Herkunft der Sorgfaltspflichten – Standards und Gepflogenheiten bestimmter Verkehrskreise


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die Ärztin A der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses gewährt der Patientin P, die aufgrund ihrer Gewalttätigkeit eingewiesen war, unbeaufsichtigten Ausgang. P tötet dabei zwei Menschen. Grundlage für die falsche Gefahrenprognose war die methodisch inkorrekte Verwendung eines veralteten Prognoseverfahrens.

Einordnung des Falls

Herkunft der Sorgfaltspflichten – Standards und Gepflogenheiten bestimmter Verkehrskreise

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Eine Strafbarkeit der A wegen fahrlässiger Tötung setzt eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung voraus (§ 222 StGB).

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Ja!

Nach der Rspr. und hL setzt die Verwirklichung eines Fahrlässigkeitsdelikts zentral voraus, dass der Täter eine objektive Sorgfaltspflicht verletzt. Wann eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt, ergibt sich allerdings nicht aus der verletzten Strafnorm selbst, sondern muss aus externen Quellen bestimmt werden. Besteht keine einschlägige Sondernorm, kann sich der Sorgfaltsmaßstab aus den Standards und Gepflogenheiten bestimmter Verkehrskreise ergeben. Beispiele hierfür sind etwa die von der FIS aufgestellten Regeln für das Verhalten auf Skipisten, die Grundsätze waidmännischen Verhaltens oder die anerkannten Regeln eines bestimmten Berufsstandes.

2. A hat sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig verhalten.

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Genau, so ist das!

Bei der Erstellung von psychiatrischen Gefahrenprognosen sind die Regeln der ärztlichen Kunst zu beachten. Eine im Ergebnis falsche Prognose begründet nur dann eine Pflichtwidrigkeit, wenn sie methodisch inkorrekt, das heißt auf unvollständiger Tatsachengrundlage oder unter unrichtiger Bewertung der Tatsachen, erfolgt ist. Dazu gehört auch die methodisch korrekte Verwendung von Verfahren auf einem aktuellen wissenschaftlichen Stand. A hat nach einem veralteten Prognoseverfahren die Begutachtung methodisch inkorrekt durchgeführt.

3. Der Tod der zwei Menschen war auch objektiv vorhersehbar.

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Ja, in der Tat!

Nach hM. setzt eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit voraus, dass die Tatbestandsverwirklichung objektiv vorhersehbar gewesen sein muss. Danach müssen der Erfolgseintritt sowie Kausalverlauf für einen Durchschnittsmenschen des jeweiligen Verkehrskreises absehbar gewesen sein. Dabei ist eine konkrete Wahrscheinlichkeitsbeurteilung vorzunehmen. Die generelle Möglichkeit theoretischer Entwicklungen reicht nicht aus. Für einen durchschnittlichen psychiatrischen Arzt ist es nicht unvorhersehbar, dass eine noch gefährliche untergebrachte Person bei Gewährung von unbeaufsichtigten Ausgang weitere Straftaten, mitunter Tötungsdelikte, begeht.

4. Der Tod der zwei Menschen ist der A auch objektiv zurechenbar.

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Ja!

Bei Fahrlässigkeitsdelikten muss im Rahmen der objektiven Zurechnung auch ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang bestehen. Dieser ist nur gegeben, wenn sich im konkreten Erfolg gerade die Gefahr verwirklicht, die der Täter durch seine Sorgfaltspflichtverletzung geschaffen hat. Ein Dazwischentreten Dritter unterbricht die Zurechnung nicht, wenn die fahrlässig gesetzte Gefahr die vorsätzliche Handlung erst ermöglicht und sich die Zweithandlung noch im Rahmen des Voraussehbaren hält.Der fahrlässig gewährte Ausgang hat die Tötung erst ermöglicht. P's vorsätzliche Taten waren objektiv voraussehbar und bei pflichtgemäßem Verhalten objektiv vermeidbar.

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Johannes Nebe

Johannes Nebe

23.6.2022, 08:14:54

Zur Erklärung von Fall 3, Frage 1: Nominativ von lege artis ist lex artis. Vertiefung: Die Legehenne hingegen bleibt auch im Nominativ eine Legehenne (nicht Lexhenne).

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

23.6.2022, 10:30:00

Lieber Johannes, vielen Dank für den Hinweis. In der Tat steht die Wendung "lege artis" im lateinischen Ablativ und bedeutet so viel wie "nach den Regeln der Kunst". Wir haben uns hier nun für die deutsche Übersetzung entschieden, da der Gebrauch des Nominativ (lex artis) im Deutschen eher ungebräuchlich ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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