Nicht freiverantwortlicher Suizid

5. Juli 2025

8 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der psychisch labile O will sich das Leben nehmen durch einen Sprung von einer hohen Brücke. T greift jedoch noch rechtzeitig ein, indem er den O zu Boden ringt und fixiert, bis Hilfe kommt.

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Einordnung des Falls

Nicht freiverantwortlicher Suizid

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Wenn T "einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt", verwirklicht er den objektiven Tatbestand der Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB).

Ja!

Geschütztes Rechtsgut ist nach h.M. die persönliche Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung. Der objektive Tatbestand der Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) setzt voraus (1) ein Nötigungsmittel (Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel), (2) einen Nötigungserfolg (Handlung, Duldung oder Unterlassung) und (3) den nötigungsspezifischen Zusammenhang zwischen (1) und (2).
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2. T hat O zu einem Unterlassen genötigt (§ 240 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Die Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) ist ein Erfolgsdelikt. Der Täter muss ein Opferverhalten, das in einer Handlung, Duldung oder Unterlassung liegen kann, herbeigeführt haben (Nötigungserfolg). Das Unterlassen ist die Nichtvornahme einer konkreten Handlung. Handlung meint dabei ein positives Tun. T hat durch das Fixieren des O herbeigeführt, dass O nicht von der Brücke springen kann, mithin eine konkrete Handlung nicht vornehmen kann. Der tatbestandliche Erfolg der Nötigung ist folglich eingetreten.

3. T hat gerade mit der eingesetzten Gewalt das Unterlassen des O kausal und objektiv zurechenbar herbeigeführt (nötigungsspezifischer Zusammenhang).

Ja, in der Tat!

Zwischen dem Nötigungsmittel und dem Nötigungserfolg muss eine kausale Verknüpfung bestehen, d.h. das abgenötigte Verhalten muss unmittelbare und spezifische Folge des angewandten Zwangsmittels sein. Es finden die allgemeinen Regeln der objektiven Zurechnung Anwendung. Der Zusammenhang fehlt, wenn das Opfer auf eigenen Entschluss oder fremden Rat dem Verlangen des Täters nachgibt. O hat gerade aufgrund der Nötigung seine angestrebte Handlung nicht durchführen können.

4. Die Nötigungshandlung des T ist als verwerflich anzusehen (§ 240 Abs. 2 StGB).

Nein!

Bei der Nötigung ist ausnahmsweise durch Verwirklichung der objektiven Merkmale die Rechtswidrigkeit nicht indiziert. Die Rechtwidrigkeit muss nach einer bewertenden Feststellung der Gesamttat positiv vorliegen. Fehlt ein Rechtfertigungsgrund, ist die Tat nur dann rechtswidrig, wenn die Gewaltanwendung oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Verwerflich ist eine Verhaltensweise, wenn die Gewaltanwendung oder die Drohung zu dem beabsichtigten Zweck in einem auffallenden Missverhältnis stehen. Hier liegt in Form des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) ein Rechtfertigungsgrund zugunsten des T vor. Folglich kommt es auf eine Mittel-Zweck-Relation nicht mehr an.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Tobias Pfeiffer

Tobias Pfeiffer

28.1.2023, 16:45:54

Ist es genauso vertretbar, allgemeine Rechtfertigungsgründe vorgelagert zu prüfen und im Falle einer Rechtfertigung gar nicht mehr auf die

Verwerflichkeitsklausel

abzustellen? Eine gerechtfertigte

Nötigung

ist ja kategorisch nie

verwerflich

.

MK-

MK-

24.10.2023, 23:02:12

so wie ich es aus der Lösung heraus lese und auch gelernt habe sind Rechtfertigungsgründe stets vor der

Verwerflich

keit zu prüfen, weil wie du richtig gesagt hast, eine gerechtfertigte Handlung nicht

verwerflich

sein kann.

WO

Wolli

13.2.2024, 13:06:54

„Eine gerechtfertigte Handlung kann niemals

verwerflich

sein“ daher die Rechtfertigungsgründe vorab prüfen.

OKA

okalinkk

7.6.2025, 12:34:19

Eine Notstandshilfe darf nicht aufgedrängt werden. Der Suizident will vermutlich freiverantwortlich sterben. Könnte man hier nicht an eine aufgedrängte Nostandshilfe denken?

OKA

okalinkk

7.6.2025, 12:36:57

Oder müsste man hier dann wegen aufgedrängter

Nothilfe

rausfliegen?

Lexpecto Patronum

Lexpecto Patronum

2.7.2025, 17:22:42

@[okalinkk](253888) Wenn ich nicht ganz auf dem Schlauch stehe, ist

Nothilfe

(§ 32) sowieso schon raus, weil ein Suizid jedenfalls kein rechtswidriger Angriff ist. Darüber hinaus kann man wohl auch argumentieren, dass wegen der freiverantwortlichen Entscheidung und des verfassungsrechtlich geschützten Rechts auf selbstbestimmtes Sterben (Art. 2 I, 1 I GG) eine "Einwilligung" in die Rechtsgutsverletzung vorliegen würde (da würde ich im Kontext des eigenen Todes nur mit der Formulierung aufpassen) und dann wegen aufgedrängter

Nothilfe

die Notwehrlage nicht vorliegt. Da die Notwehrlage ex post bestimmt wird, kommen wir da dann auch nicht weiter. Die Notstandslage (§ 34) hingegen ist ex ante zu betrachten. Eine Person, die einen Suizid beobachtet, wird wohl regelmäßig nicht davon ausgehen (dürfen), dass dieser Freiverantwortlich ist und sich raushalten, ex ante liegt also eine Notstandslage vor. Ex ante wird der Einschreitende auch nicht wissen (müssen), dass der freiverantwortliche Suizient "eingewilligt" hat. Im Rahmen der Notstandshandlung würde ich dann in der Interessenabwägung das Thema Recht auf selbstbestimmtes Sterben aufmachen, dann aber mit den von außen bestehenden Unsicherheiten hinsichtlich der Freiverantwortlichkeit für den Hinzukommenden und der Gewichtigkeit der potenziell betroffenen Rechtsgüter argumentieren. Also § 34 (+), sofern auch das subjektive Rechtfertigungselement vorliegt. Und bei einer

Nötigung

auch keine

Verwerflich

keit mit vergleichbarer Argumentation.


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