Begrenzung der Sorgfaltspflicht durch den "Grundsatz des erlaubten Risikos": Fahrlässigkeit bei autonomen Systemen, „Aschaffenburger Fall“


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die F fährt ihr Auto mit einem Spurhalteassistenten der Herstellerin H, als sie einen Schlaganfall erleidet und das Lenkrad nach rechts verreißt. Der Spurhalteassistent führt das Auto allerdings wieder auf die Straße, auf der es weiter fährt und später den O tödlich erfasst.

Einordnung des Falls

Begrenzung der Sorgfaltspflicht durch den "Grundsatz des erlaubten Risikos": Fahrlässigkeit bei autonomen Systemen, „Aschaffenburger Fall“

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die F ist taugliche Täterin (§ 222 StGB).

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Nein!

Der Täter einer fahrlässigen Tötung muss eine kausale und zurechenbare Handlung begangen haben. Dies setzt ein willentliches Verhalten, d. h. ein vom menschlichen Willen beherrschtes oder beherrschbares Verhalten (Tun oder Unterlassen) voraus. Mangels Mitwirkung ihrer Geisteskräfte kann bei F nicht an das Verreissen des Lenkrads während des Schlaganfalls oder an spätere Lenkbewegungen des Autos angeknüpft werden. Ferner ist auch kein davor liegendes vorwerfbares Verhalten, insbesondere ein Losfahren trotz erkennbarer Gefahr eines Schlaganfalls, ersichtlich.

2. Allerdings hat auch die Herstellerin H den Tod des O kausal herbeigeführt (§ 222 StGB).

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Genau, so ist das!

Nach der Äquivalenztheorie (= conditio-sine-qua-non-Formel) ist eine Handlung kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.Hätte H nicht den Spurhalteassistenten programmiert und in das Auto der F eingebaut, hätte diese das Auto nicht wieder auf die Straße geführt, sodass dieses nicht ohne menschliche Steuerung in den O hineingefahren und diesen tödlich verletzt hätte.

3. Eine Strafbarkeit der Herstellerin H setzt eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung voraus (§ 222 StGB).

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Ja, in der Tat!

Nach der Rspr. und hL setzt die Verwirklichung eines Fahrlässigkeitsdelikts zentral voraus, dass der Täter eine objektive Sorgfaltspflicht verletzt. Wann eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt, ergibt sich allerdings nicht aus der verletzten Strafnorm selbst, sondern muss aus externen Quellen bestimmt werden. Nach dem allgemeinen Maßstab des Durchschnittsbürgers ergibt sich das Maß der anzuwendenden Sorgfalt im Rahmen einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls daraus, wie sich ein gewissenhafter, besonnener Durchschnittsbürger in der konkreten Situation und sozialen Rolle des Täters verhalten würde.

4. H hat sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig verhalten, indem sie ein zwar ordnungsgemäß funktionierenden, mangels weiterer Schutzvorrichtungen aber nicht hinreichend sicheren Spurhalteassistenten einbaute.

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Nein!

Nach dem Grundsatz des erlaubten Risikos ist die Herstellung riskanter (technischer) Produkte dann nicht als sorgfaltspflichtwidrig zu bewerten (und insofern erlaubt), wenn deren Nutzen so groß ist, dass deren Risiken in Kauf genommen werden können. Dies gilt jedoch nur, wenn die Hersteller alles ihnen Zumutbare tun, um die von ihren Produkten ausgehenden Gefahren so weit wie möglich zu reduzieren. Spurhaltesysteme sind darauf ausgelegt, dass durch sie insgesamt weniger Unfälle entstehen als ohne sie. Von Herstellern kann dabei nicht erwartet werden, dass etwa Sensoren zur Messung von Hirnströmen zur Vermeidung von Unfällen wie den streitgegenständlichen eingebaut werden.

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CLA

chuck lawris

23.2.2022, 22:48:01

Könnte man nicht dort ansetzen: Spurhalteassistenten sind darauf angelegt, zu reagieren, wenn der Mensch nicht reagiert. Sie sind dafür gemacht, falls Menschen einschlafen o.ä. Es liegt doch auf der Hand, dass das Auto geisterhaft weiterfährt, wenn die Fahrzeugführ. einschlafen. In Einzelfällen liegt also auch eine Erhöhung der Gefahr für Dritte vor. Wäre es dann nicht logische Konsequenz, den Assistent so einzustellen, dass das Auto aufhört zu fahren, wenn der Assisten ggfs gleich mehrmals aktiv wird? Dann weiß der Assistent ja, dass keiner das Steuer hat und dementsprechend auch keiner bremst. Alles Zumutbare hätte der Hersteller damit mE nicht unternommen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.2.2022, 16:42:23

Hallo chuck lawris, spannender Punkt. Zentraler Dreh- und Angelpunkt bei der Bestimmung des erlaubten Risikos ist in der Tat der Umfang der zumutbaren Maßnahmen. Mit den von dir angeführten Argumenten kann man sich hier durchaus auch anders entscheiden. Letztlich bräuchte es hierfür aber Informationen über die technischen Möglichkeiten und dem damit verbundenen Aufwand. Mangels weiterer Sachverhaltsangaben würden wir hier aber zugunsten des H unterstellen, dass er alles Zumutbare unternommen hat (in dubio pro reo). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

BL

Blotgrim

21.5.2022, 11:41:28

Das Ding ist halt auch das der Spurhalte-Assistent sehr oft aktiv wird wenn man normal fährt, da er ja heutzutage auch kleine Fehler korrigiert.

🦊²

🦊²

6.7.2022, 17:29:01

Hi, als kurze Verständnisfrage: Die Herstellerin H ist hier als eine natürliche Person zu verstehen? (In der Praxis sind dies ja regelmäßig juristische Personen und damit würden ggf. weitere Zurechnungsprobleme auftreten) Liebe Grüße 🦊 2

Nora Mommsen

Nora Mommsen

20.7.2022, 15:32:30

Hallo Fuchs², ganz genau! Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team


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