Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Rechtfertigungsgründe

Folgen des fehlenden Verteidigungswillens

Folgen des fehlenden Verteidigungswillens

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem

B ist stolzer Besitzer eines Bullterriers. Nachbarin N hasst Bs Hund. Als Postbote P die Post einwirft, beißt sich der Bullterrier in Ps Bein. N sieht ihre Chance, den Hund ungestraft loszuwerden und schießt auf den Bullterrier. P ist N dabei völlig egal. Der Hund stirbt.

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Einordnung des Falls

Folgen des fehlenden Verteidigungswillens

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. N hat durch den Schuss den Tatbestand einer Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1 StGB) verwirklicht.

Ja, in der Tat!

Eine Sachbeschädigung liegt bei einer Beschädigung (§ 303 Abs. 1 Alt. 1 StGB) oder Zerstörung (§ 303 Abs. 1 Alt. 2 StGB) einer fremden Sache vor. Eine Zerstörung ist die Vernichtung einer Sache oder aber auch eine solche Einwirkung, wodurch es zur vollständigen Aufhebung der Gebrauchbarkeit einer Sache kommt.Tiere gelten strafrechtlich als eine Sache. Der Hund ist tot.
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2. P befand sich in einer Notstandslage (§ 228 BGB).

Ja!

Eine Notstandslage (§ 228 BGB) liegt vor, wenn von einer Sache eine Gefahr für ein Rechtsgut droht. Eine Gefahr ist ein Zustand, der bei ungehindertem Fortgang den Eintritt eines Schadens für ein notstandsfähiges Rechtsgut ernstlich befürchten lässt, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen getroffen werden. Der Hund beißt bereits in Ps Bein, sodass dessen körperliche Unversehrtheit bedroht ist.

3. B versuchte durch Rufe und Ziehen an dem Hund, diesen von P abzubringen. Doch der Hund ließ nicht los. Stellt der Schuss der N insofern eine taugliche Notstandshandlung (§ 228 BGB) dar?

Genau, so ist das!

Eine Notstandshandlung (§ 228 BGB) ist die Beschädigung oder Zerstörung der gefährlichen Sache, die erforderlich ist. Erforderlich ist die Handlung, wenn sie geeignet ist und das relativ mildeste Mittel darstellt. Geeignet ist eine Handlung, wenn sie dazu förderlich ist, die Gefahr abzuwehren. Das mildeste Mittel setzt voraus, dass bei gleicher Eignung ein Mittel gewählt wurde, dass per se milder ist als die anderen zur Verfügung stehenden Mittel. Nur durch die Tötung konnte die Gefahr wirksam abgewandt werden. Ps körperliche Unversehrtheit überwiegt Bs Eigentum wesentlich.

4. Das subjektive Rechtfertigungselement lag vor.

Nein, das trifft nicht zu!

Nach h.M. muss der Notstandstäter einen Verteidigungswillen gehabt haben. Ein Verteidigungswille erfordert ein Handeln in Kenntnis und aufgrund der Notstandslage. Es wird nicht vorausgesetzt, dass die Verteidigung der einzige Zweck ist. So kann auch ein Motivbündel vorliegen und der Notstandstäter ist dennoch nach dem defensiven Notstand (§ 228 BGB) gerechtfertigt, sofern die Verteidigung zumindest eine Rolle gespielt hat.N hat zwar Ps Notstandslage erkannt. Sie hat jedoch nicht geschossen, um die Gefahr von P abzuwenden, dieser war ihr völlig egal.

5. Ns fehlender Verteidigungswille führt unstreitig zur Bestrafung wegen vollendeter Sachbeschädigung (§ 303 StGB).

Nein!

Die Folge eines fehlenden Verteidigunswillen ist umstritten: Nach der Versuchslösung der wohl h.L. wird der Notstandstäter nicht wegen eines vollendeten Delikts bestraft, sondern nur wegen Versuchs. Das Unrecht einer Tat bestehe aus dem Handlungs- und dem Erfolgsunrecht. Nach dem Kompensationsgedanken wird sowohl das Handlungs- als auch Erfolgsunrecht durch eine objektiv und subjektiv gerechtfertigte Tat beseitigt. Bei einer Handlung ohne Verteidigungswillen wird zwar das Erfolgsunrecht kompensiert, das Handlungsunrecht bleibt jedoch bestehen. Dagegen bestraft die Rechtsprechung wegen vollendeten Delikts (Vollendungslösung). Da mangels Verteidigungswillen die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes nicht vorlägen, handele der Täter nicht gerechtfertigt.

6. Wenn N den Terrier „zerstört“ hat, um eine durch ihn drohende Gefahr von P abzuwenden, ist ihr Handeln gerechtfertigt, wenn die Voraussetzungen des defensiven Notstandes vorlagen (§ 228 BGB).

Ja, in der Tat!

