Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Fahrlässigkeit

Fahrlässigkeit: Herkunft der Sorgfaltspflichten – Allgemeiner Maßstab des Durchschnittsbürgers

Fahrlässigkeit: Herkunft der Sorgfaltspflichten – Allgemeiner Maßstab des Durchschnittsbürgers

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

V schmeißt eine Hausparty. Als er nachts als letzter sein Haus verlässt, schläft seine Tochter T bereits. Während seiner Abwesenheit kommt es durch noch glimmende Zigaretten der Gäste auf der Couch zu einem Schwelbrand. Als V zurückkehrt, ist T aufgrund einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung tot.

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Einordnung des Falls

Fahrlässigkeit: Herkunft der Sorgfaltspflichten – Allgemeiner Maßstab des Durchschnittsbürgers

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die relevante Tathandlung des V ist das Verlassen der Wohnung.

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine tauglich Tathandlung ist jedes menschliche Verhalten. Unterschieden wird zwischen aktivem Tun und Unterlassen. Abgrenzungskriterium ist dabei der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit. Schwerpunktmäßig vorzuwerfen ist V, dass er die noch glimmenden Zigaretten nicht weggeräumt hat (Unterlassen), nicht, dass er das Haus verlassen hat (aktives Tun).
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2. Eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Deliktsbegehung durch Unterlassen (§§ 222, 13 StGB; §§ 306d Abs. 1 Var. 1, 13 i.V.m. § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB) setzt eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung voraus.

Ja, in der Tat!

Nach der Rspr. und hL setzt sowohl die fahrlässige Verwirklichung eines Begehung- als auch eines Unterlassensdelikts zentral voraus, dass der Täter eine objektive Sorgfaltspflicht verletzt. Wann eine Sorgfaltspflichtverletzung vorliegt, ergibt sich allerdings nicht aus der verletzten Strafnorm selbst, sondern muss aus externen Quellen bestimmt werden. Fehlen gesetzliche Regeln oder bereichsspezifische Standards ist der allgemeine Maßstab des Durchschnittsbürgers anzuwenden.

3. V handelte objektiv sorgfaltspflichtwidrig.

Ja!

Nach dem allgemeinen Maßstab des Durchschnittsbürgers ergibt sich das Maß der anzuwendenden Sorgfalt daraus, wie sich ein gewissenhafter, besonnener Durchschnittsbürger in der konkreten Situation und sozialen Rolle des Täters verhalten würde. Dabei ist eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. BGH: Die allgemein schon bestehende Sorgfaltspflicht im Umgang mit Feuer sei vorliegend noch besonders gesteigert gewesen. Zu berücksichtigen seien dafür insbesondere die Vielzahl der noch glimmenden Zigaretten, die leicht entzündlichen Materialien sowie das Kleinkindalter der T (RdNr. 14f.). Diesen Anforderungen ist V nicht gerecht geworden.

4. Der Tod der T war objektiv vorhersehbar.

Genau, so ist das!

Nach h.M. setzt eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit voraus, dass die Tatbestandsverwirklichung objektiv vorhersehbar gewesen sein muss. Danach müssen der Erfolgseintritt sowie Kausalverlauf für einen Durchschnittsmenschen des jeweiligen Verkehrskreises absehbar gewesen sein. Dabei ist eine konkrete Wahrscheinlichkeitsbeurteilung vorzunehmen. Die generelle Möglichkeit theoretischer Entwicklungen reicht nicht aus. Für einen durchschnittlichen Vater ist es nicht unvorhersehbar, dass rauchende Partygäste noch glimmende Zigaretten zurücklassen, die Schwelbrände an leicht entzündlichen Materialien und damit mitunter tödliche Kohlenmonoxyd-Vergiftungen verursachen können.

5. Der Tod der T ist dem V auch objektiv zurechenbar.

Ja, in der Tat!

