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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A wartet an einem kriminalitätsbelasteten Bahnhof. Er ist deutscher Staatsbürger und dunkler Hautfarbe. Bundespolizist P fordert ihn auf, den Personalausweis vorzulegen, weil A sich verdächtig verhalte und dunkler Hautfarbe ist. A leistet der Aufforderung Folge, erhebt später aber Klage.

Einordnung des Falls

(Un–)Zulässigkeit von Racial Profiling

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Berlin/Brandenburg 2022
Examenstreffer Mecklenburg-Vorpommern 2022

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Statthafte Klageart ist die Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog).

Genau, so ist das!

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren (§§ 88, 86 Abs. 3 VwGO). Die Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO ist statthaft, wenn der Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts begehrt, der sich erledigt hat. Die Vorschrift geht jedoch von Erledigung nach Klageerhebung aus. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO ist analog anzuwenden, wenn der Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes begehrt, der sich vor Klageerhebung erledigt hat.Die Aufforderung, den Personalausweis vorzulegen, ist ein Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG). Dieser hat sich durch Erfüllung erledigt, indem A dem P den Ausweis vorlegte. Die Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO ist statthaft.

2. Das erforderliche Feststellungsinteresse besteht auch, wenn eine Maßnahme aufgrund ihrer typischerweise kurzfristigen Erledigung ansonsten der gerichtlichen Kontrolle entzogen würde.

Ja, in der Tat!

Die Fortsetzungsfeststellungsklage setzt ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsaktes voraus (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO). Dieses besteht bei Wiederholungsgefahr, Rehabilitationsinteresse, schweren Grundrechtseingriffen und zur Vorbereitung eines Amtshaftungsprozesses. Es ist es auch dann gegeben, wenn sich die angegriffene Maßnahme typischerweise so kurzfristig erledigt, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses keiner gerichtlichen Überprüfung zugänglich ist. Dies ist wegen Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG (effektiver Rechtsschutz) geboten (h.M., OVG Münster, RdNr. 31; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 15.A. 2017, RdNr. 583).

3. Weil P die Identitätsfeststellung auch mit Blick auf die Hautfarbe des A begründete, stellt diese einen Eingriff in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG dar.

Ja!

Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verbietet eine Diskriminierung unter anderem aufgrund der Rasse. Anknüpfungspunkt für die Rasse ist auch die Hautfarbe. OVG Münster: Eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG grundsätzlich verbotene Differenzierung liege auch dann vor, wenn eine Maßnahme an ein dort genanntes Merkmal kausal anknüpft, wobei es ausreicht, dass ein Merkmal nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG als mittragendes Kriterium neben anderen Gründen in einem Motivbündel steht (RdNr. 52, 54).P hat die Identitätsfeststellung unter anderem auch auf die Hautfarbe des A gestützt. Ein Eingriff in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG liegt somit vor.

4. Die einschlägige Ermächtigungsgrundlage für die Ausweiskontrolle des A durch P ist § 22 Abs. 1 S. 3 BPolG.

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Ausweiskontrolle kann grundsätzlich auch auf § 22 Abs. 1 S. 3 BPolG gestützt werden. Dazu ist aber ausweislich § 22 Abs. 1 S. 1 BPolG eine vorherige Befragung erforderlich. Eine solche hat durch P nicht stattgefunden. Richtige Ermächtigungsgrundlage für die Ausweiskontrolle durch P ist die Standardmaßnahme der Identitätsfeststellung (§ 23 Abs. 1 Nr. 1 BPolG). Diese und die vergleichbaren landesrechtlichen Normen ermächtigen die Polizei, zur Abwehr einer Gefahr die Identität einer Person festzustellen.

5. Für die Annahme einer Gefahr im Sinne des § 23 Abs. 1 Nr. 1 BPolG ist auch ein Gefahrenverdacht ausreichend.

Ja, in der Tat!

Ein Gefahrenverdacht ist gegeben, wenn die Polizei aufgrund objektiver Umstände das Vorhandensein einer Gefahr für möglich hält, sich aber nicht sicher ist, ob diese vorliegt. Zwar spricht § 23 Abs. 1 Nr. 1 BPolG ausdrücklich von Gefahr. In teleologischer Auslegung reicht jedoch ein Gefahrenverdacht aus. Denn es ist kennzeichnend für die Identitätsfeststellung durch Verlangen des Vorzeigens von Ausweispapieren (vgl. § 23 Abs. 3 BPolG), dass hierdurch nicht schon eine konkrete Gefahr abgewehrt, sondern die weitere Gefahrenabwehr durch Sachverhaltsaufklärung ermöglicht wird.Eingedenk einer Vielzahl von am Bahnhof verübten Straftaten bestand aufgrund auffälligen Verhaltens des A aus einer ex-ante Sicht ein Gefahrenverdacht.

