Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2021
Anspruch eines Mädchen auf Aufnahme in einen Knabenchor?
Anspruch eines Mädchen auf Aufnahme in einen Knabenchor?
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die 11-jährige K, eine talentierte Sängerin, würde gerne im Knabenchor („Staats- und Domchor“) der staatlichen Hochschule (B) des Landes Berlin singen. B lehnt den Aufnahmeantrag der K ab. K sieht sich diskriminiert und in ihrem Anspruch auf gleiche Teilhabe an staatlichen Leistungen und an staatlicher Förderung verletzt.
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Einordnung des Falls
Anspruch eines Mädchen auf Aufnahme in einen Knabenchor?
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K erhebt Klage vor dem VG. B meint, Streitigkeiten um den „Domchor“ gehörten vor die Gerichtsbarkeit kirchlicher Gerichte. Ist hier der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten eröffnet?
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Für die Klage ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet, wenn eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art vorliegt und es an einer abdrängenden Sonderzuweisung fehlt (§ 40 Abs. 1 VwGO).
Ja, in der Tat!
3. Laut Satzung hat der Knabenchor die musikalische Erziehung und Förderung zum Gegenstand. Handelt es sich bei dem Knabenchor um eine öffentliche Einrichtung?
Ja!
4. Weil der Knabenchor eine öffentliche Einrichtung ist und K Zugang zu ihm begehrt, sind die streitentscheidenden Normen öffentlich-rechtlich i.S.d. § 40 Abs. 1 VwGO. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet.
Genau, so ist das!
5. K wehrt sich gegen die Ablehnung ihres Aufnahmeantrags durch B. Ist die statthafte Klageart hier die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO)?
Nein, das trifft nicht zu!
6. Die Klage der K ist begründet, wenn die Ablehnung des Aufnahmeantrags rechtswidrig ist und K dadurch in ihren Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Ja!
7. Als Anspruchsgrundlagen für die Aufnahme in den Knabenchor kommen der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG bzw. Art. 10 Abs. 1 VvB) sowie das landesverfassungsrechtliche Recht auf Bildung (Art. 20 Abs. 1 VvB) in Betracht.
Genau, so ist das!
8. Allerdings darf B die Zugangsvoraussetzungen und die Benutzungsbedingungen für die öffentliche Bildungseinrichtung „im Rahmen der Gesetze“ selbstständig regeln.
Ja, in der Tat!
9. Nach Bs Ansicht sei das maßgebliche Kriterium für die Aufnahme in den Knabenchor nicht das Geschlecht, sondern die stimmliche Fähigkeit der Bewerber, einen „Knabenchorklang“ zu erzeugen. Stellt dies eine faktische bzw. mittelbare Ungleichbehandlung weiblicher Bewerberinnen dar?
Ja!
10. An das Geschlecht anknüpfende (unmittelbare oder mittelbare) Ungleichbehandlungen (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG) sind immer verfassungswidrig.
Nein, das ist nicht der Fall!
11. Der Staats- und Domchor ist die älteste musikalische Einrichtung Berlins und u.a. als Knabenchor seit Jahrhunderten kultureller Bestandteil des Landes. Könnte dieser Aspekt als kollidierendes Verfassungsrecht die mittelbare Ungleichbehandlung von K aufgrund des Geschlechts rechtfertigen?
Ja, in der Tat!
12. Wäre die Ungleichbehandlung der K verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn die Aufnahme von Mädchen in den Knabenchor zur Folge hätte, dass der spezifische „Knabenchorklang“ verfehlt würde?
Ja!
13. Bs Chorleiter urteilt, dass K weder im Zeitpunkt ihres Aufnahmebegehrens noch in angemessener Zeit stimmlich in der Lage sei, das Klangbild des Knabenchors zu erzeugen. K meint, dies sei rechtsfehlerhaft. Ist die Einschätzung des Chorleiters gerichtlich voll überprüfbar?
Nein, das ist nicht der Fall!
14. Die Klage der K ist begründet.
Nein, das trifft nicht zu!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Philipp von Pentz
9.7.2022, 00:19:17
Eine wichtige Ergänzung wäre m.E., dass selbst wenn man verneinen würde, dass die staatliche Kunsthochschule sich auf die Kunstfreiheit berufen kann, sich trotzdem der Chorleiter auf Art. 5 III GG berufen kann. Dies leuchtet mir aufgrund der künstlerischen Betätigung ein, die auch die Auswahl des gewünschten Klang- bzw. Stimmbildes des Chores umfassen muss. Meines Erachtens gebietet es die Kunstfreiheit, dass es dem Chorleiter überlassen sein muss ( i.R. seines Beurteilungsspielraums ) wie der Chor klingen soll.
