Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Rechtfertigungsgründe

Interessenkollision bei demselben Rechtsträger

Interessenkollision bei demselben Rechtsträger

13. Februar 2025

22 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

In der Hochhauswohnung der Freundinnen T und H ist ein großer Brand entstanden. Der Sprung aus dem Fenster in ein Sprungtuch der Feuerwehr stellt den einzigen Ausweg dar. H hat fürchterliche Höhenangst und weigert sich zu springen. Daraufhin wirft T die H aus dem Fenster.

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Einordnung des Falls

Interessenkollision bei demselben Rechtsträger

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T hat durch das Werfen der H den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) erfüllt.

Ja, in der Tat!

Der objektive Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) setzt als Tathandlung die Anwendung von Gewalt oder die Drohung mit einem empfindlichen Übel voraus, wodurch es zu einem Taterfolg, nämlich der Handlung, Duldung oder Unterlassung des Genötigten kommt. Gewalt ist jede körperliche Tätigkeit, durch die körperlich wirkender Zwang ausgeübt wird, um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden.H will nicht aus dem Fenster springen. T wendet körperliche Kraft auf und wirft die H aus dem Fenster, um den geleisteten Widerstand der H zu überwinden. Durch das Werfen muss H den Sprung in das Sprungtuch dulden.
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2. Die Strafbarkeit könnte jedoch durch den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) entfallen. Die Gefahr war nicht anders abwendbar.

Ja!

Das Merkmal der Nicht-anders-Abwendbarkeit ist im Rahmen der Notstandshandlung zu prüfen. Es entspricht dem der Erforderlichkeit bei der Notwehr (§ 32 StGB). Das Verteidigungsmittel muss demnach überhaupt zur Verteidigung geeignet sein und zugleich das relativ mildeste Mittel darstellen. Der Brand ist in H und Ts Wohnung. Nur durch einen Sprung kann den Flammen entkommen werden. T ist nicht gesprungen und wäre verbrannt. Damit war nur der Wurf geeignet und das relativ mildeste Mittel, um den Tod der H abzuwenden.

3. Es ist allerdings ausgeschlossen, dass Erhaltungsgut und Eingriffsgut beim Notstand vom selben Rechtsgutsträger stammen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Für die Notstandshandlung muss das geschützte Rechtsgut (Erhaltungsgut) das durch die Notstandshandlung beeinträchtige Rechtsgut (Eingriffsgut) wesentlich überwiegen. Ob dies der Fall ist, ist im Rahmen einer Interessenabwägung festzustellen. Besonders auf den Rang der betroffenen Rechtsgüter ist abzustellen. Für die Interessenabwägung ist es unerheblich, wenn Erhaltungsgut und Eingriffsgut demselben Rechtsgutsträger gehören. Jedoch sind vor dem rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) an die Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung zu denken.Hs Leben überwiegt ihre freie Willensentschließung wesentlich.Anders wäre dies zu beurteilen, wenn H sich bewusst töten wollte. Dieser Entschluss ist Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 GG). Es läge dann eine unzulässige aufgedrängte Nothilfe vor.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Burumar🐸

Burumar🐸

22.7.2022, 13:22:37

Ich dachte, dass bei der Nötigung die Nötigungshandlung und der

Nötigungserfolg

nicht zusammenfallen dürfen. Die Duldung also nicht nur in der Erduldung der Gewalt der Nötigungshandlung liegen darf. Hier ergibt sich die Erduldung des Sprungs ins Sprungtuch doch unmittelbar aus dem Wurf der T.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

17.8.2022, 14:36:57

Hallo Burumar, Nötigungshandlung und Erfolg dürfen nicht zusammenfallen in dem Sinne, dass die Einwirkung nicht nur eine hingenommene Folge sondern Zweck des

rechtswidrig

en Verhaltens sein muss. Dies lässt sich über die Absicht zur Willensbeugung prüfen. Dass die H gegen den Schubser nichts mehr ausrichten kann, qualifiziert die Gewalthandlung als

vis absoluta

. Dies lässt aber nicht den

Nötigungserfolg

entfallen. Die Gewalthandlung im Rahmen des § 240 StGB kann sowohl in Form der

vis compulsiva

als auch der

vis absoluta

vorliegen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

PH

Philippe

14.9.2022, 10:17:33

Im Ergebnis sicherlich richtig, aber man könnte einen Hinweis anfügen, dass hier zur aufgedrängten Notstandshilfe abgegrenzt werden muss. Wenn das Opfer sterben will und dieser Wille fehlerfrei gebildet wurde, ist eine Strafbarkeit selbstverständlich zu bejahen, da die

Entschließungsfreiheit

über anderen Rechtsgütern des Opfers steht! Hier lag es ja aber so, dass das Opfer nur Höhenangst hat und deswegen nicht springen will, obwohl sie eigentlich überleben möchte. Den Unterschied sollte man deutlich machen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.1.2023, 14:05:31

Vielen Dank für den guten Hinweis, Philippe. Tatsächlich war man lange davon ausgegangen, dass das eigene Leben

nicht disponibel

ist und man eine Selbsttötung grundsätzlich gewaltsam verhindern und den Betroffenen zwangsweise den notwendigen Rettungsmaßnahmen unterwerfen darf (vgl. MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, StGB § 34 Rn. 181). Eine Ausnahme sollte nur dann vorliegen, wenn die Gründe für den Suizid auch bei objektiver Betrachtung ein entsprechend hohes Gewicht haben, zB der Suizident vom Leben nur noch schwere Leiden zu erwarten hätte (MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, StGB § 34 Rn. 39). Diese Auffassung ist seit dem

Urteil

des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit des Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (BVerfG,

