Strafrecht

Strafprozessrecht

Das (weitere) Erkenntnisverfahren

U-Haft – verfassungskonforme Auslegung von § 112 III

U-Haft – verfassungskonforme Auslegung von § 112 III

31. Mai 2025

12 Kommentare

4,8(12.599 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
Tags
Klassisches Klausurproblem

Die 80-jährige Rollstuhlfahrerin R erstattet Selbstanzeige: Sie habe ihren Mann umgebracht, indem sie ihn von einer Leiter stieß. R wohnt seit 60 Jahren im eigenen Haus am selben Ort und hat dort 5 Kinder und 10 Enkelkinder. Wegen dringenden Tatverdachts beantragt die Staatsanwaltschaft Haftbefehl.

Diesen Fall lösen 70,5 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

U-Haft – verfassungskonforme Auslegung von § 112 III

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Es liegt ein Haftgrund iSv § 112 Abs. 2 StPO vor.

Nein, das trifft nicht zu!

Für die Anordnung der Untersuchungshaft muss grundsätzlich ein Haftgrund vorliegen (§ 112 Abs. 1 S. 1 StPO). Die StPO unterscheidet drei Haftgründe: (1) Flucht oder Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 und 2), (2) Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3) und (3) Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO). Aufgrund der festen Verwurzelung besteht keine Fluchtgefahr, wegen der Selbstanzeige liegt keine Verdunkelungsgefahr vor und eine Wiederholungsgefahr erscheint bei einer solchen Beziehungstat fernliegend.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Die Untersuchungshaft kann ausnahmsweise auch ohne Vorliegen eines Haftgrunds iSv § 112 Abs. 2 StPO angeordnet werden.

Ja!

Subsidiär kann bei dringendem Tatverdacht bezüglich eines Kapitaldelikts Untersuchungshaftung angeordnet werden, auch wenn kein Haftgrund iSd § 112 Abs. 2 StPO vorliegt (§ 112 Abs. 3). Hier besteht dringender Tatverdacht hinsichtlich in § 112 Abs. 3 StPO genannter Delikte, nämlich §§ 211, 212 StGB, sodass grundsätzlich ohne Vorliegen eines Haftgrundes ein Haftbefehl erlassen werden könnte.

3. § 112 Abs. 3 StPO hat nach der Rechtsprechung des BVerfG keine weiteren Voraussetzungen außer den dringenden Tatverdacht bezüglich eines Kapitaldelikts.

Nein, das ist nicht der Fall!

§ 112 Abs. 3 StPO erfordert im Wege verfassungskonformer Auslegung über seinen Wortlaut hinaus, dass nach den Umständen des Falles Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr besteht. Denn ansonsten würde es bei einem auf § 112 Abs. 3 StPO gestützten Haftbefehl an der Grundvoraussetzung aller strafprozessualen Zwangsmaßnahmen fehlen: Dem Zweck der Verfahrenssicherung. Die Feststellung der Flucht- bzw. Verdunkelungsgefahr ist hierbei jedoch erheblich erleichtert: Sie muss nicht mit konkreten Tatsachen belegt werden. Vielmehr reicht es aus, wenn Flucht- und/oder Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen sind. Aufgrund der Verwurzelung, des Alters, und des Nachtatverhaltens sind bei R Flucht- und Verdunkelungsgefahr auszuschließen.
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

25.9.2021, 18:44:14

Die begangene Tat steht doch nicht in § 112a StPO, sodass diese Vorschrift bereits hieran scheitern dürfte und nicht an der Unwahrscheinlichkeit aufgrund der Beziehungstat.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

4.10.2021, 16:23:34

Hallo Paci96, in der Tat stehen die Tötungsdelikte nicht im Katalog des - subsidiären - § 112a StPO. Das ist im Hinblick auf die Gesetzessystematik auch nur folgerichtig, da nach dem Wortlaut des § 112 Abs. 3 StPO in den Fällen der dort aufgeführten Delikte überhaupt kein Haftgrund

erforderlich

wäre. Folglich bedarf es hier eigentlich auch keiner Aufnahme in den Katalog des § 112a Abs. 1 StPO. Da das BVerfG den heutigen § 112 Abs. 3 StPO aber verfassungskonform ausgelegt hat und auch bei den dort genannten Delikten einen Haftgrund fordert, sind hierbei - um Wertungswidersprüche zu vermeiden - nicht nur die Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen, sondern auch die Wiederholungsgefahr. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ABI

Abi

28.7.2023, 18:50:51

Das Beispiel mit der Omi, die ihren Mann getötet / ermordet hat, passt nicht gut, um den $ 112 Abs. 3 StPO zu erklären. Es müsste schon ein Fallbeispiel gewählt werden, in dem ein Katalogtatbestand des Absatz 3 verwirklicht wurde. Die Erläuterung an sich ist aber sehr gut :)

Dogu

Dogu

4.4.2024, 11:26:51

@[Abi](142073) Wie meinst Du das?

Totschlag

und Mord sind doch in § 112 III StPO enthalten?

FW

FW

25.9.2024, 11:46:23

Hi, Bin ich der einzige, der die Begründung für seltsam hält? Der § 112 III StPO ist doch in seinem Wortlaut eindeutig. Außerdem findet doch logischerweise auch § 112 I 2 StPO, der Verhältnismäßigkeitsgrundstz, Anwendung, sodass man hier bereits die

Erforderlichkeit

verneinen würde.

2cool4lawschool

2cool4lawschool

11.1.2025, 15:24:42

Ich verstehe was du meinst.. aber der VHMK-Grundsatz allein reicht nicht bei der Zwangsmaßnahme. Irgendeinen Grund muss es dafür geben... In § 112 Abs. 3 StPO steht, "wenn ein Haftgrund nach Abs. 2 nicht besteht". Den Maßstab haben wir so oder so nicht... aber § 112 Abs. 3 StPO strikt nach Wortlaut anzuwenden würde bedeuten, dass man für alle Kap-Delikte auf der Grundlage einen Haftbefehl erwirken könnte. Das wäre verfassungsrechtlich problematisch.. Vor allem aber auch systematisch fragwürdig, wenn diese Vorschrift ja gerade im Bereich einer Zwangsmaßnahme angesiedelt ist...

Mareici

Mareici

1.5.2025, 12:22:40

Ich habe die Argumentation so verstanden: Das Problem ist, dass wenn man den Haftungsgrund allein auf das vermeintlich begangene Delikt stützt, man in gewisser Weise eine Vorverurteilung vornimmt, indem man jemanden einsperrt, nur weil er einer bestimmten Straftat verdächtig ist. Das würde dem Rechtsstaatsprinzip widersprechen und macht die Vorschrift eig. verfassungswidrig. Wenn man allein über die Verhältnismäßigkeit geht, müsste die dann immer abgelehnt werden. Deshalb müssen zusätzlich jedenfalls auch noch Anzeichen für einen anderen Haftgrund gegeben sein, was die den Absatz einerseits verfassungsgemäß macht und andererseits dann auch Raum für eine zusätzliche Verhältnismäßigkeitsprüfung lässt...

KermitTheFraud

KermitTheFraud

4.1.2025, 10:00:17

Hi, könnte die zweite Frage überarbeitet werden? Hat man den Aufbau der Aufgabe nicht im Kopf, muss man davon ausgehen dass hier bereits nach der Rechtsprechung gefragt werden. Deswegen wäre eine Fragestellung, die eben konkret nach dem Wortlaut der Norm fragt, mehr geeignet


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community