Philipp von Pentz
9.7.2022, 00:30:45
Insofern finde ich das Abstellen auf die Kunstfreiheit auch überzeugender als den Schutz des Kulturerbes anzuführen. Die Kunstfreiheit ist nämlich auch etwas Subjektives, dem rationalen Verstehen entzogenes. Die Förderung der Kulturpflege als Rechtfertigung eröffnet dagegen das Problem, das man so Förderungswürdigkeit der Kunst (hier: des Knabenchores) anhand objektiver öffentlicher Anerkennungen (hier: Unesco, immaterielles Kulturerbe) bewertet. Wichtiger ist aber das subjektive klangliche Hörerlebnis.
Philipp Paasch
9.7.2022, 00:56:46
Das Gericht hat m.W.n. auch die Kunstfreiheit untersucht. Allerdings steht hier Kunstfreiheit gegen Kunstfreiheit.
Philipp von Pentz
9.7.2022, 01:39:14
Bloß merkt ja das Gericht wie ich finde zutreffend an, dass sie 'als Mädchen weder faktisch von der Teilhabe an einem bestimmten Bereich gesellschaftlicher Betätigung ausgeschlossen noch werde ihr die grundsätzliche Möglichkeit genommen, in anderen Chören zu singen und in Gesangseinrichtungen eine musikalische Ausbildung mit vergleichbarem Niveau zu erhalte' Es geht ja mittelbar auch um die vielen Knaben, die dort in einem gewissen Tonspektrum singen, und nicht nur um das Mädchen auf der einen und die Chorleitung auf der anderen Seite. Daher ist da ein gewisser Beurteilungsspielraum gegeben. Und weder Willkür noch sachfremde Erwägungen liegen vor, womit das schon von der Befugnis des Chorleiters umfasst ist.
Wendelin Neubert
3.10.2023, 09:55:14
Danke für eure Einschätzungen @[Philipp von Pentz](178033) und @[Philipp Paasch](173758). In der Tat führt das OVG in der Entscheidung auch Erwägungen zur Kunstfreiheit des Chorleiters ins Feld. Wir haben diese nicht erwähnt, weil sie nach unserem Dafürhalten rechtlich hier keine Rolle spielen darf (und der Fall kompliziert genug ist): Der Chorleiter ist hier das (künstlerische) Organ des Chores. Der Chor ist staatlich, die Auseinandersetzung also auch öffentlich-rechtlich. Der Chor und der Chorleiter sind damit als Träger öffentlicher Gewalt gemäß Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsverpflichtet. Sie können sich daher nicht zugleich auch auf Grundrechte berufen (
Konfusionsargument). Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
ahimes
18.10.2022, 15:51:03
Darüber hinaus hätte es sicherlich auch Mädchenchore gegeben, wo K unproblematisch hätte aufgenommen werden können. Der Knabenchor heißt ja nicht umsonst Knabenchor. Ich glaube an der einen oder anderen Stelle hätte man noch stichfester argumentieren können. Aber im Ergebnis bin ich d'accord mit dem OVG
Wendelin Neubert
3.10.2023, 09:41:33
Danke für deine Einschätzung @[ahimes](191697). Das besondere ist, dass der Knabenchor des Staats- und Domchores Berlin seinen jungen Sängern eine besonders gute musikalische Ausbildung eröffnet, die für die weitere musikalische Entwicklung der Sänger sehr förderlich ist. Diese besonders gute Ausbildung gibt es jedenfalls in Berlin für junge Sängerinnen wohl nicht noch ein zweites Mal. Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
Edward Hopper
19.10.2022, 00:00:46
Also finde schon Krass dass ein Mädchen bei einem seit Jahrhunderten von Jahren bestehenden Jungenchor nicht aufgenommen wird. Und die einzige gerichtfeste Begründung ist auf biegen und brechen die, dass sie nicht den Klang habe. How about es ist ein Knabenchor seit 400 Jahren, so pls stop. Das ist doch ein Einfallstor für Woke Helikoptereltern
Philipp Paasch
19.10.2022, 08:22:38
Wie bitte?^^
kartoffelkapitän
20.10.2022, 11:32:23
Ein Knabenchor bleibt nun mal ein Knabenchor Punkt
Abi
28.3.2023, 08:39:34
Alice, bist du es?