Im Rahmen der objektiven Zurechnung muss auch bei Fahrlässigkeitsdelikten ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang bestehen. Dieser ist nach der Vermeidbarkeitstheorie gegeben, wenn der konkrete Erfolg bei pflichtgemäßen Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen wäre. Es ist unklar, ob es auch zum Tod der T gekommen wäre, wenn V nicht das Haus verlassen hätte. Auch dann wäre V allerdings dazu verpflichtet gewesen, die noch glimmenden Zigaretten zu beseitigen. Hätte er dies getan, wäre T nicht gestorben.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Isabell

Isabell

28.8.2021, 11:54:21

Müssen alle meine Gastgeber und auch ich selbst bei den unzähligen Partys mit rauchenden Gästen ja unwahrscheinlich viel Glück gehabt haben, dass es noch nie zu Schwelbränden gekommen ist. Mit der Annahme dieses Erfahrungssatzes tue ich mich extrem schwer. Wird das im Urteil weiter ausgeführt?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.11.2021, 16:26:54

Hi Isabell, die Bedenken kann ich gut nachempfinden und tatsächlich hatte auch die Ausgangsinstanz die Pflichtwidrigkeit noch verneint. Der BGH hat hier insofern in der Tat etwas mehr ausgeholt und man spürt beim Lesen deutlich die dahinterstehende Verärgerung: "Die Angeklagte, die selbst Raucherin ist, gestattete ihren Gästen, in ihrer Wohnung zu rauchen. Sie ließ die beiden Kinder zumindest in der Zeit zwischen kurz nach 23:30 Uhr und 4:45 Uhr unbeaufisichtigt in der Wohnung, ohne zuvor die unordentlich auf der Couch befindlichen Zeitschriften, Papiere und Kleidungsstücke beseitigt zu haben. Wird der Umgang mit Feuer, und sei es auch nur in Form von entzündeten Zigaretten und glimmender Asche, zugelassen, erfordert es die allgemein und auch der Angeklagten bekannte Gefahr, die sich in dem achtlosen Umgang mit Feuer und Zigarettenresten verwirklichen kann, dass ein Übergreifen auf Papier und sonstige leicht entflammbare Materialien verhindert oder jedenfalls auf ein MInimum reduziert wird. Diese schon allgemein bestehende Sorgfaltspflicht war auf Grund der hier vorliegenden Umstände besonders gesteigert. [...]Auf der Couch befanden sich leicht entzündbare Materialien, u.a. ein Feuerzeug, Papier, eine Zeitschrift, ein Kissen und ein Kleidungsstück. Diese waren zudem in einem unordentlichen Zustand zurückgelassen worden." Warum es für die Entzündlichkeit auf die Unordentlichkeit der zurückgelassenen Gegenstände ankommt, kann ich Dir leider nicht beantworten ;-). Aber ich denke es wird deutlich, dass der BGH sich eben nicht nur auf die Zigarettenstummel bezieht, sondern auf die unmittelbare räumliche Nähe zu einer Vielzahl leicht entflammbarer Gegenstände. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Isabell

Isabell

2.11.2021, 16:56:01

Interessant. Ich werde mal mit der Brille für die Zwischentöne das Urteil lesen. Ein gutes Beispiel dafür, dass sich das Gericht ja aufgrund einer Gesamtwürdigung" das Urteil fällt. Und dass da wirklich viel im ungreifbaren Raum stattfindet, habe ich selbst in der Zeit bei der Staatsanwaltschaft erlebt. Da kann sich dann einiges von niederschlagen, was sich mit dem objektiven Tatsächlichen gar nicht so richtig erklären lässt.

CLA

chuck lawris

23.2.2022, 22:36:41

Das ist dann wohl die "Blackbox", von der Ingeborg Puppe berichtet. Wahrscheinlich dachte der BGH über das Signal nach, welches das Urteil vermittelt hätte, wenn er es hier hätte durchgehen lassen; "wenn ihr eine Party macht, dabei raucht und es sind Kinder im Haus, braucht ihr nicht danach zu schauen, ob auch alles save ist, wenn ihr woanders weiter feiert." Das wäre wohl kein rechtlich wertiges Signal gewesen. Allerdings sind mittlerweile auch Stoffe in den Zigaretten, durch welche diese von alleine ausgehen, wenn man eine Weile nicht dran zieht. Da sollte man sich eigentlich drauf verlassen können. Sei es drum, ergebnisorientierte Rechtsprechung kommt immer wieder mal vor und liegt dann allein in der Hand der Beteiligten 💁‍♂️

DO

Dominik

25.1.2023, 17:32:43

Naja, daran sieht man doch wie entscheidend oft eben doch das „Rechtsgefühl“ ist und wie dann manches doch noch zurecht gebogen wird. Wie gestraft eine Mutter wohl schon damit ist, ihre zwei kleinen Kinder zu verlieren, sollte klar sein - ob man da dann nochmal mit einer Verurteilung wegen fahrlässiger tötung nachtreten muss?

