Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Fahrlässigkeit

Begrenzung der Sorgfaltspflichten durch Vertrauensgrundsatz bei Arbeitsteilung – "Wuppertaler Schwebebahnfall"

Begrenzung der Sorgfaltspflichten durch Vertrauensgrundsatz bei Arbeitsteilung – "Wuppertaler Schwebebahnfall"

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A und B haben den Auftrag, zwei Stahlkrallen von den Gleisen einer Schwebebahn zu beseitigen. Sie verabreden mit zwei dazukommenden Helfern, dass diese die zweite Kralle entfernen. Dies erfolgt aber nicht, sodass es später zu einem für fünf Fahrgäste tödlichen Unfall kommt.

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Einordnung des Falls

Begrenzung der Sorgfaltspflichten durch Vertrauensgrundsatz bei Arbeitsteilung – "Wuppertaler Schwebebahnfall"

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Eine Strafbarkeit der A und B wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen (§§ 222, 13 StGB) setzt eine Garantenstellung von A und B voraus.

Genau, so ist das!

Die Deliktsbegehung durch Unterlassen setzt voraus, dass der Täter rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt. Dafür muss ihm eine entsprechende rechtliche Handlungspflicht treffen. Diese folgt aus einer Stellung als Beschützer- oder Überwachergarant. Überwachergarant ist, wem aufgrund der Verantwortlichkeit für bestimmte Gefahrenquellen Sicherungspflichten gegenüber jedermann obliegen. BGH: Die Garantenstellung von A und B sei durch den Auftrag zur Beseitigung der Stahlkrallen begründet worden. Daran ändere auch das Hinzutreten der Helfer nichts, da dadurch allenfalls eine Mitübernahme der Garantenpflicht erfolgte (RdNr. 20ff.).
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2. Die fahrlässige Tötung durch Unterlassen setzt auch eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung voraus (§§ 222, 13 StGB).

Ja, in der Tat!

Nach der Rspr. und hL setzt sowohl die fahrlässige Verwirklichung eines Begehung- als auch eines Unterlassungsdelikts zentral voraus, dass der Täter eine objektive Sorgfaltspflicht verletzt. Wann eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt, ergibt sich allerdings nicht aus der verletzten Strafnorm selbst, sondern muss aus externen Quellen bestimmt werden. Fehlen gesetzliche Regeln oder bereichsspezifische Standards, ist der allgemeine Maßstab des Durchschnittsbürgers anzuwenden.

3. Etwaige Sorgfaltspflichten von A und B können grundsätzlich durch den Vertrauensgrundsatz begrenzt werden.

Ja!

Nach dem allgemeinen Maßstab des Durchschnittsbürgers ergibt sich das Maß der anzuwendenden Sorgfalt daraus, wie sich ein gewissenhafter, besonnener Durchschnittsbürger in der konkreten Situation und sozialen Rolle des Täters verhalten würde. Dabei ist eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Sich so ergebene Sorgfaltspflichten können allerdings durch den sog. Vertrauensgrundsatz begrenzt werden. Danach darf derjenige, der sich selbst sorgfaltsgemäß verhält, grundsätzlich darauf vertrauen, dass auch andere dies tun. Dieser Grundsatz kommt vor allem im Straßenverkehr zur Anwendung, wird aber auch im Bereich der Arbeitsteilung herangezogen.

4. Nach Ansicht des BGHs durften A und B darauf vertrauen, dass die Helfer die zweite Stahlkralle entfernen.

Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Maßgeblich seien die Umstände des Einzelfalls. Von Bedeutung sei insbesondere das Ausmaß der Gefahr, für deren Beseitigung die ursprünglichen Garanten einzustehen haben. BGH: Durch die in den Schienenbereich hineinragenden Stahlkrallen bestand eine außerordentlich hohe Gefährdung für Leib und Leben einer Vielzahl von Personen. Schon deshalb traf A und B die ihnen zumutbare Verpflichtung, sich durch geeignete Maßnahmen zu vergewissern, dass die Helfer die Entfernung der zweiten Kralle ordnungsgemäß vorgenommen haben (RdNr. 23ff.).

5. Nach anderer Ansicht in der Literatur durften A und B indes darauf vertrauen, dass die Helfer die zweite Stahlkralle entfernen.

Ja, in der Tat!

Solange nicht besondere Umstände bestehen, dürften arbeitsteilig zusammenwirkenden Personen im Interesse eines geordneten Ablaufs wechselseitig auf die fehlerfreie Tätigkeit des anderen vertrauen. Maßgeblich sei nicht eine allgemeine Gefährlichkeit der übernommenen Aufgabe, sondern ob der Täter auf einen guten Ausgang vertrauen durfte. Der Sinn horizontaler Arbeitsteilung bestehe gerade darin, die Gesamtaufgabe auf mehrere Schultern zur eigenverantwortlichen Bewältigung zu verteilen. Mangels entgegenstehender Umstände würden A und B mit der absprachegemäßen Übernahme der Arbeiten durch die beiden Helfer damit aus ihrer Verantwortung entlassen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

SN

Sniter

10.2.2023, 16:13:32

Liebes Team, mal eine ganz dumme Frage, aber warum prüft man §§ 222, 13 und nicht nur § 222? Was ist denn die relevante Tathandlung?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.2.2023, 16:36:08

Hallo Sniter, die relevante Tathandlung ist die fehlende Beseitigung der Stahlkralle, es geht hier insoweit nicht um ein positives Tun, sondern um das strafbare Unterlassen einer gebotenen Handlung. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

FUCH

Fuchsfrauchen

31.8.2023, 09:52:09

Hallo! Liegt der Schwerpunkt der

Vorwerfbarkeit

nicht eher darin, dass A und B die Arbeit der Helfer nicht kontrolliert haben? Also ich würde auch ein Unterlassen sehen, aber an einen anderem Punkt anknüpfen. Bin ich hier auf dem Holzweg oder geht das auch?

AL

algru

22.3.2024, 12:41:56

Die Antwort auf die Frage von Fuchsfrauchen interessiert mich auch! :)

CR7

CR7

8.6.2024, 14:29:55

Ich würde hier nicht an dem Protokollieren ansetzen. Denn A und B waren dazu ja verpflichtet, ihnen oblag der Auftrag. Sie waren ja nicht dazu beauftragt, Leute zu finden, die es für sie erledigen, sondern dass sie es selbst tun. A und B haben sich dazu entschieden, ihre Arbeitsverpflichtung aufzuteilen und damit ihre Verantwortung dazu weiterzureichen. Dann erscheint es aber nicht unbillig, die Verantwortung für etwaige Gefahren auf sie zu laden.


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