Strafrecht
Strafrecht Allgemeiner Teil
Rechtfertigungsgründe
Interessenkollision bei demselben Rechtsträger
Interessenkollision bei demselben Rechtsträger
13. Februar 2025
22 Kommentare
4,8 ★ (13.027 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

In der Hochhauswohnung der Freundinnen T und H ist ein großer Brand entstanden. Der Sprung aus dem Fenster in ein Sprungtuch der Feuerwehr stellt den einzigen Ausweg dar. H hat fürchterliche Höhenangst und weigert sich zu springen. Daraufhin wirft T die H aus dem Fenster.
Diesen Fall lösen 92,2 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Interessenkollision bei demselben Rechtsträger
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. T hat durch das Werfen der H den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) erfüllt.
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die Strafbarkeit könnte jedoch durch den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) entfallen. Die Gefahr war nicht anders abwendbar.
Ja!
3. Es ist allerdings ausgeschlossen, dass Erhaltungsgut und Eingriffsgut beim Notstand vom selben Rechtsgutsträger stammen.
Nein, das ist nicht der Fall!
Fundstellen
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Burumar🐸
22.7.2022, 13:22:37
Ich dachte, dass bei der Nötigung die Nötigungshandlung und der
Nötigungserfolgnicht zusammenfallen dürfen. Die Duldung also nicht nur in der Erduldung der Gewalt der Nötigungshandlung liegen darf. Hier ergibt sich die Erduldung des Sprungs ins Sprungtuch doch unmittelbar aus dem Wurf der T.

Nora Mommsen
17.8.2022, 14:36:57
Hallo Burumar, Nötigungshandlung und Erfolg dürfen nicht zusammenfallen in dem Sinne, dass die Einwirkung nicht nur eine hingenommene Folge sondern Zweck des
rechtswidrigen Verhaltens sein muss. Dies lässt sich über die Absicht zur Willensbeugung prüfen. Dass die H gegen den Schubser nichts mehr ausrichten kann, qualifiziert die Gewalthandlung als
vis absoluta. Dies lässt aber nicht den
Nötigungserfolgentfallen. Die Gewalthandlung im Rahmen des § 240 StGB kann sowohl in Form der
vis compulsivaals auch der
vis absolutavorliegen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Philippe
14.9.2022, 10:17:33
Im Ergebnis sicherlich richtig, aber man könnte einen Hinweis anfügen, dass hier zur aufgedrängten Notstandshilfe abgegrenzt werden muss. Wenn das Opfer sterben will und dieser Wille fehlerfrei gebildet wurde, ist eine Strafbarkeit selbstverständlich zu bejahen, da die
Entschließungsfreiheitüber anderen Rechtsgütern des Opfers steht! Hier lag es ja aber so, dass das Opfer nur Höhenangst hat und deswegen nicht springen will, obwohl sie eigentlich überleben möchte. Den Unterschied sollte man deutlich machen.

Lukas_Mengestu
3.1.2023, 14:05:31
Vielen Dank für den guten Hinweis, Philippe. Tatsächlich war man lange davon ausgegangen, dass das eigene Leben
nicht disponibelist und man eine Selbsttötung grundsätzlich gewaltsam verhindern und den Betroffenen zwangsweise den notwendigen Rettungsmaßnahmen unterwerfen darf (vgl. MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, StGB § 34 Rn. 181). Eine Ausnahme sollte nur dann vorliegen, wenn die Gründe für den Suizid auch bei objektiver Betrachtung ein entsprechend hohes Gewicht haben, zB der Suizident vom Leben nur noch schwere Leiden zu erwarten hätte (MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, StGB § 34 Rn. 39). Diese Auffassung ist seit dem
Urteildes BVerfG zur Verfassungswidrigkeit des Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (BVerfG,
Urteilvom 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 ua = NJW 2020, 905) allerdings nur noch bedingt vertretbar. Denn das BVerfG stellt klar, dass aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben folgt und dieses damit explizit von der Rechtsordnung anerkannt ist (anders noch MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, StGB § 34 Rn. 39). Insoweit läge bei einem freiverantwortlichen Suizid in der Tat ein aufgedrängter Notstand vor, der die Tat nicht rechtfertigen kann. Ggfs. würde der Täter dann allerdings ent
schuldigt handeln, sofern er einem unvermeidbaren
Erlaubnisirrtumunterlegen ist (
§ 17 StGB). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Ranii
27.11.2022, 16:41:17
Wie sieht es aber aus mit dem sog. Autonomieprinzip?

