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Justizielle Zusammenarbeit: Deutsche Staatsanwaltschaften nicht befugt zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls

Justizielle Zusammenarbeit: Deutsche Staatsanwaltschaften nicht befugt zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls

14. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die Staatsanwaltschaft Zwickau erlässt einen Europäischen Haftbefehl gegen den rumänischen Staatsangehörigen R, der dann in Irland festgenommen und inhaftiert wird. R rügt vor dem irischen Gericht, die deutsche Staatsanwaltschaft sei nicht zum Erlass solcher Haftbefehle befugt.

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Einordnung des Falls

Justizielle Zusammenarbeit: Deutsche Staatsanwaltschaften nicht befugt zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die räumliche Reichweite der Befugnisse der deutschen Strafverfolgungsbehörden beschränkt sich auf das deutsche Staatsgebiet.

Ja, in der Tat!

Die nationalen Strafverfolgungsorgane können nur auf deutschem Staatsgebiet hoheitliche Gewalt ausüben. Das Völkerrecht beschränkt die Ausübung von Hoheitsgewalt (sog. jurisdiction to enforce) grundsätzlich auf das Staatsgebiet des handelnden Staates (sog. principle of non-intervention). Ein Beschuldigter, der sich ins Ausland abgesetzt hat, kann deshalb nicht durch deutsche Polizeibeamte auf fremdem Staatsgebiet in Gewahrsam genommen werden.
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2. Der europäische Haftbefehl ermöglicht die EU-weite Durchsetzung eines nationalen Haftbefehls.

Ja!

Der europäische Haftbefehl basiert auf dem Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union 2002/584 – eine Handlungsform, die seit dem Vertrag von Lissabon nicht mehr vorgesehen ist. Der europäische Haftbefehl ist kein selbständiger Haftbefehl. Vielmehr ersucht damit die Justizbehörde (Art. 6 Rahmenbeschluss) eines EU-Mitgliedstaats um Festnahme einer Person in einem anderen EU-Mitgliedstaat und um Übergabe dieser Person zwecks Strafverfolgung, Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Sicherungsmaßnahme. Dieses Verfahren beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen.

3. Das irische Gericht hat Zweifel, ob deutsche Staatsanwaltschaften „Justizbehörden“ (Art. 6 Rahmenbeschluss) sind. Diese Frage kann es dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren vorlegen (Art. 267 AEUV).

Genau, so ist das!

Das Vorabentscheidungsverfahren ist ein Zwischenverfahren; es eröffnet keinen Rechtsbehelf für die Parteien eines bei einem innerstaatlichen Gericht anhängigen Rechtsstreits. Ist in einem gerichtlichen Verfahren die Auslegung von Unionsrecht relevant und unklar oder bestehen Zweifel an dessen Gültigkeit, kann das befasste mitgliedstaatliche Gericht dem EuGH Fragen vorlegen und das nationale Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH aussetzen (Art. 267 Abs. 1, 2 AEUV). Letztinstanzliche nationale Gerichte sind sogar zur Vorlage verpflichtet (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Das irische Gericht kann somit die Frage nach der konkreten Auslegung des unionsrechtlichen Rechtsbegriffs „Justizbehörde“ dem EuGH vorlegen.

4. Für den Fall, dass das Vorabentscheidungsverfahren eine inhaftierte Person betrifft, sieht der AEUV ein spezielles Eilverfahren vor.

Ja, in der Tat!

Für Rechtsfragen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 67ff. AEUV) existiert ein spezielles Eilvorabentscheidungsverfahren (Art. 23a EuGH-Satzung, Art. 107ff. VerfO-EuGH). Bei diesem werden die Verfahrensabläufe erheblich vereinfacht und verkürzt. Ein Sonderfall des Eilvorabentscheidungsverfahrens ist die Eilvorlage in Haftsachen (Art. 267 Abs. 4 AEUV). Hier muss der EuGH alle ihm vorgelegten Fragen, in denen die fortdauernde Haft eines Beschuldigten entscheidungserheblich von der Auslegung des Unionsrechts abhängt – wegen der besonderen Grundrechtsrelevanz einer Inhaftierung – „innerhalb kürzester Zeit“ entscheiden.

