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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A beaufsichtigt als „1-€-Kraft“ eine 1. Schulklasse auf dem Pausenhof. O und fünf weitere 6-jährige treten und spucken ihn an. Seine Aufforderung, aufzuhören, ignorieren sie wegen seiner fehlenden Autorität. A könnte die Kinder einzeln wegtragen oder wegschubsen, hält dies aber für zu entwürdigend bzw. gefährlich. Er versetzt dem ihm am nächsten stehenden O eine Ohrfeige. Daraufhin hören alle Kinder mit ihren Angriffen auf. O hat für 10 Minuten Schmerzen.

Einordnung des Falls

Erkennbar schuldlos Handelnde

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. In dem Verhalten des O ist ein rechtswidriger, gegenwärtiger Angriff zu sehen. Es liegt somit eine Notwehrlage im Sinne von § 32 StGB vor.

Ja, in der Tat!

Angriff bezeichnet die durch menschliches Verhalten drohende Einbuße rechtlich geschützter Güter oder Interessen.Durch die Tritte droht A, seine körperliche Unversehrtheit einzubüßen. Die Tritte dauern auch noch fort, sodass der Angriff gegenwärtig ist. Zwar handelt O als 6-jähriger wegen § 19 StGB schuldlos, ein Rechtfertigungsgrund für seine tatbestandsmäßige Körperverletzung liegt indes nicht vor.

2. Die Ohrfeige ist eine geeignete Notwehrhandlung.

Ja!

Eine taugliche Notwehrhandlung muss sich stets gegen den Angreifer richten. Vorliegend richtet sich der Schlag gegen den angreifenden O. Geeignet ist die Notwehrhandlung, wenn durch Sie der Angriff beendet oder zumindest abgemildert werden kann. Vorliegend wurde der Angriff des O beendet, was auch ex ante zu erwarten war.

3. Die Verteidigungshandlung war auch erforderlich.

Genau, so ist das!

Erforderlich ist eine Handlung, wenn kein milderes, gleich effektives Mittel zur Verfügung steht.OLG: Weder eine zweite verbale Aufforderung noch das Wegtragen oder Wegschubsen einzelner Kinder habe Erfolg versprochen. A habe sich nicht der Gefahr einer intensivierenden Rangelei aussetzen müssen. Zwar hätte A in das Schulgebäude fliehen können, es sei jedoch zu befürchten gewesen, dass die Schüler dem A gefolgt wären und ihre Angriffe fortgesetzt hätten.

4. Geboten ist eine Notwehrhandlung, wenn das Notwehrrecht nicht ausnahmsweise durch sozialethische Wertungen der Einschränkung bedarf.

Ja, in der Tat!

Dabei orientiert sich die Rechtsprechung an bestimmten Fallgruppen: (1) Krasses Missverhältnis, (2) Absichtsprovokation und (3) Angriffe erkennbar schuldlos Handelnder. Zu 3: Erkennbar schuldlos Handelnde können Kinder, Geisteskranke und Volltrunkene sein. Dies kann dazu führen, dass das Notwehrrecht auf das defensive dreistufige Vorgehen (Flucht vor Schutzwehr vor Trutzwehr) beschränkt wird. Während die Rechtsprechung eine solche Einschränkung vor allem bei Ehrverletzungen durch Worte vornimmt, verlangt ein Teil der Literatur generell ein Ausweichen und sogar die Hinnahme von leichten, nicht substanziellen Beeinträchtigungen, wenn alle Ausweichmöglichkeiten ausgeschöpft seien. Nach der umstrittenen Rechtsprechung des BGH ist regelmäßig auch bei engen persönliche Bindungen eine Einschränkung des Notwehrrechts im Rahmen der Gebotenheit vorzunehmen, da auch im akuten Konflikt regelmäßig noch ein Interesse beider Seiten am Fortbestand der Beziehung und am Schutz des Partners vor gravierenden Beeinträchtigungen besteht. Dem wird allerdings entgegengehalten, dass dies die Gefahr begründet ausgerechnet demjenigen, der durch rechtswidrige Angriffe seine partnerschaftlichen Pflichten nachhaltig verletzt, einen Freibrief zur regelmäßigen Misshandlung des körperlich unterlegenen Partners zu erteilen und das Notwehrrecht von letzterem ohne Rücksicht auf eine noch so verzweifelte Lage völlig auszuhöhlen.

5. Die Verteidigungshandlung war nach Ansicht des OLG auch geboten.

Ja!

Nach der Auffassung des OLG stellt das Treten und Bespucken durch Erstklässler einen substanziellen Rechtsverlust dar, weswegen weder nach den Kriterien der Rechtsprechung noch den Maßstäben der Literatur Raum für eine Beschränkung des Notwehrrechts bleibe. A sei in seiner körperlichen Integrität und Ehre nicht unerheblich verletzt worden. Ihm sei es nicht möglich gewesen, den Angriffen der Kinder zu entkommen, ohne dass er diese noch kurzweilig hätte dulden müssen. In dieser Situation dürfe er sich der aktiven, aber maßvollen Gegenwehr (Trutzwehr) bedienen, die auch eine Ohrfeige gegen einen der Angreifer umfasse. Eine Ohrfeige, die zehn Minuten lang Schmerzen verursache, sei keine erhebliche Verletzung und stehe nicht außer Verhältnis zu den Angriffen der Kinder. Von der Lit. wird dies kritisiert: Im Hinblick auf die Art und Intensität des Eingriffes (Tritte und Bespucken von 6-jährigen) liege hier keine substanzielle Rechtseinbuße vor. A hätte sich dem Angriff sehr schnell durch eine Flucht in das Schulgebäude entziehen können.