6. Da ein Gefahrenverdacht vorliegt, musste P die Identitätsfeststellung vornehmen.

Nein!

§ 23 Abs. 1 Nr. 1 BPolG räumt der Polizei auf Rechtsfolgenseite Ermessen ein ("kann").P hat das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (vgl. § 40 VwVfG). Die gesetzlichen Grenzen des Ermessens sind u.a. überschritten, wenn die Maßnahme Grundrechte verletzt.

7. Aufgrund der stigmatisierenden Wirkung bei einer Differenzierung unter anderem aufgrund der Hautfarbe bedarf es erhöhter Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG.

Genau, so ist das!

Bei Anknüpfungen an Merkmale des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG gelten nach der Rechtsprechung des BVerfG verschärfte Rechtfertigungsanforderungen. Die Anknüpfung muss sich auf konkrete und tatsächlich belegbare sachliche Gründe stützen, die die Anknüpfung an eines der in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG genannten Merkmale erforderlich oder zumindest nachvollziehbar machen. Die dahingehende Darlegungslast trifft die handelnde Behörde.

8. Mangels Darlegung, dass Straftaten am Bahnhof vermehrt von Menschen mit dunkler Hautfarbe begangen wurden, ist die Anknüpfung der Identitätsfeststellung auch an die Hautfarbe unzulässig.

Ja, in der Tat!

Warum die Identitätsfeststellung zum Schutz kollidierenden Verfassungsrechts unter anderem eine Anknüpfung an die Hautfarbe der betroffenen Person erforderlich macht, kann die Polizeibehörde nicht mit bloßen Behauptungen, sondern nur mit belastbaren Anhaltspunkten darlegen.Am Bahnhof wurde zuletzt eine Vielzahl von Straftaten begangen. Kann die Behörde aber nicht darlegen, dass diese überproportional häufig von Tätern mit dunkler Hautfarbe begangen wurden, genügt der Eingriff in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG nicht den erhöhten Rechtfertigungsanforderungen. So lag es hier. Die Identitätsfeststellung war somit ermessensfehlerhaft und rechtswidrig.

9. Die Identitätsfeststellung nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 BPolG setzt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nach § 14 Abs. 2 S. 1 BPolG voraus. Es bestand eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit.

Nein!

Eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung besteht, wenn im Einzelfall die hinreichende Gefahr eines Schadenseintritts für ein Schutzgut besteht. Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfasst die objektive Rechtsordnung, den Staat und seine Institutionen sowie Individualrechtsgüter. Das Vorliegen einer konkreten Gefahr beurteilt sich aus einer objektiven ex-ante Perspektive.Es bestanden keine objektiven Anhaltspunkte dafür, dass A gegen die Rechtsordnung verstoßen würde. Auch die anderen Schutzgüter sind nicht betroffen. Folglich bestand keine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Auch die öffentliche Ordnung ist nicht in Gefahr.

10. Ein Eingriff in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG kann zum Schutz kollidierenden Verfassungsrechts gerechtfertigt sein.

Genau, so ist das!

Wie bei allen vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten kann auch eine an sich verbotene Anknüpfung an eines der in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG genannten Merkmale im Einzelfall zum Schutz verfassungsimmanenter Schranken (kollidierendes Verfassungsrecht) gerechtfertigt sein (Epping, Grundrechte, 7.A. 2017, RdNr. 838f.).Hier erfolgte die Maßnahme zur vorbeugenden Abwehr der am Bahnhof häufig auftretenden Körperverletzungs- und Eigentumsdelikte zum Schutz von Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sowie des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) Dritter und damit zum Schutz kollidierenden Verfassungsrechts.

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TI

Tim

28.11.2021, 12:58:00

Mir ist klar, dass der Fall hier schwerpunktmäßig auf die Hautfarbe abstellt. Stellt die Tatsache, dass der Bahnhof kriminalitätsbelastet ist, aber nicht dennoch einen Umstand dar, der eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit bzw. Ordnung ist und müsste das nicht zunächst bejaht werden?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

29.11.2021, 09:42:28

Hallo Tim, vielen Dank für Deine Nachfrage! Allein der Umstand, dass an dem Bahnhof regelmäßig Straftaten verübt werden, stellt noch keine KONKRETE Gefahr dar. Denn dafür müsste auch im konkreten Einzelfall ein Hinweis auf eine Straftat bestehen. Darauf kommt es indes nicht an, da auch der bloße