JI

Jimmy105

11.7.2024, 16:27:14

Das was ich aus diesem Auszug herauslese ist, dass gerade die Verknüpfung von m

ehre

ren eigentlich harmlosen und rechtlich nicht verbotenen Handlungen/Gegebenheiten gemeinsam eine gefährliche Situation geschaffen haben, die sich dann realisiert hat. M.E. zurecht bestraft.

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

18.9.2022, 12:22:18

Könnte man auf das Verlassen der Wohnung als

Tathandlung

abstellen, wenn sich der Tod durch ein Unglück im Haus ereignet hätte (unvorhersehbare Gasexplosion etc.) und der Schwerpunkt läge dann darin, dass V T nicht durch

aktives Tun

gerettet hat?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

23.9.2022, 11:28:55

Hallo eiskaltengel, wenn der Schwerpunkt der

Vorwerfbarkeit

darin liegt, dass V die T nicht durch

aktives Tun

gerettet hat ist genau auf diese Handlung in Form der Strafbarkeit durch Unterlassen abzustellen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

MAX06

max06

27.4.2023, 22:14:19

Richtig wäre Kohlenmonoxid, nicht Kohlenmonoxyd.

STUD

studyfuchs2

15.7.2023, 15:10:18

Wieso wird hier am Ende doch auf das aktive Tun (Verlassen des Hauses) abgestellt, obwohl es am Anfang heißt, der SP der Vorverwerfbarkeit liegt beim Unterlassen (nicht wegräumen der glimmenden Zigaretten)? Müsste es bzgl. des

Pflichtwidrigkeitszusammenhang

s dann nicht eigentlich heißen: Fraglich ist, ob es auch zum Tod der T gekommen wäre, wenn V es nicht unterlassen hätte, die Zigaretten wegzuräumen? Und das wäre dann ja ganz eindeutig, denn hätte er sie weggeräumt, würde T noch leben, also

Pflichtwidrigkeitszusammenhang

(+) oder habe ich da einen Denkfehler?

DI

Dini2010

2.8.2023, 21:20:06

Darauf wird doch am Ende abgestellt, zumindest verstehe ich es so. Hätte er die glimmenden Zigaretten entfernt, wäre T nicht gestorben. Und zu dem Verlassen des Hauses wird ja auch angemerkt, dass er selbst wenn er daheim geblieben wäre, die glimmenden Zigaretten hätte entfernen müssen. Von daher sehe ich das nicht als widersprüchlich oder ein abstellen auf ein Verlassen des Hauses :)

STUD

studyfuchs2

4.8.2023, 14:30:02

Okay danke dir :) Finde es trotzdem etwas missverständlich formuliert, aber solange wir uns einig sind, dass auf das Unterlassen abzustellen ist, ist das ja die Hauptsache 👍🏼

AL

algru

22.3.2024, 13:02:14

Kann man hier die objektive Sorgfaltspflichtverletzung auch in einem Verletzen der Aufsichtspflicht (§16

31 BGB

) sehen?

JALUD

Jan Ludwig

18.8.2024, 12:42:15

Nein, da die Pflichtverletzung nicht darin besteht, die Kinder nicht beaufsichtigt zu haben, sondern die Zigaretten nicht zu entfernen. Wenn die Kinder beaufsichtigt gewesend wären, wäre es ja trotzdem zu dem Brand gekommen, sofern die Zigaretten nicht ordnungsgemäß entfernt worden wären. Natürlich könnte man dann überlegen, ob dann bei Aufsicht der Kinder, diese nicht schneller aus dem Gefahrenbereich hätten gebracht werden können, das sind aber alles nur hypothetische Überlegungen.


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