Wendelin Neubert
3.10.2023, 09:48:22
Danke für deine Einschätzung @[Edward Hopper](174080). Allein das historische Argument, der Chor war 400 Jahre Knabenchor und müsse das deshalb auch bleiben (dürfen), ist zwar verfassungsrechtlich als kulturelle Errungenschaft zu berücksichtigen. Ob dieses Argument den besonders hohen Anforderungen zur Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 3 Abs. 3 GG (siehe dazu die Hinweistext der Aufgabe) genügt, erscheint jedoch sehr zweifelhaft. Hoffe das hilft. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
Wendelin Neubert
3.10.2023, 10:23:11
Nachtrag zur Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG): Das BVerwG hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1981 (6 P 27/79, NJW 1982, 666) den künstlerischen Mitgliedern eines städtischen Theaters das Recht zugesprochen, sich auch selbst auf die Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG zu berufen, obwohl sie für eine
öffentliche Einrichtungtätig waren. Dies wird auch in anderen Kontexten diskutiert; zentrales Argument ist der besondere Schutz, den die Kunstfreiheit vermittelt, und die außergewöhnliche Stellung künstlerischer Leiter innerhalb staatlicher Kultureinrichtungen. Wir sind hiervon allerdings rechtlich nicht überzeugt: Zwar muss sich der künstlerische Leiter einer staatlichen Kultureinrichtung dann auf die Kunstfreiheit berufen dürfen, wenn er sich gegen Maßnahmen des Staates – etwa der nicht-künstlerischen Leitung seiner eigenen staatlichen Kultureinrichtung – w
ehren möchte. Dem künstlerischen Leiter aber gegenüber anderen Bürgern eine Berufung auf die Kunstfreiheit zuzubilligen, steht im Widerspruch zu seiner Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs. 3 GG). Die damit verbundene Privilegierung des künstlerischen Leiters gegenüber anderen Staatsbediensteten, die sich im Rahmen ihrer Amtsgeschäfte auch nicht auf die Meinungsfreiheit berufen dürfen, ist nicht geboten; die Spielräume, die dem künstlerischen Leiter einer staatlichen Kultureinrichtung bei der Ausübung seines Amtes eingeräumt sind, werden rechtlich hinreichend berücksichtigt, ohne dass er sich dafür auf die Kunstfreiheit müsste berufen können.
Sambadi
16.4.2023, 01:01:49
Verstehe wirklich nicht, warum sich das Gericht vorliegend nur auf den Knabenchorklang bezogen hat. Wenn B oder andere vergleichbare Bildungseinrichtungen auch einem Chor für Mädchen oder gemischte Chore/Chors (?) anbieten (was bei uns in Berlin zu 100% der Fall sein wird), verstehe ich nicht wo das Problem ist. Stellt im Bezug auf den staatlich garantieren Zugang zu öffentlichen Bildungseinrichtungen dann keine große Benachteiligung dar. Im Mannschaftssport ist es doch völlig normal die Teams nach Geschlecht zu unterscheiden. Auch in (öffentlichen) Bäderbetrieben gibt es Tage, in denen Männer kein Zugang haben. Weiß jetzt nicht ob es noch sowas wie reine Mädchen- und Jungsschulen gibt (in Bayern locker), aber das wird doch auch problemlos anerkannt oder nicht? - insbesondere im kirchlichen Zusammenhang. Da müsste man doch eigentlich auch immer eine Ungleichbehandlung wegen Geschlecht annehmen. Könnte mir im Bespiel dieses Chors vorstellen, dass man dahingehend argumentieren kann, dass dieser Domchor eben so erfolgreich und berühmt ist und den Mädchen damit, nicht die Chance gegeben wird auf „einem gesellschaftlich gleich angesehenen Niveau“ zu singen. Aber es ist hier nicht ersichtlich, ob dies wirklich der Fall ist mMn.
Bilbo
26.7.2023, 12:35:39
*Chöre :)
Wendelin Neubert
3.10.2023, 09:43:17
Danke für deine Einschätzung @[Sambadi](136933). Das besondere ist, dass der Knabenchor des Staats- und Domchores Berlin seinen jungen Sängern eine besonders gute musikalische Ausbildung eröffnet, die für die weitere musikalische Entwicklung der Sänger sehr förderlich ist. Diese besonders gute Ausbildung gibt es jedenfalls in Berlin für junge Sängerinnen wohl nicht noch ein zweites Mal. Wir haben diese Info im Hinweistext der Aufgabe noch ergänzt. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
IsiRider
8.7.2023, 21:43:45
Ans Orgateam: wäre es vielleicht möglich, gezielt die Entscheidungen angezeigt zu bekommen, die in den letzten Examensdurchgängen liefen?
Lukas_Mengestu
11.7.2023, 15:54:51
Hallo IsiRider, bei den Playlisten findest Du die Playlist "Examenstreffer" in die sämtliche aktuelle Entscheidungen aufgenommen werden, von denen wir wissen, dass sie dran kamen. Die neuesten findest Du jeweils ganz unten :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
IsiRider
11.7.2023, 16:15:42
Ah, perfekt. Toll, wie sich Jurafuchs entwickelt hat. Weiter so!