Aids-Infizierung trotz betätigtem Vermeidungswillen – Abgrenzung Eventualvorsatz / bewusste Fahrlässigkeit


mittel

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

T schläft mit O, ohne ihr von seiner HIV-Infektion zu erzählen. T geht davon aus, durch die Benutzung eines Kondoms die Ansteckungsgefahr ausgeschlossen zu haben. Kondome bieten einen sicheren, aber keinen hundertprozentigen Infektionsschutz. O steckt sich an.

Einordnung des Falls

Aids-Infizierung trotz betätigtem Vermeidungswillen – Abgrenzung Eventualvorsatz / bewusste Fahrlässigkeit

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Infizierung mit HIV ist eine Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Richtig! Im Strafgesetzbuch steht: „Wer einen anderen körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“ (§ 223 Abs. 1 StGB). Unter Gesundheitsschädigung versteht man das Hervorrufen oder Steigern eines pathologischen, das heißt eines nachteilig von den normalen körperlichen Funktionen abweichenden Zustandes körperlicher oder seelischer Art. Durch die Infizierung mit HIV wird – selbst wenn Aids noch nicht ausgebrochen ist – eine negative Abweichung vom körperlichen Normalzustand bewirkt.

2. T hat ein Kondom verwendet, um eine Infektion der O zu vermeiden. Er handelte ohne Vorsatz.

Ja!

Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB ist nur strafbar, wenn der Täter mit Vorsatz handelt (§ 15 StGB). Vorsatz ist das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. Nimmt der Täter ernsthafte Vermeidungsbemühungen bzw. Gegensteuerungsversuche vor, liegt ein sog. betätigter Vermeidungswille vor. Dieser schließt den Vorsatz aus. T ging davon aus, mit der Benutzung des Kondoms (als Vermeidungsstrategie) für O die Ansteckungsgefahr ausgeschlossen zu haben. T handelte ohne Vorsatz.

3. Eine Körperverletzung ist auch strafbar, wenn der Täter sie fahrlässig verursacht.

Genau, so ist das!

Richtig! § 223 Abs. 1 StGB stellt die vorsätzliche Körperverletzung unter Strafe. Doch es gibt daneben einen Straftatbestand für die fahrlässige Körperverletzung. In § 229 StGB heißt es: "Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung einer anderen Person verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." Die höchstmögliche Freiheitsstrafe beträgt bei der fahrlässigen Körperverletzung drei Jahre (im Unterschied zur vorsätzlichen Körperverletzung: fünf Jahre).

4. T hat sich nach Auffassung des BGH (1988) wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) strafbar gemacht, indem er O fahrlässig mit HIV infiziert hat.

Nein, das trifft nicht zu!

§ 229 StGB setzt voraus, dass der Täter die Körperverletzung begeht, indem er eine Sorgfaltspflicht verletzt und die Körperverletzung als mögliche Folge vorausgesehen hat. Welche Sorgfaltspflichten gelten, hängt davon ab, wie ein gewissenhafter Mensch sich verhalten würde.Beim Sexualverkehr kann die Ansteckungsgefahr durch Benutzung von Kondomen nicht völlig ausgeschlossen, aber wesentlich verringert werden. Indem T ein Kondom benutzt hat, hat er nach Ansicht des BGH im Jahr 1988 eine ausreichende Schutzmaßnahme getroffen und die verkehrserforderliche Sorgfalt beachtet. Das verbleibende Infektionsrisiko gilt als sog. erlaubtes Risiko.Heutzutage stehen über das Kondom hinaus deutlich mehr Möglichkeiten zur Verfügung, eine Infektion mit HIV zu verhindern, weswegen nach heutigem Maßstab die Annahme einer fahrlässigen Körperverletzung gut vertretbar wäre.

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OG

Oggi

27.12.2019, 17:46:17

Ich finde ein durchschnittlicher gewissenhafter Mensch erfüllt seine Sorgfaltspflicht erst, wenn er seinen Sexualpartner zusätzlich über seine Krankheit und das (trotz Benutzung des Kondoms verbleibende) Restrisiko einer Infektion aufklärt. Erlaubtes Risiko realisiert sich demnach meiner Meinung nur in Fällen in denen der Infizierte selbst nichts von seiner Infektion weiß.

