Angemessenheit: Blutspende-Fall

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

S droht im Krankenhaus zu verbluten. Dort befindet sich auch der robuste Patient P zu einer Kontrolluntersuchung. P allein kommt als Spender für eine Bluttransfusion in Betracht. Trotzdem möchte er kein Blut spenden. Dennoch entnehmen die Ärzte A und B dem P mittels einer Spritze Blut, um das Leben des S zu retten.

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Einordnung des Falls

Angemessenheit: Blutspende-Fall

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Bayern 2024

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Ärzte A und B haben den Tatbestand einer gefährlichen Körperverletzung erfüllt (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2, Nr. 4 StGB).

Genau, so ist das!

A und B haben den P durch den Einstich in seine Haut und die Blutentnahme übel und unangemessen behandelt und dabei sein körperliches Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt (körperliche Misshandlung). Hierdurch haben Sie auch einen pathologischen Zustand herbeigeführt (Gesundheitsschädigung). Dies haben sie mittels einer Spritze, also mit einem gefährlichen Werkzeug mit jeweils dem anderen gemeinschaftlich getan (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2, Nr. 4).
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2. A und B handeln nach § 32 StGB gerechtfertigt

Nein, das trifft nicht zu!

Hierfür müssten sich A und B zunächst in einer Notwehr-/Nothilfelage befunden haben. Eine solche liegt bei einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff gegen sie (Notwehr) bzw. einen Dritten (Nothilfe) vor.In Betracht kommt allein ein Angriff auf das Leben/körperliche Unversehrtheit des S, indem sich P weigerte an diesen Blut zu spenden. Ein Angriff durch Unterlassung setzt allerdings eine entsprechende Garantenstellung voraus. Eine Rechtspflicht zur Blutspende besteht allenfalls innerhalb engster Schutz- und Beistandspflichten (zB Ehe, Eltern-Kind). Eine entsprechende Beziehung zwischen S und P bestand nicht. Somit lag seitens P auch kein Angriff auf S vor. Damit fehlt es an einer Nothilfelage.Entgegen der hL lehnt der BGH einen Angriff durch Unterlassen sogar gänzlich ab. Denn bereits begrifflich setze ein Angriff „aktives Verhalten“ voraus.

3. Die gewaltsame Blutabnahme könnte durch den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) gerechtfertigt sein, da eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben des S vorliegt.

Ja!

Der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) erfordert (1) eine Notstandslage, (2)eine Notstandshandlung und (3)einen Verteidigungswillen. Eine Notstandslage besteht bei einer gegenwärtigen Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut. Notstandsfähige Rechtsgüter sind nach der h.M. sowohl Individualgüter als auch Allgemeingüter. Eine Gefahr liegt vor, wenn bei ungestörtem Fortgang des Geschehens die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritt besteht. Gegenwärtig ist sie, wenn sich die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts so verdichtet hat, dass die zum Schutz des bedrohten Rechtsguts notwendigen Maßnahmen sofort einzuleiten sind.S drohte zu verbluten, sodass sein Leben bedroht war.

4. Damit die Notstandshandlung rechtmäßig ist, dürfte die Gefahr nicht anders abwendbar sein und das notstandsfähige Rechtsgut muss das beeinträchtigte wesentlich überwiegen (§ 34 StGB).

Genau, so ist das!

Die Notstandshandlung ist rechtmäßig, wenn sie (1) nicht anders abwendbar, (2) verhältnismäßig und (3) angemessen ist. Das Merkmal der Nicht-anders-Abwendbarkeit entspricht dem der Erforderlichkeit bei der Notwehr (§ 32 StGB). Zudem muss das geschützte Rechtsgut das durch die Notstandshandlung beeinträchtige Rechtsgut wesentlich überwiegen (Interessenabwägung).Ohne Ps Blut„spende“ wäre S verblutet. S' Leben überwiegt wesentlich Ps körperliche Unversehrtheit.Die Verletzung von Ps Selbstbestimmungsrecht wird in der Angemessenheit behandelt. Eine Erörterung im Rahmen der Interessenabwägung ist jedoch ebenfalls eine vertretbare Lösung.

5. Die gewaltsame Blutabnahme war auch angemessen.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Angemessenheit ist ein Korrektiv, um insbesondere die Einheit der Rechtsordnung zu wahren und die Belastungsgrenze für den Betroffenen unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten zu ermitteln. Ähnlich wie bei der Gebotenheit im Rahmen der Notwehr, haben sich bestimmte Fallgruppen etabliert, um den Begriff zu konkretisieren. Nach h.M. ist eine Verteidigungshandlung jedenfalls dann nicht angemessen, wenn dadurch in die Menschenwürde eingegriffen wird. Jeder hat das Recht auf freie Selbstbestimmung (Autonomieprinzip).Der menschliche Körper darf nicht instrumentalisiert werden. Es muss dem Einzelnen überlassen werden, ob er Blut spendet. Da sich P weigert, ist diese Entscheidung zu respektieren. A und B dürfen sich nicht über sie stellen. Eine Blutabnahme ist nicht angemessen und die gewaltsame Blutabnahme deshalb nicht nach § 34 StGB gerechtfertigt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FABY

Faby

24.4.2023, 12:37:26

In diesem Fall wird zum ersten Mal ein Angriff durch Unterlassen auch bei der Notwehr angesprochen, oder? Wäre cool, wenn es dazu auch in den Kapiteln zur Notwehr noch Fälle/weitere Erklärungen gäbe :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

24.4.2023, 13:01:55

Lieben Dank für das Feedback, nehmen wir noch mit auf :-) Beste Grüße, Lukas

KI

kim.

1.2.2024, 23:20:01

In der Aufgabe wird mehrfach irreführenderweise von Notwehr und Notwehrhandlung gesprochen, obwohl eigentlich Notstand gemeint ist.

LELEE

Leo Lee

3.2.2024, 14:07:35

Hallo kim., vielen Dank für den Hinweis! In der Tat hatte sich hier der Fehlerteufel eingeschlichen! Wir danken dir vielmals dafür, dass du uns dabei hilfst, die App zu perfektionieren und freuen uns auf weitere Feedbacks von dir :)!! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

MEL

melli14

18.2.2024, 16:13:39

Ist die Spritze denn wirklich ein gefährliches Werkzeug? Objektiv schon aber in der Hand eines lege artis handelnden Arztes wird sie grundsätzlich nicht dazu verwendet erhebliche Verletzungen herbeizuführen.

AS

as.mzkw

13.10.2024, 17:52:58

Das ist eine vertretene Ansicht, ja. Eine andere Ansicht nimmt immer an, dass ärztliche Heileingriffe stets den TB der §§ 223,

224 StGB

erfüllen, der Arzt jedoch bei einer entsprechenden Einwilligung des Patienten gerechtfertigt handelt.


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