Öffentliches Recht

Grundrechte

Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)

Recht auf informationelle Selbstbestimmung („Volkszählungsurteil“)

Recht auf informationelle Selbstbestimmung („Volkszählungsurteil“)

10. Dezember 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die Bundesregierung will eine bundesweite Volkszählung durchführen. Nach dem Volkszählungsgesetz (VolksZG) soll hierbei eine umfassende Erhebung der persönlichen Daten jedes einzelnen Bürgers stattfinden. Bürgerin B rügt die Verletzung ihrer Grundrechte durch das Gesetz vor dem BVerfG.

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Einordnung des Falls

Recht auf informationelle Selbstbestimmung („Volkszählungsurteil“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Gerügt wird auch eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Dessen Gewährleistungsgehalte sind abschließend definiert.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Rechtsprechung hat im Rahmen des Schutzbereichs des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unterschiedliche Fallgruppen anerkannt. Das BVerfG betont aber die grundsätzliche Entwicklungsoffenheit des Schutzbereich. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht kann so gerade auch im Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen der menschlichen Persönlichkeit weiterentwickelt werden.
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2. Nach dem VolksZG soll automatische Datenverarbeitung eingesetzt werden. Automatische Datenverarbeitung gefährdet das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Einzelnen in besonderem Maße.

Ja!

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst die Befugnis des Einzelnen, selbst zu entscheiden, innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Dies setzt voraus, dass der Einzelne mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen seiner sozialen Umwelt bekannt sind. Die automatische Datenverarbeitung funktioniert für den Einzelnen gerade nicht in überschaubarer Weise, sondern automatisch und so nicht einsehbar. Die Entscheidungsbefugnis über die Offenbarung persönlicher Informationen aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ist hierdurch in besonderem Maße gefährdet.

3. Die Datenerhebung durch die Volkszählung fällt in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.

Genau, so ist das!

Freie Entfaltung der Persönlichkeit gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe der persönlichen Daten voraus. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet insoweit die Befugnis, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung der persönlichen Daten zu bestimmen. Durch die umfassende Datenerhebung wird der Einzelne in seiner Befugnis, frei über die Preisgabe seiner Daten zu entscheiden, beeinträchtigt. Sie fällt somit in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist letztlich nur eine von vielen Ausprägungen der Gewährleistungsgehalte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Im Gegensatz zu den anderen Gewährleistungsgehalten, die du bereits kennengelernt hast, solltest Du dir hier aber verdeutlichen, dass es mittlerweile weitestgehend wie ein eigenständiges Grundrecht behandelt wird. In der Klausur zitierst du es deshalb direkt als Recht auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.

4. Das VolksZG ist verfassungswidrig, weil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wegen seiner Nähe zur Menschenwürde absolut geschützt ist und Eingriffe stets unzulässig sind.

Nein, das trifft nicht zu!

Der Einzelne hat keine absolute Herrschaft über seine Daten. Er entfaltet sich innerhalb des Sozialgefüges und ist auf Kommunikation angewiesen. Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sind daher im Allgemeininteresse zulässig. In der Originalentscheidung zog das BVerfG für die Anforderungen an die Rechtfertigung noch die sog. Sphärentheorie heran. Hiernach war entscheidend, ob der Inhalt der Daten der Intim-, Privats- oder Sozialsphäre zu messen war. Hiervon ist das BVerfG mittlerweile abgerückt: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird unabhängig von der Qualität der erhobenen Daten gewährleistet, da es lt. BVerfG "kein belangloses Datum" gebe.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

urheberrechtler

urheberrechtler

20.1.2022, 10:26:57

Kann man das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch auf juristische Personen anwenden? Wenn ja, muss man dann die Sphärentheorie irgendwie auf die juristische Person adaptieren oder lässt man die weg?

VIC

Victor

20.1.2022, 13:54:42

Das ist sehr umstritten. In der Theorie kann das

APR

über Art. 19 GG auf juristische Personen angewendet werden. Allerdings ergeben sich im Hinblick auf die Herleitung des

APR

aus der Menschenwürde einige Probleme. Allenfalls in eng umgrenzten Einzelfällen wird dies möglich sein, wie zB der Unternehmenswürde/wirtschaftl. Sphäre. Hierbei wird es sich aber idR um Eingriffe auf Ebene der Sozialsphäre handeln. Eher käme dann der umstrittene Schutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes in Betracht.