Amin

Amin

26.2.2020, 19:09:08

Und was willst du damit sagen he ich habe es nicht verstanden

Julianne

Julianne

10.8.2020, 10:49:19

Ich stimme dir zu Oggi. Wer die Krankheit hat (und dies natürlich weiß), muss dies immer mitteilen, auch wenn das hart ist. Ich hab meine Partner auch immer gefragt, ob sie Krankheiten haben (was zurecht immer verneint wurde). Aber Nachfragen schützt oft nicht. Da kann sehr schnell mal gelogen werden. Klar strafrechtlich ist man dann auf der sicheren Seite, aber gesundheitlich eventuell nicht. Deswegen liegt eine viel größere Verantwortung bei demjenigen, der das Virus in sich trägt mM nach.

GEL

gelöscht

29.12.2019, 09:19:02

Ich bin da durchaus bei dir, der BGH hat aber anders entschieden. Man kann das sicher so oder so sehen, aber solange der BGH nicht von seiner Rechtsprechung abweicht, wird sich an der Lösung des Falls nichts ändern.

AQUA

aquamarine_skyfire

1.4.2020, 09:16:50

Frage 1 und Frage 2 sind widersprüchlich, T kann sich nicht gem. § 223 I StGB strafbar machen, wenn er keinen Vorsatz hat.

LawLeo2

LawLeo2

10.4.2020, 16:43:06

Straftatbestände geben, mit Ausnahme der Beschreibung voluntativer Elemente (z.B. der Zueignungsabsicht bei § 242 I StGB,

Bereicherungsabsicht

bei § 263 I StGB), immer nur den objektiven Tatbestand wider. Hier suggeriert Frage 1 somit, dass die Ansteckung eine tatbestandliche Handlung i.S.d. § 223 I StGB mit entsprechendem Erfolg darstellt. Ob T sich deshalb strafbar gemacht hat, muss dann noch geklärt, und aufgrund des fehlten Vorsatzes abgelehnt werden.

SH

Shivi

13.4.2020, 13:31:32

Könnte ihr nicht von seiner Infektion zu erzählen nicht als objektive Sorgfaltspflichtverletzung zählen?

Ugurince._

Ugurince._

13.4.2020, 17:14:33

Es handelt sich um die sogenannte Fall Gruppe des erlaubten Risikos: Objektiv nicht zurechenbar ist ein Erfolg, der aus einem Verhalten entspringt, das sich noch im Rahmen des allgemeinen Lebensrisikos bzw. des von der Gesellschaft tolerierten Risikos hält und daher als sozi- aladäquat anzusehen ist.

Abcdef

Abcdef

19.5.2020, 18:44:15

Es handelt sich wenn um eine unterlassene Aufklärung aus Garantenstellung aufgrund einer persönlicher Nähebeziehung. Da der Vorsatz fehlt, handelt es sich um ein fahrlässiges unechtes Unterlassungsdelikt. Dies ist möglich aber unter „Unterlassung einer geeigneten und erforderlichen Verhinderungshandlung trotz physisch-realer Handlungsmöglichkeit“ zu prüfen und nicht als Sorgfaltspflichtverletzung, schließlich sehe ich keine Nicht-Berücksichtigung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Er hat ja immerhin ein Kondom benutzt.

GEL

gelöscht

1.6.2020, 18:13:38

Die O hat selber ihre Sorgfaltspflicht verletzt indem sie nicht gefragt hat.

Judge Fudge

Judge Fudge

13.9.2020, 16:33:57

Könnte O nicht angenommen haben, dass wenn T eine Sexuell übertragbare Krankheit hat ihr es auch mitteilen würde?

