Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Fahrlässigkeit

Zurechnung von Sonderwissen 2 – unterdurchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten sowie Übernahmeverschulden

Zurechnung von Sonderwissen 2 – unterdurchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten sowie Übernahmeverschulden

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Chirurgin A führt eine komplizierte Operation am Kopf der Patientin P durch, obwohl sie mangels Fortbildung in diesem Bereich nur unterdurchschnittlich kompetent und nach veralteten Methoden vorgehen kann. Aufgrund dessen macht sie im Laufe der Operation einen Fehler, sodass die P stirbt.

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Einordnung des Falls

Zurechnung von Sonderwissen 2 – unterdurchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten sowie Übernahmeverschulden

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die fahrlässige Tötung setzt eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung voraus (§ 222 StGB).

Ja, in der Tat!

Nach der Rspr. und hL setzt die Verwirklichung eines Fahrlässigkeitsdelikts zentral voraus, dass der Täter eine objektive Sorgfaltspflicht verletzt. Wann eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt, ergibt sich allerdings nicht aus der verletzten Strafnorm selbst, sondern muss aus externen Quellen bestimmt werden. Besteht keine einschlägige Sondernorm, kann sich der Sorgfaltsmaßstab aus den Standards und Gepflogenheiten bestimmter Verkehrskreise ergeben. Beispiele hierfür sind etwa die von der FIS aufgestellten Regeln für das Verhalten auf Skipisten, die Grundsätze waidmännischen Verhaltens oder die anerkannten Regeln der Kunst (lex artis) eines bestimmten Berufsstandes.
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2. Nach h.M. hat sich A sorgfaltspflichtwidrig verhalten, indem sie die Operation unsachgemäß durchführte.

Ja!

Bei der Durchführung von ärztlichen Heileingriffen sind die Regeln der ärztlichen Kunst zu beachten. Dazu gehört deren sachgemäße Durchführung nach aktuellen wissenschaftlichen Standards. Nach h.M. begrenzen individuell-defizitäre Fähigkeiten des Täters dabei nicht den anzuwendenden Sorgfaltsmaßstab. Einer individualisierenden Ansicht lässt sich neben dem besseren Rechtsgüterschutz entgegenhalten, dass hier gerade nur die objektive Beurteilung des gegenständlichen Verhaltens durch die Rechtsordnung maßgeblich ist. A hat die Operation fehlerhaft und nach veralteten Methoden durchgeführt. Dass sie zu einer Operation lege artis gar nicht in der Lage war, ist hier unbeachtlich.

3. Individuell unterdurchschnittliche Fähigkeiten und Kenntnisse des Täters werden nach h.M. aber im Rahmen der Schuld berücksichtigt.

Genau, so ist das!

Neben den allgemeinen Entschuldigungsgründen prüft die Rspr. und hL im Rahmen der Schuld auch die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung und subjektive Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts. Danach sind individuell geringere Fähigkeiten oder Kenntnisse bzw. die individuell verringerte Möglichkeit der Erfolgsvoraussicht zu berücksichtigen. Dabei können beispielsweise intellektuelle oder körperliche Mängel, mangelndes Erfahrungswissen oder Reaktionsvermögen, Affekt- oder Erregungszustände in Betracht kommen.

4. A handelte schuldhaft, indem sie die Operation unsachgemäß durchführte.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Individualisierung des Fahrlässigkeitsvorwurfs setzt voraus, dass der Täter nach seinen persönlichen Fähigkeiten tatsächlich auch in der Lage war, die objektive Sorgfaltspflicht zu erfüllen. Reichen etwa seine Kenntnisse und Erfahrungen dazu nicht aus, so kann ihm die objektive Sorgfaltspflichtverletzung individuell nicht vorgeworfen werden. Mangels Besuch einer Fortbildung hatte A nicht die fachliche Kompetenz, die Operation ohne Fehler sowie nach aktuellen wissenschaftlichen Methoden durchzuführen.

5. Der A ist jedoch vorzuwerfen, dass sie überhaupt die Operation übernommen und P nicht an kompetente, fortgebildete Kollegen verwiesen hat.

Ja!

Unter dem Aspekt des Übernahmeverschuldens kommt eine Vorverlagerung des anzuknüpfenden Verhaltens in Betracht, wenn etwa ein Arzt eine Tätigkeit vornimmt, obwohl er weiß oder zumindest erkennen kann, dass ihm die dafür erforderlichen Kenntnisse fehlen. Für A war es jedenfalls erkennbar, dass sie mit der Operation der P überfordert war. Ihre Unfähigkeit schützt sie an dieser Stelle nicht, weil auf den Behandlungsbeginn abgestellt wird. Indes konnte sie die Gefährlichkeit der Übernahme selber auch erkennen. Für die Falllösung gilt es also zu beachten, dass genau zwischen der der Ausführung der Tätigkeit und der Übernahme derselben als relevante Tathandlungen differenziert wird.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Isabell

Isabell

30.10.2021, 14:27:01

Kann man hier die individuelle Sorgfaltspflichtsverletzung nicht auf die Nichteinhaltung der Fortbildungspflicht als Arzt im Allgemeinen aus § 95d SGB V (viele Fachrichtungen haben dazu sogar eigene speziellere Verordnungen) stützen, anstatt auf die Durchführung der OP?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

31.10.2021, 09:55:51

Hallo Isabell, daran könnte man sicher auch anknüpfen. Ich finde in diesem Fall ist die Übernahme trotz fehlender Kenntnisse indes der unmittelbarere Anknüpfungspunkt. Zum einen wäre es ja für den konkreten Fall zB irrelevant, wenn sie gegen ihre Fortbildungsverpflichtung in anderen Gebieten verstoßen hätte, da sich dies nicht auf die OP ausgewirkt hätte. Zum anderen besteht ja auch die Möglichkeit, dass man trotz Fortbildung die entsprechenden Kenntnisse nicht erworben hat. Da aber im Sachverhalt die Angabe kam, dass nur wegen der fehlenden Fortbildung ihr die entsprechenden Kenntnisse fehlen, ist auch das Anknüpfen daran ein gangbarer Weg. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

AL

algru

22.3.2024, 12:55:21

Muss man die Prüfung von § 222 dann zweimal komplett machen - einmal mit der tathandlung „OP nach veralteten Methoden“ und einmal mit der tathandlung „Übernahme der op“?

CR7

CR7

8.6.2024, 14:47:28

Ich denke, dass kannst du machen. Dann fliegst du beim ersten bei der subjektiven

Vorwerfbarkeit

raus, also bei der Schuld. Dann prüfst du aber § 222 StGB wegen der Übernahme, musst dann aber abgrenzen ob Tun (Übernehmen ohne Fortbildung) oder Unterlassen (Nichtoffenlegen der fehlenden Kenntisse), wobei ich auf das Tun gehen würde und dann das

Übernahmeverschulden

diskutieren. Die Prüfung dürfte schnell gehen, da du auf das meiste nach oben verweisen kannst.


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