5. Der vom EuGH auszulegende Begriff der „Justizbehörde“ (Art. 6 Rahmenbeschluss) erfasst ausschließlich Richter und Gerichte des jeweiligen Mitgliedstaats.

Nein!

Grds. können Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer innerstaatlichen Verfahrensautonomie selbst festlegen, wer die für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige „Justizbehörde“ sein soll. Dieser Begriff bedarf aber dennoch in der gesamten Union einer einheitlichen Auslegung (RdNr. 49). EuGH: „Justizbehörde“ beschränke sich nicht allein auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats, sondern sei so zu verstehen, dass darüber hinaus auch die Behörden erfasst sind, die in dem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken und nicht Teil der Exekutive sind (RdNr. 50).

6. Die mit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls betraute Justizbehörde muss bei der Ausübung ihrer Aufgaben unabhängig handeln.

Genau, so ist das!

EuGH: Ein Beschuldigter müsse sowohl beim Erlass eines nationalen Haftbefehls als auch bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls umfassend in seinen Verfahrens- und Grundrechten geschützt werden (RdNr. 67). Deshalb müsse die ausstellende Justizbehörde der vollstreckenden Justizbehörde die Gewähr bieten können, dass sie bei der Ausübung ihrer Aufgaben unabhängig handelt. Diese Unabhängigkeit verlangt, dass durch Gesetz gewährleistet wird, dass die ausstellende Justizbehörde keinen externen Anordnungen oder Weisungen – insbesondere der Exekutive – unterliegt (RdNr. 73ff.).

7. Nach deutschem Recht kann die Staatsanwaltschaft im Einzelfall einer Weisung der Landesjustizverwaltung unterliegen.

Ja, in der Tat!

Die Beamten der deutschen Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen (§§ 146, 147 GVG). Diese Vorgesetzten sind einerseits der – zur Staatsanwaltschaft gehörende – Behördenleiter (internes Weisungsrecht) und andererseits die – außerhalb der Staatsanwaltschaft stehenden – Landesjustizverwaltungen sowie der Bundesminister der Justiz (externes Weisungsrecht). Der einzelne Staatsanwalt hat ihm erteilte Weisungen aufgrund beamtenrechtlicher Vorschriften (§ 62 Abs. 1 S. 2 BBG, § 35 S. 2 BeamtStG) zu befolgen.

8. Die deutsche Staatsanwaltschaft ist eine "Justizbehörde" (Art. 6 Rahmenbeschluss).

Nein!

EuGH: Zwar wäre wegen des Legalitätsprinzips eine offensichtlich rechtswidrige Weisung von der Staatsanwaltschaft nicht zu befolgen. Allerdings sehe das GVG ausdrücklich ein Weisungsrecht vor und treffe keine Aussage dazu, unter welchen Voraussetzungen es ausgeübt werden könne. Daher bestehe die Gefahr, dass die Exekutive im Einzelfall Einfluss auf die Staatsanwaltschaft ausüben kann. Dies garantiere gerade nicht, dass die Staatsanwaltschaft bei der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unabhängig handelt. Auch die Existenz eines Rechtsbehelfs gegen Entscheidungen der Staatsanwaltschaft ändere daran nichts (RdNr. 81ff.).

9. Da deutsche Staatsanwaltschaften danach keine "Justizbehörden" im Sinne des Rahmenbeschlusses sind, sind nicht zum Erlass Europäischer Haftbefehle befugt.

Genau, so ist das!

Rechtsfolge dieser - für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlichen - Auslegung des Begriffs der "Justizbehörden" im Sinne des Rahmenbeschlusses ist, dass deutsche Staatsanwaltschaften zum Erlass Europäischer Haftbefehle nach Unionsrecht nicht befugt sind. In der Folge sind von deutschen Staatsanwaltschaften erlassene Europäische Haftbefehle rechtswidrig und möglicherweise sogar unwirksam. Praktische Folge für Deutschland ist, dass Europäische Haftbefehle nunmehr durch Richter ausgestellt werden; ob gesetzlicher Handlungsbedarf besteht, wird geprüft. Auch die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften weiterer EU-Mitgliedstaaten ist aktuell Gegenstand von Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH.
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