GEL

gelöscht

19.3.2021, 10:27:31

Hallo zusammen, anders als das medial häufig suggeriert wird, zählt HIV zu den schwer übertragbaren Krankheiten. Beim Vaginalverkehr kann das Risiko durch die korrekte Anwendung eines Kondoms nahezu ausgeschlossen werden. Was bleibt ist keine rechtlich missbilligte Gefahr mehr. Hier würde die Strafbarkeit aber auch bei anderer Wertung spätestens an der subjektiven Vorhersehbarkeit scheitern. Ob T der O von seiner Krankheit erzählt oder nicht, ist für die objektive Sorgfaltspflichtverletzung nicht entscheidend. Selbst wenn er es ihr erzählt und sie daraufhin angesteckt hätte, wäre es eine tatbestandliche fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB). Lediglich die Rechtswidrigkeit würde entfallen (§ 228 StGB Einwilligung). Viele Grüße Adrian, für das Jurafuchs-Team

EM

Emre

13.5.2020, 01:44:45

Hallo Liebe Juries, Ich habe ein Problem mit Fahrlässig und Vorsatz ! Ich kann mir das nicht so gut Merken, habt ihr evtl. Ein Trick dafür ?

Abcdef

Abcdef

19.5.2020, 18:25:30

Kennt der Täter die Gefährlichkeit seines Handelns, vertraut er jedoch auf einen sicheren Ausgang so liegt Fahrlässigkeit vor. Weist der Sachverhalt hingegen klar darauf hin, dass der Täter die Gefährlichkeit kennt, jedoch bloß darauf hofft oder bloß leichtsinnig darauf vertraut, es werde schon nichts passieren, sollte man sich für Vorsatz entscheiden. Satzger gibt insoweit eine Faustformel: Ist die Einstellung des Täters zur

Tatbestandsverwirklichung

„Na wenn schon“, deutet dies auf (bedingten) Vorsatz hin. Sagt sich der Täter „Es wird schon gutgehen“, so spricht dies für bewusste Fahrlässigkeit.

EM

Emre

23.5.2020, 00:26:52

Super Herzlichen Dank

GEL

gelöscht

1.6.2020, 18:11:56

Es ist allgemein bekannt, dass ein Kondom nicht nur undicht sein kann, sondern auch platzen, rutschen, etc. kann. Ich finde dieses Restrisiko hätte als allgemeine Lebenserfahrung eingestuft werden sollen und dem T zugerechnet werden sollen. Meiner Meinung nach liegt hier immer noch eine fahrlässige Körperverletzung vor. Andererseits ist der O auch die allgemeine Lebenserfahrung zuzurechnen, dass sie sich besser hätte informieren können. Sie hat also ihre eigene Sorgfaltspflicht verletzt und sich selber der Gefahr ausgesetzt.

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

1.6.2020, 18:46:53

Halte ich für vertretbar. Dann wäre aber eine rechtfertigende Einwilligung der O nach 228 StGB zu prüfen und bei Verneinen, im Rahmen der Schuld, die subjektive Vorhersehbarkeit für T.

PPAA

Philipp Paasch

2.6.2022, 00:02:40

Ich gebe dir recht, wenn du sagst, dass das Kondom verrutschen kann. So weit sollte man im geschlechtsreifen Alter denken können. Dass O aber eine Art Nachforschungspflicht trifft, halte ich für zu weit gegriffen. Man darf davon ausgehen, dass der andere selbst einen vor übertragbaren Krankheiten warnt.

Pilea

Pilea

3.1.2023, 11:29:06

Der Satz "Einen besseren Schutz [zum Kondom] gibt es nicht" stimmt heute nicht mehr. Es gibt mittlerweile Medikamente, die die Viruslast im HIV-Träger unterdrücken, sodass eine Infektion nahezu ausgeschlossen ist, selbst ohne Verwenden eines Kondoms. Und es gibt PrEP-Medikamente, die der HIV-negative Mensch nehmen kann, die eine Ansteckung verhindern. Zusätzlich gibt es, ähnlich wie die 'Pille danach', Notfallmedikamente für zB Kondomplatzer. Auch wenn dieser Fall 1988 entschieden worden ist, müsste heute wohl anders entschieden werden. Denn hätte der HIV-Träger die Geschlechtspartnerin informiert, hätte sie sich besser schützen können als ausschließlich mit einem Kondom.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.1.2023, 12:04:29

Sehr guter Hinweis, Pilea! Vielen Dank dafür. Wir haben den Antworttext entsprechend angepasst und deutlich gemacht, dass dies der Bewertung des BGH im Jahr 1988 entspräche, heute aber durchaus ein anderes Ergebnis naheliegt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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