Erkennbar schuldlos Handelnde
18. April 2025
27 Kommentare
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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

A beaufsichtigt als „1-€-Kraft“ eine 1. Schulklasse auf dem Pausenhof. O und fünf weitere 6-Jährige treten und spucken ihn an. Seine Aufforderung, aufzuhören, ignorieren sie wegen seiner fehlenden Autorität. A könnte die Kinder einzeln wegtragen oder wegschubsen, hält dies aber für zu entwürdigend bzw. gefährlich. Er versetzt dem ihm am nächsten stehenden O eine Ohrfeige. Daraufhin hören alle Kinder mit ihren Angriffen auf. O hat für 10 Minuten Schmerzen.
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Einordnung des Falls
Erkennbar schuldlos Handelnde
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. In dem Verhalten des O ist ein rechtswidriger, gegenwärtiger Angriff zu sehen. Es liegt somit eine Notwehrlage im Sinne von § 32 StGB vor.
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Die Ohrfeige ist eine geeignete Notwehrhandlung.
Ja!
3. Die Verteidigungshandlung war auch im engeren Sinne erforderlich.
Genau, so ist das!
4. Geboten ist eine Notwehrhandlung, wenn das Notwehrrecht nicht ausnahmsweise durch sozialethische Wertungen der Einschränkung bedarf.
Ja, in der Tat!
5. Die Verteidigungshandlung war nach Ansicht des OLG auch geboten.
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

ErdbärIn
10.11.2020, 14:15:31
Mir ist nicht ganz klar geworden, ob das OLG und die Literatur eine der
Gebotenheits-Fallgruppen (vermutlich Nr. 3) annimmt und dann iRd 3-Stufen-Modells (Ausweichen, Schutz-,
Trutzwehr) scheitern oder die Argumentation nicht daran knüpft? Vielleicht könntet ihr das bei der Antwort zur letzten Frage nochmal klarstellen ergänzen. :)

Fahrradfischlein
14.11.2020, 14:21:37
Das hat mir auch gefehlt!

Isabell
18.12.2020, 13:37:17
Ja, das fehlt mir auch.

Lukas_Mengestu
10.6.2021, 16:32:31
Hallo ihr drei, vielen Dank für den Hinweis. Wir haben den Fall um die entsprechenden Informationen nun ergänzt. In der Tat geht es hier um die dritte Fallgruppe, also den Angriff erkennbar schuldloser. Das OLG ist vorliegend nicht ganz eindeutig, da es einerseits äußert, dass hier überhaupt keine Einschränkung des
Notwehrrechts in Betracht kommt, da hierfür weder die Voraussetzungen die in der Rechtsprechung genannt werden (zB bloße
Ehrverletzungdurch Worte) noch die Maßstäbe der Literatur (hier läge eine substantielle Verletzung vor, weswegen diese nicht zu ertragen sei) dazu führen würden, dass hier das
Notwehrrecht eingeschränkt sei. Letztlich prüft es aber dann - ohne dies explizit zu nennen - im Rahmen des 3-Stufen-Modells und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass eine Flucht nicht möglich sei und die
Trutzwehrhier das einzig verbleibende Mittel war. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Rambo
25.11.2020, 18:06:03
Im Rahmen der Einschränkung der
Gebotenheitwird hier nicht auf den Punkt " enge persönliche Beziehung" eingegangen. Dies ist zwar str. und wurde beim
Haustyrannen Fallabgelehnt, gleichwohl sollte es hier zumindest angerführt werden.

Lukas_Mengestu
10.6.2021, 16:33:20
Danke Rambo, wir haben es als Vertiefungshinweis nun mitaufgenommen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
QuiGonTim
16.3.2022, 23:15:52
Ist die Möglichkeit der Flucht nicht schon deshalb problematisch, weil A dadurch seine Aufsichtspflicht verletzen würde?

Lukas_Mengestu
29.3.2022, 11:59:16
Hallo QuiGonTim, spannender Punkt. Indes wäre die Aufsichts
pflichtverletzunggerechtfertigt, wenn man zu dem Ergebnis kommen würde, dass A hier verpflichtet wäre, zu fliehen. Denn insoweit läge dann eine Pflichtenkollision vor (Flucht einerseits, Aufsicht andererseits). Das OLG musste sich damit letztlich nicht befassen, da es ungeachtet der Aufsichtspflicht hier bereits die
Gebotenheitder Ohrfeige bejahte. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Samantha Pfeiffer
6.2.2023, 20:49:52
Ich dachte die
Gebotenheitder
Notwehrist bei Angriffe auf schuldlos Handelnde nicht gegeben (also wie hier 6-jährige Kinder)?
AnkaZ
10.2.2023, 11:13:50
Ich glaube, dass darfst du nicht als Regel sehen. Bei schuldlos Handelnden ist es grdundsätzlich erstmal erforderlich, dass alle Ausweichmöglichkeiten erschöpft werden. Sind diese aber nicht möglich, dann ist auch bei schuldlos Handelnden eine defensive Schutzwehr zulässig! Jedoch in jedem Falle vor der
Trutzwehr.

