Strafrecht

Strafprozessrecht

Das Erkenntnisverfahren

U-Haft – verfassungskonforme Auslegung von § 112 III

U-Haft – verfassungskonforme Auslegung von § 112 III

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem

Die 80-jährige Rollstuhlfahrerin R erstattet Selbstanzeige: Sie habe ihren Mann umgebracht, indem sie ihn von einer Leiter stieß. R wohnt seit 60 Jahren im eigenen Haus am selben Ort und hat dort 5 Kinder und 10 Enkelkinder. Wegen dringenden Tatverdachts beantragt die Staatsanwaltschaft Haftbefehl.

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Einordnung des Falls

U-Haft – verfassungskonforme Auslegung von § 112 III

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Es liegt ein Haftgrund iSv § 112 Abs. 2 StPO vor.

Nein, das trifft nicht zu!

Für die Anordnung der Untersuchungshaft muss grundsätzlich ein Haftgrund vorliegen (§ 112 Abs. 1 S. 1 StPO). Die StPO unterscheidet drei Haftgründe: (1) Flucht oder Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 und 2), (2) Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3) und (3) Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO). Aufgrund der festen Verwurzelung besteht keine Fluchtgefahr, wegen der Selbstanzeige liegt keine Verdunkelungsgefahr vor und eine Wiederholungsgefahr erscheint bei einer solchen Beziehungstat fernliegend.
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2. Die Untersuchungshaft kann ausnahmsweise auch ohne Vorliegen eines Haftgrunds iSv § 112 Abs. 2 StPO angeordnet werden.

Ja!

Subsidiär kann bei dringendem Tatverdacht bezüglich eines Kapitaldelikts Untersuchungshaftung angeordnet werden, auch wenn kein Haftgrund iSd § 112 Abs. 2 StPO vorliegt (§ 112 Abs. 3). Hier besteht dringender Tatverdacht hinsichtlich in § 112 Abs. 3 StPO genannter Delikte, nämlich §§ 211, 212 StGB, sodass grundsätzlich ohne Vorliegen eines Haftgrundes ein Haftbefehl erlassen werden könnte.

3. § 112 Abs. 3 StPO hat nach der Rechtsprechung des BVerfG keine weiteren Voraussetzungen außer den dringenden Tatverdacht bezüglich eines Kapitaldelikts.

Nein, das ist nicht der Fall!

§ 112 Abs. 3 StPO erfordert im Wege verfassungskonformer Auslegung über seinen Wortlaut hinaus, dass nach den Umständen des Falles Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr besteht. Denn ansonsten würde es bei einem auf § 112 Abs. 3 StPO gestützten Haftbefehl an der Grundvoraussetzung aller strafprozessualen Zwangsmaßnahmen fehlen: Dem Zweck der Verfahrenssicherung. Die Feststellung der Flucht- bzw. Verdunkelungsgefahr ist hierbei jedoch erheblich erleichtert: Sie muss nicht mit konkreten Tatsachen belegt werden. Vielmehr reicht es aus, wenn Flucht- und/oder Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen sind. Aufgrund der Verwurzelung, des Alters, und des Nachtatverhaltens sind bei R Flucht- und Verdunkelungsgefahr auszuschließen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

25.9.2021, 18:44:14

Die begangene Tat steht doch nicht in § 112a StPO, sodass diese Vorschrift bereits hieran scheitern dürfte und nicht an der Unwahrscheinlichkeit aufgrund der Beziehungstat.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

4.10.2021, 16:23:34

Hallo Paci96, in der Tat stehen die Tötungsdelikte nicht im Katalog des - subsidiären - § 112a StPO. Das ist im Hinblick auf die Gesetzessystematik auch nur folgerichtig, da nach dem Wortlaut des § 112 Abs. 3 StPO in den Fällen der dort aufgeführten Delikte überhaupt kein Haftgrund erforderlich wäre. Folglich bedarf es hier eigentlich auch keiner Aufnahme in den Katalog des § 112a Abs. 1 StPO. Da das BVerfG den heutigen § 112 Abs. 3 StPO aber verfassungskonform ausgelegt hat und auch bei den dort genannten Delikten einen Haftgrund fordert, sind hierbei - um Wertungswidersprüche zu vermeiden - nicht nur die Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen, sondern auch die Wiederholungsgefahr. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ABI

Abi

28.7.2023, 18:50:51

Das Beispiel mit der Omi, die ihren Mann getötet / ermordet hat, passt nicht gut, um den $ 112 Abs. 3 StPO zu erklären. Es müsste schon ein Fallbeispiel gewählt werden, in dem ein Katalogtatbestand des Absatz 3 verwirklicht wurde. Die Erläuterung an sich ist aber sehr gut :)

Dogu

Dogu

4.4.2024, 11:26:51

@[Abi](142073) Wie meinst Du das? Totschlag und Mord sind doch in §

112 III StPO

enthalten?

FW

FW

25.9.2024, 11:46:23

Hi, Bin ich der einzige, der die Begründung für seltsam hält? Der §

112 III StPO

ist doch in seinem Wortlaut eindeutig. Außerdem findet doch logischerweise auch § 112 I 2 StPO, der Verhältnismäßigkeitsgrundstz, Anwendung, sodass man hier bereits die Erforderlichkeit verneinen würde.


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