In objektiver Hinsicht verlangt § 228 BGB eine (1) Notstandslage, eine (2) Notstandshandlung und eine (3) Interessenabwägung. Außerdem muss der Täter in subjektiver Hinsicht mit (4) Verteidigungsabsicht (subjektives Rechtfertigungselement) handeln. § 228 BGB wird als defensiver Notstand bezeichnet, da der Täter hier in defensiver Weise eine Sache beschädigt oder zerstört, von der eine Gefahr droht. Dagegen wird § 904 BGB als aggressiver Notstand bezeichnet, da der Täter hier in aggressiver Weise auf eine Sache einwirkt, von der selbst gar keine Gefahr ausgeht.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

EB

Elias Von der Brelie

17.5.2023, 14:26:58

Ich weiß, dass das hier keine Rolle spielt, aber praktisch könnte man ja niemals beweisen, dass P der N völlig egal war. Wenn ich das richtig verstanden habe wäre ja sogar ein mit-Interesse an Ps Gesundheit ausreichend gewesen. In diesem Fall (wo wir die Umstände vorgegeben haben) würde es also zur Verurteilung kommen, praktisch allerdings wohl mit relativer Sicherheit nicht, korrekt? Ich schätze meine Frage ist, wie viel Beweislast praktisch ausreicht um mit Sicherheit davon ausgehen zu können, dass P egal war. Wäre einzig ein Gestehen von N ausreichend? Tut mir leid für diese Interessenfrage. LG, Elias

SE.

se.si.sc

17.5.2023, 16:17:42

Mit dem Wort "niemals" wäre ich gerade bei Beweisfragen vorsichtig, irgendeine theoretische Möglichkeit besteht meistens eben doch. Zum Fall: Natürlich stimmt es, dass man in der Praxis hier der N zunächst glauben würde, wenn sie sagt, dass es ihr um P ging. Meines Erachtens könnte man den Fall aber durchaus praxisnah so basteln, dass daran doch erhebliche Zweifel bestehen. So könnte beispielsweise eine weitere Nachbarin glaubhaft aussagen, dass N sich schon öfter mit B wegen des Hundes in die Wolle gekriegt hat und bei Gelegenheit auch mal geäußert hat, sie hätte nichts dagegen, "wenn der Hund verschwindet". Treten solche und/oder ähnliche Umstände hinzu, von denen wir hier zugegebenermaßen nichts wissen, kann man auch in der Praxis mal am

Verteidigungswille

n zweifeln. Zur Frage mit der Beweislast: Die kann dir abstrakt niemand beantworten, erforderlich ist "ein ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt" (statt vieler BGH Urt v 26.8.2020 - BGH 2 StR 587/19; vgl auch §

261 StPO

) - eine reine Einzelfallfrage. Ein Geständnis der Angeklagten dürfte häufig ausreichen, gerade dann, wenn keine sonstigen besonderen Umstände vorliegen (wie die oben genannten) und wir auch keinen Grund haben, an der Richtigkeit des Geständnisses zu zweifeln.

EB

Elias Von der Brelie

17.5.2023, 16:29:30

Vielen dank für die Antwort erstmal. Es könnten ja immer m

ehre

re Motive vorliegen. Meines Erachtens wäre es naheliegend, dass der Schutz des P zumindest einer der potentiell vielen Gründe wäre, selbst wenn klar ist, dass N den Hund schon seit längerem Tot sehen wollte. Es kann ja nicht wirklich widerlegt werden, dass N möglicherweise unter anderem Interesse am Schutz von P hatte. Es heißt ja häufig, dass es "mit an Sicherheit grenzender wahrscheinlichkeit" angenommen werden kann. Eine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" lässt sich hier aber soweit ich sehen kann nicht erreichen. Also wird das hier nicht so genau genommen? Ich finde es immer ein wenig merkwürdig wenn die Rechtssprechung behauptet so etwas wie ein potentielles Nebenmotiv mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestimmen zu können nur durch Ermittlung von Hinweisen.

SE.

se.si.sc

17.5.2023, 18:12:40

Wie gesagt, du hast schon Recht, dass das absolute Ausnahmefälle sein werden, weil man den Nachweis in aller Regel nicht wird führen können und es hier absolut ausreicht, dass eines der Motive die Abwehr der Gefahr ist. Und die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit hätten wir tatsächlich in fast allen Fällen nur dann, wenn die Angeklagte sich (nicht gerade clever) dahingehend einlassen würde, dass es ihr einzig und allein darum ging, den Hund umzubringen, ob er jetzt gerade P angreift oder nicht. Das wird praktisch kaum vorkommen, ich würde aber nie vollkommen ausschließen, dass es nicht auch in der Praxis irgendwelche seltsamen Konstellationen gibt, in denen das doch der Fall ist. Und natürlich wird die "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" auch hier ernst genommen. Jura ist aber eben nicht Mathe und Abgrenzungen sprachlicher Art nicht immer trennscharf. Letztlich sind sämtliche subjektiven Merkmale vor dem Hintergrund immer schierig, weil wir dem Angeklagten nicht in den Kopf schauen können, es bleiben also nur objektive Anhaltspunkte als Indizien dafür, dass bestimmte subjektive Voraussetzungen erfüllt sind; das gilt für Neben- ebenso wie für Hauptmotive.

EB

Elias Von der Brelie

18.5.2023, 02:01:54

Okay. Dann sind wir einer Meinung. Meine Ausdrucksweise war unpassend aber mir ist bewusst, dass man es theoretisch nicht ausschließen kann. Ich bin allerdings beruhigt, dass hier praktisch wohl keine allzu luftigen Unterstellungen gemacht werden. Danke für die ausführliche Antwort nochmal. LG, Elias


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