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ErdbärIn

ErdbärIn

10.11.2020, 14:15:31

Mir ist nicht ganz klar geworden, ob das OLG und die Literatur eine der Gebotenheits-Fallgruppen (vermutlich Nr. 3) annimmt und dann iRd 3-Stufen-Modells (Ausweichen, Schutz-, Trutzwehr) scheitern oder die Argumentation nicht daran knüpft? Vielleicht könntet ihr das bei der Antwort zur letzten Frage nochmal klarstellen ergänzen. :)

Fahrradfischlein

Fahrradfischlein

14.11.2020, 14:21:37

Das hat mir auch gefehlt!

Isabell

Isabell

18.12.2020, 13:37:17

Ja, das fehlt mir auch.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.6.2021, 16:32:31

Hallo ihr drei, vielen Dank für den Hinweis. Wir haben den Fall um die entsprechenden Informationen nun ergänzt. In der Tat geht es hier um die dritte Fallgruppe, also den Angriff erkennbar schuldloser. Das OLG ist vorliegend nicht ganz eindeutig, da es einerseits äußert, dass hier überhaupt keine Einschränkung des Notwehrrechts in Betracht kommt, da hierfür weder die Voraussetzungen die in der Rechtsprechung genannt werden (zB bloße Ehrverletzung durch Worte) noch die Maßstäbe der Literatur (hier läge eine substantielle Verletzung vor, weswegen diese nicht zu ertragen sei) dazu führen würden, dass hier das Notwehrrecht eingeschränkt sei. Letztlich prüft es aber dann - ohne dies explizit zu nennen - im Rahmen des 3-Stufen-Modells und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass eine Flucht nicht möglich sei und die Trutzwehr hier das einzig verbleibende Mittel war. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Rambo

Rambo

25.11.2020, 18:06:03

Im Rahmen der Einschränkung der Gebotenheit wird hier nicht auf den Punkt " enge persönliche Beziehung" eingegangen. Dies ist zwar str. und wurde beim

Haustyrannen Fall

abgelehnt, gleichwohl sollte es hier zumindest angerführt werden.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.6.2021, 16:33:20

Danke Rambo, wir haben es als Vertiefungshinweis nun mitaufgenommen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

QUIG

QuiGonTim

16.3.2022, 23:15:52

Ist die Möglichkeit der Flucht nicht schon deshalb problematisch, weil A dadurch seine Aufsichtspflicht verletzen würde?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

29.3.2022, 11:59:16

Hallo QuiGonTim, spannender Punkt. Indes wäre die Aufsichtspflichtverletzung gerechtfertigt, wenn man zu dem Ergebnis kommen würde, dass A hier verpflichtet wäre, zu fliehen. Denn insoweit läge dann eine Pflichtenkollision vor (Flucht einerseits, Aufsicht andererseits). Das OLG musste sich damit letztlich nicht befassen, da es ungeachtet der Aufsichtspflicht hier bereits die Gebotenheit der Ohrfeige bejahte. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Samantha Pfeiffer

Samantha Pfeiffer

6.2.2023, 20:49:52

Ich dachte die Gebotenheit der Notwehr ist bei Angriffe auf schuldlos Handelnde nicht gegeben (also wie hier 6-jährige Kinder)?

AN

AnkaZ

10.2.2023, 11:13:50

Ich glaube, dass darfst du nicht als Regel sehen. Bei schuldlos Handelnden ist es grdundsätzlich erstmal erforderlich, dass alle Ausweichmöglichkeiten erschöpft werden. Sind diese aber nicht möglich, dann ist auch bei schuldlos Handelnden eine defensive Schutzwehr zulässig! Jedoch in jedem Falle vor der Trutzwehr.

Jonas Neubert

Jonas Neubert

8.8.2023, 11:44:27

Literatur ist zu zustimmen, insbesondere die Intensität des Angriffs von 6 jährigen und nicht mal der Versuch des Rückzugs muss bemängelt werden.

SvzW

SvzW

15.9.2023, 10:11:55

Schon mal von sechs 6 Jährigen angegriffen worden? Ist nicht so das die keine Kraft hätten. Finde die Reaktion nicht unbedingt perfekt, aber bisschen Respekt schade denen auch nicht.

FJE

Friedrich-Schiller-Universität Jena

8.11.2023, 13:53:39

Als milderes Mittel und gleich effektive hätte es doch das wegtragen gegeben!?

HADA

Haniel Dardman

2.1.2024, 19:00:45

Überleg mal, was passiert wäre. Das Kind hätte ihn beim Wegtragen weiter bespucken und treten/schlagen können und die anderen Kinder hätten ihn möglicherweise verfolgt und weiter angegriffen. Es wäre somit kein gleich effektives Mittel gewesen, da es den Angriff, anders als die Ohrfeige, nicht sofort beendet hätte.

ALE

alexd.227

20.1.2024, 12:50:31

was genau unterscheidet Krasses Missverhältnis und Bagatellangriff von einander?

CR7

CR7

14.5.2024, 09:03:53

In der Vorlesung bzw. AG damals hat uns ein sehr amüsanter Merksatz die Fallgruppen gut einprägen lassen. Bislang habe ich es hier noch nicht gesehen, deswegen erlaube ich es mir mal: KEBAP K rasses Missverhältnis E nge Persönliche Beziehung B agatellangriffe A ngriff Schuldloser P rovokation Auch zu finden bei Van Hoang, juraeinmaleins.de/eselsbruecken

GH

Ghofran

10.6.2024, 23:27:12

Ehrlich Danke. Lerne gerade für meine erste Strafrecht AT Klausur :)

JO

JohnnySpecter69

18.6.2024, 11:39:34

mega gut !!


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