Klimaaktivisten und der rechtfertigende Notstand: Ist ziviler Ungehorsam gerechtfertigt? - Jurafuchs


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Rechtfertigender Notstand beim Klimaaktivismus: Klimaaktivist beschmiert die Fassade eines Universitätsgebäudes mit Wandfarbe.
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Klassisches Klausurproblem
Klimaprotest

Klimaschutzaktivist K beschmiert die Fassade des Universitätsgebäudes in L mit Wandfarbe, um auf die womöglich bald unumkehrbare Klimakrise aufmerksam zu machen und zum sofortigen Handeln zu appellieren. Der Universität entstehen dabei für die langwierige Beseitigung der Farbe Kosten i.H.v. €2.000.

Einordnung des Falls

Bei der Entscheidung des OLG Celle handelt es sich um eine der ersten obergerichtlichen Entscheidungen im Zuge der aktuellen Debatte zum „Klimaaktivismus“. Der Entscheidung lag der Fall eines Aktivisten zugrunde, der ein Universitätsgebäude in Lüneburg verunstaltet hatte und deswegen wegen Sachbeschädigung erstinstanzlich verurteilt worden war. Kern der Entscheidung bildet die Frage, ob zur Rechtfertigung solcher Aktionen auf die Figur des „Klimanotstandes“ oder des ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund des „zivilen Ungehorsams“ zurückgegriffen werden könne.

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Berlin/Brandenburg 2023

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Könnte K sich der Sachbeschädigung nach § 303 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben?

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Ja!

Gemäß § 303 Abs. 2 StGB wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert. Darüber hinaus muss der Täter auch mit Vorsatz (§ 15 StGB) sowie rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben Bei Graffiti-Fällen wie dem vorliegenden ist zu beachten, dass bei einer erheblichen Substanzverletzung der beschmierten Wände nach der Entfernung der Farbe mittels Hochdruckreiniger o. ä. bereits der § 303 Abs. 1 StGB greift und ein Rückgriff auf den materiell subsidiären durch das sog. Graffiti-Bekämpfungsgesetz eingeführten § 303 Abs. 2 StGB nicht mehr erforderlich ist. Für eine solche Substanzverletzung fehlen hier allerdings Anhaltspunkte im Sachverhalt.

2. Hat K tatbestandsmäßig i.S.v. § 303 Abs. 2 StGB gehandelt?

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Genau, so ist das!

Die unbefugte Veränderung des Erscheinungsbilds liegt vor, wenn ohne Zustimmung des Eigentümers der gegenständliche Sache ein von dem bisherigen abweichender Zustand der äußeren Erscheinungsform herbeigeführt wird. Die Veränderung ist nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend, sobald die Beeinträchtigung nicht nur unbedeutend oder nur von sehr kurzer Dauer ist, wobei die Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden müssen. Einen Anhaltspunkt liefert der Beseitigungsaufwand. Vorsatz ist das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. K hat die Fassade des Universitätsgebäudes ohne Zustimmung der Universität in L mit Wandfarbe beschmiert. Die langwierige Beseitigung der Farbe hat dabei Kosten i.H.v. €2.000 verursacht. Diese verursachten Kosten hat K dabei billigend in Kauf genommen (dolus eventualis).

3. K könnte aber gerechtfertigt gehandelt haben. Kommt im Hinblick auf die existenzielle Bedrohung der Menschheit durch die Klimakrise ein rechtfertigender Notstand gemäß § 34 StGB (sog. Klimanotstand) in Betracht?

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Ja, in der Tat!

Für die Bejahung eines rechtfertigen Notstand gemäß § 34 StGB muss eine gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut vorliegen (Notstandslage). Gefahr ist ein Zustand, bei dem es nach den konkreten tatsächlichen Umständen aus einer objektivierten ex-ante Perspektive wahrscheinlich ist, dass es zum Eintritt eines schädigenden Ereignisses kommt. Gegenwärtig ist die Gefahr nach hM auch, wenn zwar der Schadenseintritt nicht unmittelbar bevorsteht, er jedoch nur durch sofortiges Handeln noch abgewendet werden kann. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen führt der globale Temperaturanstieg zu z. B. Überschwemmungen, Hitzeperioden und Wasser- und Ressourcenknappheit und damit zu existenziellen Risiken für das Leib und Leben betroffener Menschen. Zur Abwendung dieser Gefahren sind dabei sofortige Klimaschutzmaßnahmen erforderlich.

4. Scheidet eine Rechtfertigung bereits deshalb aus, weil über § 34 StGB lediglich die Abwehr von Gefahren für Individualrechtsgüter gerechtfertigt werden kann?

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Nein!

Für die Bejahung eines rechtfertigen Notstand gemäß § 34 StGB muss eine gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut vorliegen (Notstandslage). Gemäß § 34 StGB kommen neben Leben, Leib, Freiheit, Ehre und Eigentum auch andere Rechtsgüterals zulässige Erhaltungsgüter in Betracht. Rechtsgüter der Allgemeinheit sind dabei grundsätzlich auch notstandsfähig (z.B. Tierschutz, vgl. Art. 20a GG). Die existenziellen Risiken für das Leib und Leben der vom Klimawandel betroffenen Menschen und die Lebensgrundlage der Menschheit im Allgemeinen stellen somit grundsätzlich notstandsfähige Rechtsgüter dar.

5. Ist das Beschmieren von Häuserfassaden nach Auffassung des OLGs Celle nicht geeignet um die Gefahr durch die Klimakrise abzuwehren?