Urteil

vom 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 ua = NJW 2020, 905) allerdings nur noch bedingt vertretbar. Denn das BVerfG stellt klar, dass aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben folgt und dieses damit explizit von der Rechtsordnung anerkannt ist (anders noch MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, StGB § 34 Rn. 39). Insoweit läge bei einem freiverantwortlichen Suizid in der Tat ein aufgedrängter Notstand vor, der die Tat nicht rechtfertigen kann. Ggfs. würde der Täter dann allerdings ent

schuld

igt handeln, sofern er einem unvermeidbaren

Erlaubnisirrtum

unterlegen ist (

§ 17 StGB

). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Ranii

Ranii

27.11.2022, 16:41:17

Wie sieht es aber aus mit dem sog. Autonomieprinzip?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

5.12.2022, 13:32:57

Hallo Ranii, das Autonomieprinzip wird von Teilen bei der

Drohung

mit einem Unterlassen angebracht mit dem Argument, dass dadurch nur der Handlungsspielraum des Opfers erweitert würde. Da dies aber hier schon nicht vorliegt, findet es keine Anwendung. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Pilea

Pilea

3.2.2024, 14:30:21

Müsste hier in der Subsumtion nicht darauf abgestellt werden, dass das Erhaltungsgut Leben abwägungsfest ist (anstelle des Überwiegens des Rechtsguts)?

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

23.12.2024, 17:28:45

Hallo @[Pilea ](189001), Du hast völlig Recht, der der Begriff der "Abwägungsfestigkeit" im Zusammenhang mit

§ 34 StGB

und Rechtfertigungsgründen im Allgemeinen häufig auftaucht. Gemeint ist damit allerdings in erster Linie, dass die Abwägung gegen (!) menschliches Leben nicht zulässig und menschliches Leben grds nicht "quantifizierbar" ist, also zB auch drohende hohe Sachschäden keine Tötung rechtfertigen, ebensowenig wie die Tötung eines Menschen die Rettung von zwei anderen nicht rechtfertigen kann. Abseits dessen wird es durchaus umstritten und unübersichtlich. Manche sehen zB in bestimmten Fällen herausragende Staatsinteressen durchaus ein überwiegendes Interesse ggü dem Leben einer Geisel (Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger, StGB, 6. Auflage 2023, § 34 Rn 73). MüKoStGB/Erb, 5. Aufl 2024, § 34 Rn 145 bezweifelt zudem, ob sich ein Eingriff in das Leben eines Einzelnen wirklich nie rechtfertigen lässt, wenn auf der anderen Seite der Tod einer extrem größeren Zahl an Menschen steht, zB bei militärischen Konflikten - das dürfte allerdings wirklich sehr str sein (aA zB Zieschang, JA 2007, 679, 682 f). Ich halte eine ordentliche Abwägung der betroffenen Interessen in unserer Aufgabe jedenfalls für eine saubere und gut vertretbare Lösung. Ist eines der betroffenen Interessen wirklich das Leben, spricht natürlich vieles dafür, dass man hierzu in einer Prüfungsaufgabe nicht großartig ausholen muss, sondern eher knapp feststellen kann. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

Pilea

Pilea

24.12.2024, 08:47:39

Danke 💡

nullumcrimen

nullumcrimen

9.5.2024, 21:16:38

Kann man diesen Fall auch über die

mutmaßliche Einwilligung

lösen? Falls ja: was wäre klausurentechnisch schlauer?

Maximilian Puschmann

Maximilian Puschmann

10.5.2024, 13:50:11

Hallo nullumcrimen,  dies wäre hier eher fernliegend, da die H eindeutig ihren Willen kundgegeben hat, nicht aus dem Fenster springen zu wollen. Die

mutmaßliche Einwilligung

setzt voraus, dass der Wille des Opfers nicht ersichtlich ist. Beste Grüße, Max - für das Jurafuchs-Team. 

nullumcrimen

nullumcrimen

10.5.2024, 22:43:42

Ahso, das habe ich überlesen! Danke

VI

Viooola

5.12.2024, 00:23:22

Außerdem setzt die

mutmaßliche Einwilligung

voraus, dass H selbst gerade nicht in der Lage gewesen wäre eine Einwilligung anzugeben (zB bei Bewusstlosigkeit) ansonsten würde Hs Selbstbestimmungsrecht unterlaufen werden, nur weil Dritte davon ausgehen an Hs Stelle anders zu handeln

AME

Amelie7

17.11.2024, 19:00:21

Könnte hier nicht schon die objektive Zurechnung aufgrund

Risikoverringerung

entfallen? oder liegt in der Nötigung eine neue, andersartige Gefahr zum

Tod durch Verbrennen

?

VI

Viooola

5.12.2024, 00:19:50

T hat eine gänzlich neue Gefahr geschaffen, indem er H aus dem Fenster schubst (Tod durch den Sturz) und damit nicht das Risiko (Tod durch Verbrennung) verringert.

RO

ronjakrp

7.2.2025, 17:42:01

Ich persönlich verstehe nicht ganz wieso die rettende Handlung der Freundin hier nicht gerechtfertigt wäre. In dem vorliegenden Fall ist der Selbsttötungsentschluss doch mangelbehaftet, da die Freundin m.E. doch aufgrund ihrer (Höhen-)Angst nicht einsichts- und

urteil

sfähig ist, oder nicht? Weiterhin stellt sich mir auch die Frage ob die Tatherrschaft deswegen auf die Freundin ohne Höhenangst als Garantin übergeht und sie sich dann einer Tötung durch Unterlassen

strafbar machen

würde? Bzw. sich eine Strafbarkeit nach 323 c ergeben würde?


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