Gefahrenverdacht

genügt, um eine Identitätsfeststellung durchzuführen. Im Ergebnis wird insofern der Tatbestand bejaht. Da aber die Ermessensausübung fehlerhaft erfolgte, ist die Maßnahme dennoch rechtswidrig gewesen. In vielen Landesgesetzen gibt es aber tatsächlich gesonderte Tatbestände, die allein an die Kriminalitätsbelastung eines Ortes anknüpfen und insofern die Maßnahme gänzlich vom Begriff der Gefahr entkoppeln (vgl. § 12 Abs.1 Nr. 2 PolG NRW). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Julia Maxi

Julia Maxi

12.4.2022, 17:08:54

Inwiefern stellt eigentlich "warten" ein verdächtiges Verhalten dar? Also klar, man könnte gerade auf seinen Dealer warten, aber im Grunde ist Warten doch eine der Hauptbeschäftigungen aller Leute an einem Bahnhof - auf den eigenen Zug, auf Freunde die man dort abholt, ect. Wird das tatsächlich (noch) als Begründung für verdächtiges Verhalten akzeptiert? LG Julia

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

20.4.2022, 11:35:50

Hallo Julia, die Tätigkeit "warten" ist in der Tat recht unspezifisch. In vielen Polizeigesetzen gibt es deshalb Bestimmungen, die eher an den Ort des Aufenthaltes anknüpfen (zB § 12 Abs. 1 Nr. 2 PolG). Nicht die Tätigkeit "Warten" begründet insoweit die Identitätskontrolle, sondern schlicht der Aufenthalt an bestimmten Orten, an denen vermehrt Straftaten verübt werden. Das müssen indes keine "verrufenen" Orte wie dunkle Bahnhofspassagen sein. Vielmehr können dazu auch reiche Viertel zählen, in denen es in der letzten Zeit vermehrt zu Wohnungseinbrüchen/Autodiebstählen... gekommen ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

evamarie

evamarie

25.4.2022, 14:27:36

Heute lief in MV im ersten Examen ein Fall, der an die Entscheidung angelehnt war 🙈

Julia Maxi

Julia Maxi

25.4.2022, 15:26:39

In Berlin/Brandenburg lief im 1. Examen auch genau heute eine Abwandlung davon 😁 Also schon mit Änderungen und Ergänzungen (Park mit Schwerpunkt Drogenhandel und KV; mit einer Kriminalitätsstatistik, dass 75% der Verurteilungen bei gewerbsmäßigem BtM-Handel Personen mit westafrikanischer Staatsbürgerschaft betreffen und zusätzlich einer Durchsuchung durch eine Beamtin), aber definitiv gleiche Grundproblematik.

Gero1

Gero1

25.4.2022, 18:16:21

Jap, in M-V lief dann wohl tatsächlich der gleiche Fall wie bei euch in Berlin/Brandenburg 😅 es ging sogar um einen Park in Berlin 😂 interessant, dass hier sich hier scheinbar die SV 1-1 gleichen 🤔

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

26.4.2022, 18:19:21

Super, lieben Dank euch! Das fügen wir direkt zu unseren Examenstreffern hinzu. Viel Erfolg und gutes Durchhalten euch noch beim Endspurt!! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

schaschl2

schaschl2

26.4.2022, 21:00:45

In NRW kam der Fall auch

PPAA

Philipp Paasch

21.7.2022, 23:45:42

Super, danke! ☺️

V. Z.

V. Z.

11.4.2023, 11:13:32

Lieg im April 22 in NRW

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

11.4.2023, 15:10:33

Vielen Dank für den Hinweis! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

STE

Steven

15.11.2023, 19:20:38

Hallo, die Vorbereitung eines Amtshaftungsprozesses dürfte im vorliegenden Fall (Erledigung vor Klageerhebung) gerade kein Feststellungsinteresse begründen. Denn die Amtshaftungsklage könnte direkt vor dem Landgericht erhoben werden, welches nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG über die Rechtswidrigkeit der Maßnahme zu entscheiden hätte, vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20.01.1989 - 8 C 30/87.

DeliktusMaximus

DeliktusMaximus

20.11.2023, 11:27:13

Ihr habt an einer anderen Stelle bezüglich der Fallgruppen zur Fortsetzungsfeststellungsklage geschrieben, dass ein schwerwiegender Grundrechtseingriff alleine nach dem BVerfG ausdrücklich nicht ausreicht, um ein Feststellungsinteresse zu bejahen.


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