Jonas Neubert
8.8.2023, 11:44:27
Literatur ist zu zustimmen, insbesondere die Intensität des Angriffs von 6 jährigen und nicht mal der Versuch des Rückzugs muss bemängelt werden.

SvzW
15.9.2023, 10:11:55
Schon mal von sechs 6 Jährigen angegriffen worden? Ist nicht so das die keine Kraft hätten. Finde die Reaktion nicht unbedingt perfekt, aber bisschen Respekt schade denen auch nicht.
Friedrich-Schiller-Universität Jena
8.11.2023, 13:53:39
Als milderes Mittel und gleich effektive hätte es doch das wegtragen gegeben!?
Haniel Dardman
2.1.2024, 19:00:45
Überleg mal, was passiert wäre. Das Kind hätte ihn beim Wegtragen weiter bespucken und treten/schlagen können und die anderen Kinder hätten ihn möglicherweise verfolgt und weiter angegriffen. Es wäre somit kein gleich effektives Mittel gewesen, da es den Angriff, anders als die Ohrfeige, nicht sofort beendet hätte.
alexd.227
20.1.2024, 12:50:31
was genau unterscheidet Krasses Missverhältnis und Bagatellangriff von einander?

Tim Gottschalk
17.3.2025, 12:12:52
Hallo @[alexd.227](223652), wir verwenden den Begriff Bagatellangriff im Fall nicht. Eventuell passt dein Kommentar daher eher in den Thread von Anonym 1, vielleicht wurde der Fall aber auch seit deiner Frage angepasst. Der Unterschied zwischen beiden Fallgruppen liegt daran, dass beim Bagatellangriff die
Notwehrunabhängig von der konkreten
Notwehrhandlungeingeschränkt ist. Die Schwelle für den Bagatellangriff ist dabei extrem niedrig, also das sind die Fälle, wo man schon bei der
Notwehrlage nur gerade so drin ist (z.B. Anleuchten mit einer Taschenlampe). Beim krassen Missverhältnis ist es dagegen so, dass der Angriff durchaus etwas gewichtiger sein kann.
Notwehrist dann dem Grunde nach möglich, aber im konkreten Fall ist die erforderliche
Notwehrhandlungso stark, dass sie nicht geboten ist. Klassischer Beispielsfall hierbei ist die Tötung beim
Diebstahl geringwertiger Sachen. Der
Diebstahl geringwertiger Sachenist dabei nicht per se eine Bagatelle und mit "einfacher" Gewalt wäre eine
Notwehrhier wohl kein Problem. Erst das Missverhältnis zwischen
Notwehrlage und
Notwehrhandlungführt zur Einschränkung auf Ebene der
Gebotenheit. Im Endeffekt gehen sie aber in eine ähnliche Richtung und so oder so ist im Zweifelsfall in der Klausur eine ausführliche Abwägung und gute Argumentation erforderlich. Liebe Grüße Tim - für das Jurafuchs-Team

CR7
14.5.2024, 09:03:53
In der Vorlesung bzw. AG damals hat uns ein sehr amüsanter Merksatz die Fallgruppen gut einprägen lassen. Bislang habe ich es hier noch nicht gesehen, deswegen erlaube ich es mir mal: KEBAP K rasses Missverhältnis E nge Persönliche Beziehung B agatellangriffe A ngriff Schuldloser P rovokation Auch zu finden bei Van Hoang, juraeinmaleins.de/eselsbruecken
Ghofran
10.6.2024, 23:27:12
Ehrlich Danke. Lerne gerade für meine erste Strafrecht AT Klausur :)
JohnnyLbd
18.6.2024, 11:39:34
mega gut !!
Kai
30.10.2024, 08:01:02
Bin in die Examensvorbereitung eingestiegen und konnte mich an diese Eselsbrücke sofort wieder erinnern, die ist wirklich gut!
Findet Nemo Tenetur
31.10.2024, 11:10:46
Danke für den interessanten, die BGH Ansicht kritisch darstellende Vertiefung zur Fallgruppe der persönlichen Beziehungen.

Christian Leupold-Wendling
31.10.2024, 16:24:14
Hallo Karolin, vielen Dank für dein Lob! Deine positive Rückmeldung motiviert uns, weiterhin unser Bestes zu geben. Beste Grüße, Christian Leupold-Wendling, für das Jurafuchs-Team
Maitre68
9.1.2025, 13:06:59
Was für ein Loser muss man sein, um sich von 6 Jährigen so provozieren zu lassen, dass man zuschlägt. Und dass das OLG das auch noch durchwinkt, ist echt fragwürdig.