Strafbarkeit des sog. Stealthings (heimliches Abstreifen des Kondoms beim Geschlechtsverkehr)


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Als T (38) und O (20) Geschlechtsverkehr haben, streift T sein Kondom heimlich ab („Stealthing"). Dann ejakuliert er in die Vagina der O. Vor dem Geschlechtsverkehr hatte O deutlich und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie keinen Sex ohne Kondom haben wolle.

Einordnung des Falls

Strafbarkeit des sog. Stealthings (heimliches Abstreifen des Kondoms beim Geschlechtsverkehr)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Da keine Nötigungshandlung vorliegt, scheidet eine Strafbarkeit nach § 177 Abs. 1 StGB (Sexueller Übergriff) von vorneherein aus.

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Nein, das trifft nicht zu!

Das von § 177 StGB geschützte Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung beinhaltet die Freiheit der Person, über Zeitpunkt, Art, Form und Partner sexueller Betätigung nach eigenem Belieben zu entscheiden. Die Norm wurde 2016 mit dem 50. StÄG grundlegend dogmatisch umgestaltet. Nunmehr macht sich wegen sexuellen Übergriffs unter anderem strafbar, wer eine sexuelle Handlung gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person an dieser vornimmt (§ 177 Abs. 1 Var. 1 StGB). Mithin bedarf es eines Nötigungselements - wie bei § 177 StGB a.F. - gerade nicht. Fraglich ist allein, ob T „gegen den erkennbaren Willen" der O handelte.

2. Da der Geschlechtsverkehr an sich einvernehmlich erfolgte, ist umstritten, ob allein die vom Opfer unbemerkte Missachtung des Kondomwunsches zur Tatbestandserfüllung ausreicht.

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Ja!

Nach dem Schutzzweck der Norm kann der Rechtsgutsinhaber nicht nur darüber entscheiden, ob überhaupt Geschlechtsverkehr stattfinden soll, sondern auch darüber, unter welchen Voraussetzungen er mit einer sexuellen Handlung einverstanden ist. Gleichwohl wird vertreten, dass der Täter durch den vorgetäuschten Kondomgebrauch nur den Willen des Sexualpartners manipuliere, so dass dieser sich in Unkenntnis des „Stealthings" mit der sexuellen Handlung insgesamt einverstanden erkläre. Hiergegen wird vorgebracht, dass das Opfer ausdrücklich einen anderslautenden Willen artikuliert habe, den der Täter konterkariere. Dieser eindeutig erkennbare Gegenwille des Opfers begründe den sexuellen Übergriff.

3. Nach Ansicht des KG Berlin unterfällt das sog. Stealthing jedenfalls dann § 177 Abs. 1 StGB, wenn in den Körper des Opfers ejakuliert wird.

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Genau, so ist das!

Nach dem KG Berlin reicht es jedenfalls aus, dass der T die O nicht nur gegen ihren Willen in ungeschützter Form penetrierte, sondern im weiteren Verlauf darüber hinaus in ihren Körper ejakulierte. Wenn der gegen den Opferwillen ungeschützt vorgenommene Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss in der Vagina der Geschädigten vollzogen wird, weise das Verhalten des Täters im Vergleich zum konsentierten Verkehr mit Kondom eine andere rechtliche Qualität von strafbarkeitsbegründender Erheblichkeit auf, so dass dieser Geschlechtsverkehr als tatbestandsmäßige sexuelle Handlung anzusehen sei (§ 177 Abs. 1 StGB). T handelte vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft.

4. T hat das Regelbeispiel des § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB (Vergewaltigung) verwirklicht.

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Ja, in der Tat!

Der Vollzug des Beischlafs bildet das Regelbeispiel eines besonders schweren Falles nach § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB ab. Da beim „Stealthing“ der Geschlechtsverkehr an sich von gegenseitigem Einvernehmen umfasst ist, könnte das Regelbeispiel kontraindiziert sein. Zu bedenken ist indes, dass T die Lage der O faktisch zur Tatbegehung genutzt und beim Erwirken ihrer Bereitschaft, sich überhaupt auf einen sexuellen Kontakt mit ihm einzulassen, auch das Vertrauen der deutlich jüngeren O in die Wahrhaftigkeit seiner Erklärungen ausgenutzt hat. Daher spricht viel für die Annahme eines besonders schweren Falles.

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Pilea

Pilea

3.1.2023, 11:15:31

Danke für das Aufgreifen dieses wichtigen Themas. Zur rechtlich anderen Qualität finde ich wichtig auszuführen, dass sowohl das Risiko einer Schwangerschaft, die mit erheblichen körperlichen, auch bleibenden Schäden, einhergehen kann, als auch das Risiko einer sexuell übertragbaren Krankheit besteht. Oft wird der Vergleich zum heimlichen Absetzen der Pille durch die Frau gezogen. Auch wenn dies mMn ein schlimmes Handeln ist, ist die Qualität der Rechtsgutsverletzung eine gänzlich andere, da das Risiko einer Krankheitsübertragung ohnehin bestand und der Mann nicht selber das "Körperverletzungsrisiko" (unjuristisch gesprochen) einer Schwangerschaft, sondern lediglich das "Unterhaltsrisiko" tragen muss. Eine Frage: wo kommt die Beleidigung, §185 StGB, her?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.1.2023, 11:56:56

Hallo Pilea, vielen Dank für Deine guten Hinweise! Zu deiner Frage: In der Tat stellt nicht jedes Sexualdelikt einen Angriff auf die persönliche Ehre dar. Vielmehr sind maßgebend für das Vorliegen einer Ehrenkränkung in diesem Bereich die Gesamtumstände des Einzelfalles. Zu berücksichtigen sind ua Alter, Bildungsgrad und Stellung des Täters, etwaige persönliche Beziehungen zwischen den Beteiligten, der Umgangston in den betreffenden Kreisen, die Ortsüblichkeit bestimmter Ausdrücke und das Gewicht, das dem Vorgang beizumessen ist. (MüKoStGB/Regge/Pegel, 4. Aufl. 2021, StGB § 185 RdNr. 17). Insoweit dürfte es vorliegend an entsprechenden Hinweisen im Sachverhalt fehlen, dass tateinheitlich auch eine Beleidigung verwirklicht ist. Auch das KG hat dies im zugrunde liegenden Fall nicht bejaht. Den entsprechenden Passus haben wir deshalb entfernt. Grundsätzlich solltest Du dies aber zumindest gedanklich kurz prüfen, ob dies in Betracht zu ziehen ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Alfonso_Nitti

Alfonso_Nitti

2.3.2024, 13:42:44

Liebes Jurafuchs-Team, tolle Aufgabe, wichtiges Thema. Meiner Meinung nach ist die Ansicht des Kammergerichts zu locker. Der Partner hat klar verständlich zum Ausdruck gebracht, er wolle, wenn Geschlechtverkehr, dann mit Verhütungsmittel (hier: in Form eines Kondoms). Wenn der Partner, diese Vereinbarung missachtet, indem er heimlich das Kondom abnimmt, liegen mE die Voraussetzungen des § 177 Abs. 1 StGB mE bereits vor.


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