
28.9.2023, 12:30:00
Und anschließende Frage: Kommt die Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs gem. §
315cIII Nr.1 in Betracht?
Nora Mommsen
28.9.2023, 14:44:10
Hallo Reus04, danke für deine beiden Fragen. Der §
315cAbs. 3 Nr. 1 StGB normiert eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs, wie von dir auch richtig erkannt. Allerdings erfordert auch die Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit eine Handlung in schuldfähigem Zustand. Ist der A schuldunfähig, scheiden sowohl
Vorsatzals auch Fahrlässigkeit aus. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Flohm
13.11.2023, 13:47:58
Könnte mir bitte nochmal jemand erklären warum die fahrlässige Alic abgelehnt wird ?
Leo Lee
19.11.2023, 12:05:22
Hallo Flohm, das ist eine sehr gute Frage! Um diese zu beantworten, müssen wir uns zunächst kurz anschauen, weshalb es die ALIC überhaupt gibt. Die gibt es deshalb, weil wir z.B. gem. § 212 I bestrafen wollen trotz Schuldunfähigkeit. Nach dem herrschenden TB-Modell sagen wir dann, dass die „Tötung“ nicht bereits erst mit dem eigentlichen Töten, sondern schon vorher mit dem Trinken begonnen hat (das Trinken führt das „Töten“ also herbei). D.h., wir benutzen die ALIC, um die Wortlauthürde etwas zu überwinden. Deshalb ist auch die Grenze dort erreicht, wo der TB nicht einen bestimmten Zustand (bei 212 = Tod), sondern eine ganz bestimmte Verhaltensweise bestraft. Der „Tod“ kann durch das Sichbetrinken kausal herbeigeführt werden, ein Autofahren kann jedoch nicht mit dem Sichbetrinken gleichgesetzt werden (das ist dann auch nach den Alic-Vertretern „zu viel). Bei der Fahrlässigkeit haben wir dieses Problem mit dem Wortlaut noch weniger als bei § 212 bspw., denn bei § 222 wird derjenige bestraft, wer den Tod fahrlässig „verursacht“. Dh., hier muss der Täter einfach irgendwie dafür sorgen, dass jemand (fahrlässiger Weise) stirbt. Wie genau dieser Tod in fahrlässiger Weise herbeigeführt wird, ist egal. Somit kann der Tod durch fahrlässiges Runterwerfen eines Steins passieren oder eben – wie hier – durch das fahrlässige Sichbetrinken, was dann schließlich zum Tod bzw. zur Verursachung des Todes führt. Deshalb brauchen wir – weil der Wortlaut schon „weit genug“ ist – eben keine ALIC bei der Fahrlässigkeit. Wir kommen auch „schon so“ zum Ziel. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre von Wessels/Beulke/Satzger AT 52. Auflage, Rn. 672 sehr empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Robinski
22.6.2024, 14:05:22
Ich verstehe nicht, warum hier nicht ein Totschlag iVm den Grundsätzen der alic in Betracht kommt, wenn er das Überfahren der Radfahrer billigend in Kauf genommen hat? Kommt eine alic nur bei
Vorsatzersten und zweiten Grades in Betracht?
Leo Lee
23.6.2024, 10:56:18
Hallo Robinski, vielen Dank für die sehr gute Frage! In der Tat könnte man meinen, dass die ALIC vorliegend nicht in Betracht käme. Beachte allerdings, dass eine ALIC nicht nur Dolus I und II ausreichen lässt, sondern auch der
Eventualvorsatzausreicht. D.h., dass derjenige, der trinkt und weiß, dass er später Auto fahren muss, billigend in Kauf nimmt, dass er auch später dadurch Menschen umfahren könnte, auch für den
Eventualvorsatzbzgl. ALIC bestraft wird. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom Kinderhäuser/Zimmermann, Strafrecht AT 9. Aufl., § 23 Rn. 28 ff. sehr empfehlen (das Buch findest du hier auf Jurafuchs unter Entdecken Bücher) :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
as.mzkw
17.9.2024, 14:13:17
Ich schließe mich der Frage von @[Robinski](194197) an. Wieso wird direkt mit § 222 StGB und nicht mit § 212 StGB begonnen, obwohl der SV explizit davon spricht, dass der Täter den Tod der Radfahrer billigend in Kauf nimmt?
F. Rosenberg 🦅
13.11.2024, 12:11:56
Ausgehend von der Antwort des Moderators @[Leo Lee](213375) wäre es also bei dem Fall angebracht gewesen, zunächst die
Vorsatztat (§ 212 I) zu prüfen, um das Problem der alic ansprechen zu können. Bei Verneinung der Strafbarkeit gem. § 212 I würde man die Straßenverkehrsdelikte anprüfen und mangels Schuldfähigkeit ebenfalls verneinen. Schließlich kommt man zur Prüfung der Fahrlässigkeitstat (hier: § 222) sowie des Vollrauschs (§ 323a).
G0d0fMischief
20.9.2024, 10:51:08
Wäre es möglich, dass ihr die Theorie der a.l.i.c. (und des ETBI) als einzelne Aufgaben nochmal separat abfragt. Ihr macht das jeweils nur in einer „großen“ Aufgabe, nur wäre es schön wenn man die Theorie jeweils noch einmal selbstständig darstellen müsste. Dadurch kann man üben in der Klausur selbstständig den Streit zu formulieren.
Linne_Karlotta_
20.9.2024, 15:06:37
Hallo G0d0fMischief, vielen Dank für Deinen Vorschlag! Wir haben ihn notiert und werden in einer der nächsten Redaktionssitzungen prüfen, inwiefern wir hierzu unsere Lerninhalte entsprechend anpassen bzw. noch weitere Aufgaben mit aufnehmen können. Beste Grüße, Linne_Karlotta_, für das Jurafuchs-Team