Nora Mommsen
5.12.2022, 13:32:57
Hallo Ranii, das Autonomieprinzip wird von Teilen bei der
Drohungmit einem Unterlassen angebracht mit dem Argument, dass dadurch nur der Handlungsspielraum des Opfers erweitert würde. Da dies aber hier schon nicht vorliegt, findet es keine Anwendung. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Pilea
3.2.2024, 14:30:21
Müsste hier in der Subsumtion nicht darauf abgestellt werden, dass das Erhaltungsgut Leben abwägungsfest ist (anstelle des Überwiegens des Rechtsguts)?

Sebastian Schmitt
23.12.2024, 17:28:45
Hallo @[Pilea ](189001), Du hast völlig Recht, der der Begriff der "Abwägungsfestigkeit" im Zusammenhang mit
§ 34 StGBund Rechtfertigungsgründen im Allgemeinen häufig auftaucht. Gemeint ist damit allerdings in erster Linie, dass die Abwägung gegen (!) menschliches Leben nicht zulässig und menschliches Leben grds nicht "quantifizierbar" ist, also zB auch drohende hohe Sachschäden keine Tötung rechtfertigen, ebensowenig wie die Tötung eines Menschen die Rettung von zwei anderen nicht rechtfertigen kann. Abseits dessen wird es durchaus umstritten und unübersichtlich. Manche sehen zB in bestimmten Fällen herausragende Staatsinteressen durchaus ein überwiegendes Interesse ggü dem Leben einer Geisel (Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger, StGB, 6. Auflage 2023, § 34 Rn 73). MüKoStGB/Erb, 5. Aufl 2024, § 34 Rn 145 bezweifelt zudem, ob sich ein Eingriff in das Leben eines Einzelnen wirklich nie rechtfertigen lässt, wenn auf der anderen Seite der Tod einer extrem größeren Zahl an Menschen steht, zB bei militärischen Konflikten - das dürfte allerdings wirklich sehr str sein (aA zB Zieschang, JA 2007, 679, 682 f). Ich halte eine ordentliche Abwägung der betroffenen Interessen in unserer Aufgabe jedenfalls für eine saubere und gut vertretbare Lösung. Ist eines der betroffenen Interessen wirklich das Leben, spricht natürlich vieles dafür, dass man hierzu in einer Prüfungsaufgabe nicht großartig ausholen muss, sondern eher knapp feststellen kann. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

Pilea
24.12.2024, 08:47:39
Danke 💡

nullumcrimen
9.5.2024, 21:16:38
Kann man diesen Fall auch über die
mutmaßliche Einwilligunglösen? Falls ja: was wäre klausurentechnisch schlauer?

Maximilian Puschmann
10.5.2024, 13:50:11
Hallo nullumcrimen, dies wäre hier eher fernliegend, da die H eindeutig ihren Willen kundgegeben hat, nicht aus dem Fenster springen zu wollen. Die
mutmaßliche Einwilligungsetzt voraus, dass der Wille des Opfers nicht ersichtlich ist. Beste Grüße, Max - für das Jurafuchs-Team.

nullumcrimen
10.5.2024, 22:43:42
Ahso, das habe ich überlesen! Danke
Viooola
5.12.2024, 00:23:22
Außerdem setzt die
mutmaßliche Einwilligungvoraus, dass H selbst gerade nicht in der Lage gewesen wäre eine Einwilligung anzugeben (zB bei Bewusstlosigkeit) ansonsten würde Hs Selbstbestimmungsrecht unterlaufen werden, nur weil Dritte davon ausgehen an Hs Stelle anders zu handeln
Amelie7
17.11.2024, 19:00:21
Könnte hier nicht schon die objektive Zurechnung aufgrund
Risikoverringerungentfallen? oder liegt in der Nötigung eine neue, andersartige Gefahr zum
Tod durch Verbrennen?
Viooola
5.12.2024, 00:19:50
T hat eine gänzlich neue Gefahr geschaffen, indem er H aus dem Fenster schubst (Tod durch den Sturz) und damit nicht das Risiko (Tod durch Verbrennung) verringert.
ronjakrp
7.2.2025, 17:42:01
Ich persönlich verstehe nicht ganz wieso die rettende Handlung der Freundin hier nicht gerechtfertigt wäre. In dem vorliegenden Fall ist der Selbsttötungsentschluss doch mangelbehaftet, da die Freundin m.E. doch aufgrund ihrer (Höhen-)Angst nicht einsichts- und
urteilsfähig ist, oder nicht? Weiterhin stellt sich mir auch die Frage ob die Tatherrschaft deswegen auf die Freundin ohne Höhenangst als Garantin übergeht und sie sich dann einer Tötung durch Unterlassen
strafbar machenwürde? Bzw. sich eine Strafbarkeit nach 323 c ergeben würde?