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Genau, so ist das!

Die gegenwärtige Gefahr darf nicht anders als durch die Notstandshandlung abwendbar sein (§ 34 StGB). Voraussetzung dafür ist (1) die grundsätzliche Geeignetheit der Handlung und (2) das Fehlen eines milderen Mittels zur Beseitigung der Gefahr. Das OLG Celle argumentiert hier, dass das Beschmieren eines Universitätsgebäudes mit Farbe keine Auswirkungen auf den Klimawandel haben könne. Insofern sei es nicht in der Lage, diesem wirksam entgegenzutreten. Vielmehr sei das Verhalten des Angeklagten als rein politisch motivierte Symboltaten einzuschätzen und nicht ersichtlich, dass die Gefahr eines globalen Temperaturanstiegs nicht anders als durch die Begehung der Straftat abgewendet werden könnte (RdNr. 10).

6. Wird die Argumentation der OLGs Celle zum Klimanotstand in der Literatur einhellig geteilt und begrüßt?

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Nein, das trifft nicht zu!

Diese Entscheidung wurde in der Literatur kritisiert. Insbesondere verkenne das OLG (1) den Charakter der Handlung des K als demonstrativen Regelbruch und damit als sinnvollen Bestandteil eines Vorgehens zur Sensibilisierung für die Klimakrise. Dabei kann die drohende Verletzung des zu erhaltenden Guts so gravierend sein, dass auch das Interesse an der Wahrnehmung unsicherer Rettungschancen die Beeinträchtigung wesentlich überwiegt. 2 Darüber hinaus beschäftige sich das OLG nicht mit der Frage, ob es für den Täter denn überhaupt gleich geeignete, aber mildere Mittel gibt, um dem globalen Temperaturanstieg, insbesondere etwa durch politische Einflussnahme, entgegenzuwirken.An dieser Stelle musst Du in einer Klausur sorgfältig die Sachverhaltshinweise auswerten!

7. Ist Ks Verhalten als ziviler Ungehorsam einzustufen?

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Ja!

Unter zivilem Ungehorsam wird gemeinhin ein Verhalten verstanden, mit dem ein Bürger durch demonstrative, zeichenhafte Regelverletzungen in einer Angelegenheit von wesentlicher allgemeiner Bedeutung, insbesondere zur Abwendung schwerer Gefahren für das Allgemeinwesen, in dramatischer Weise auf den öffentlichen Meinungsbildungsprozess einwirken möchte. K möchte durch das Beschmieren der Fassade auf den wohlmöglich unumkehrbaren Klimawandel aufmerksam machen und die Politik und Gesellschaft zum sofortigen Handeln appellieren.

8. Scheidet eine Rechtfertigung von Straftaten wegen zivilen Ungehorsams nach Auffassung des OLGs Celle ebenfalls aus?

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OLG Celle: Art. 20 Abs. 4 GG beschränke das Recht auf Widerstand auf Situationen, in denen die grundgesetzliche Ordnung der Bundesrepublik im Ganzen bedroht sei. Daraus folge im Umkehrschluss, dass eine Friedenspflicht zu allen anderen Zeiten besteht. Wer auf den politischen Meinungsbildungsprozess einwirken möchte, könne dies in Wahrnehmung seiner Grundrechte aus Art. 5 GG (Meinungsfreiheit), Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit), Art. 17 GG (Petitionsrecht) und Art. 21 Abs. 1 GG (Freiheit der Bildung politischer Parteien) tun, nicht aber durch die Begehung von Straftaten. Darüber hinaus liefe die Akzeptanz von zivilen Ungehorsams als Rechtfertigungsgrund auf eine grundsätzliche Legalisierung von Straftaten zur Erreichung politischer Ziele hinaus.Eine Bedrohung der grundgesetzlichen Ordnung liege nicht vor. Eine vergleichbare Problematik stellt sich bei den Klima-Straßenblockaden. Verankert wird es hier bei der Verwerflichkeitsklausel (§ 240 Abs. 2 StGB). Da hierzu widersprüchliche erstinstanzliche Entscheidungen vorliegen, sind diese ebenfalls von besonderer Examensrelevanz!

9. Wird die Entscheidung des OLGs Celle zur Rechtfertigung wegen zivilen Ungehorsams in der Literatur einhellig abgelehnt?

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Nein, das trifft nicht zu!

In der Literatur wird zwar zunächst kritisiert, dass sich das OLG nicht mit der Frage beschäftigt hat, ob denn eine Bedrohung i.S.v. Art. 20 Abs. 4 GG überhaupt vorliegt oder nicht. Dies sei im Hinblick darauf, dass in den Naturwissenschaften durchaus Szenarien wie der Zusammenbruch der Zivilisation oder das Aussterben der Menschheit als mögliche Folgen der globalen Erwärmung diskutiert werden, nicht ganz fernliegend. Allerdings könne die Handlung des K selbst dann nicht als Widerstandshandlung gerechtfertigt werden. Denn sie sei nicht darauf angelegt ist, eigenmächtig Klimaschutzmaßnahmen durchzusetzen, sondern soll lediglich die politische Meinungsbildung beeinflussen. Zudem sei es widersprüchlich, wenn man sich bei einem Akt, der die Befolgung der Mehrheitsregel (keine Sachbeschädigung) in Frage stellt, auf eine Rechtfertigung innerhalb der Mehrheitsregel berufen will (Widerstandsrecht).

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