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

20.1.2022, 18:21:10

Nur als Ergänzung zu Victors zutreffenden Ausführungen: Juristische Personen im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG können sich allenfalls auf Gewährleistungsgehalte des allgemeinen Persönlichkeitsrechts berufen, die gerade auch die Tätigkeit einer juristischen Person schützen. Denkbar wäre zum Beispiel, dass eine juristische Person sich auf den Schutz des Grundrechts auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme beruft. Beste Grüße – Wendelin für das Jurafuchs-Team

urheberrechtler

urheberrechtler

20.1.2022, 19:44:51

Vielen Dank ihr beiden? Wie stell ich das in der Klausur dar? Hätte das Problem im persönlichen Schutzbereich aufgemacht (in der Verfassungs

beschwer

de alternativ in der Antragsberechtigung). Würde dann die beiden Ansichten (a) persönliches Substrat und b) grundrechtsgleiche Gefährdung) diskutieren und dann die anerkannten Fallgruppen darlegen. Oder sollte man die Fallgruppen eher unter die Ansicht von der Rspr. subsumieren?

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

31.1.2022, 11:01:08

Hallo urheberrechtler, danke für deine Nachfrage. Genau so, wie du es beschrieben hast, würde ich es auch machen. Ich gehe davon aus, dass es typischerweise kein Problem sein wird in der Klausur. Dann kannst du die Ausführungen dazu auch knapp halten. Für den wirklich seltenen Fall, dass es gerade auf die Frage ankommen sollte, ob die juristische Person sich auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht berufen kann - etwa weil kein anderes spezielles Grundrecht einschlägig ist -, musst du das natürlich ausführlicher begründen. Hoffe das hilft! Beste Grüße – Wendelin für das Jurafuchs Team

AN

Anne

12.6.2024, 16:17:55

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist gerade keine Facette des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Im Volkszählungsurteil wurde gesagt, dass das Allgemeine Persönlichkeitsrecht enorm wichtig ist und in Zeiten der elektronischen Datenverarbeitung besonderen Gefährdungen ausgesetzt ist. Daraus wird die Notwendigkeit eines eigenständigen (!) Grundrechts abgeleitet. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung lässt sich nur ideengeschichtlich aus dem

APR

ableiten. Eine Facette, wie z.B. das Recht am eigenen Bild oder die sexuelle Selbstbestimmung, stellt es gerade NICHT dar.

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

15.10.2024, 13:48:43

Hallo @Anne, Du hast insofern völlig Recht, als das BVerfG in der Vergangenheit zunehmend den eigenständigen Charakter des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (nachfolgend der Einfachheit halber: RiSb) betont hat. ME soll und muss man sich hier aber nicht übermäßig an den Begrifflichkeiten aufhängen, zumal sich kaum unmittelbare Unterschiede daraus ergeben, ob das RiSb nun historisch als eigenständiges Recht aus der Idee des Art 2 I iVm 1 I GG "heraus gewachsen" oder nach wie vor eine "Facette" davon ist. In der Kommentarliteratur wird das RiSb jedenfalls nach wie vor bei Art 2 GG behandelt und ua als "Ausprägung bzw Ausformung" (Jarass/Pieroth, GG, 18. Aufl 2024, Art 2 Rn 40) oder auch als "bereichsspezifische Konkretisierung" des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bezeichnet (so Dreier/Barczak, GG, 4. Aufl 2023, Art 2 Rn 91, ähnlich BeckOK-GG/Lang, 58. Ed, Stand 15.6.24, Art 2 Rn 112: "bereichsspezifische Ausdifferenzierung"). Das steht einer Eigenständigkeit des RiSb natürlich nicht unbedingt entgegen, zeigt aber auch gewisse Anbindung an das und den Ursprung im allgemeine(n) Persönlichkeitsrecht. Im Klausurhinweis zu unserer dritten Frage dieser Aufgabe weisen wir explizit darauf hin, dass das RiSb mittlerweile als eigenständiges Grundrecht behandelt wird und sicherheitshalber auch als solches zitiert werden sollte. Ich halte das für einen durchaus pragmatischen und vernünftigen Weg und würde die Aufgabe daher für den Moment so stehen lassen. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team


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