Verstoß gegen StVO = verwerflich?

11. Juli 2025

8 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

T will auf die Autobahn auffahren, auf der O bereits mit 80 km/h fährt. Sie beschleunigt zum Auffahren auf 90 km/h und biegt in einem Abstand von wenigen Metern vor O auf die Fahrspur. O ist gezwungen stark abzubremsen. Eine konkrete Gefährdung tritt nicht ein.

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Einordnung des Falls

Verstoß gegen StVO = verwerflich?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T könnte den objektiven Tatbestand von § 240 Abs. 1 StGB erfüllt haben. Kommt hier nur eine Drohung in Betracht?

Nein!

Indem T kurz vor O auf die Fahrspur einbiegt, könnte sie Gewalt ausgeübt haben (§ 240 Abs. 1 Alt. 1 StGB) Der Begriff der Gewalt ist umstritten. Der klassische Gewaltbegriff ist die anerkannte Grundlage aller Definitionsversuche. Er setzt voraus, dass der Täter (1) durch körperliche Kraftentfaltung (2) Zwang ausübt, indem er auf den Körper eines anderen einwirkt, (3) um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden.T ordnet sich knapp vor O ein und entfaltet so körperliche Kraft. O ist gezwungen, stark abzubremsen. Insofern wurde ein physisch wirkender Zwang auf O ausgeübt. T hat Gewalt angewandt.
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2. T hat gegen die StVO verstoßen. Ergibt sich bereits daraus, dass Ts Handlung verwerflich i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB war?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Tat ist verwerflich, wenn das Nötigungsmittel zu dem beabsichtigten Zweck in einem auffallenden Missverhältnis steht, als sozialethisch missbilligenswert anzusehen ist. Diese Beurteilung richtet sich stets nach allen Umständen des Einzelfalls. Zwar verstößt T beim Auffahren gegen die StVO. Aber selbst vorsätzliche StVO-Verstöße werden nach der gesetzgeberischen Konzeption nur als Ordnungswidrigkeiten geahndet. Deshalb begründet allein der StVO-Verstoß die Verwerflichkeit nicht.

3. T hat O einmalig und nur kurz beeinträchtigt und nicht gefährdet. Handelte T verwerflich (§ 240 Abs. 2 StGB)?

Nein, das trifft nicht zu!

Das Auffahren auf die rechte Spur ist ein einmaliger Vorfall. O wird nur kurz beeinträchtigt und nicht gefährdet. Das spricht bereits gegen die Verwerflichkeit.Es gibt eine Vielzahl denkbarer Nötigungskonstellationen im Straßenverkehr. Du musst sie nicht alle kennen. Die Argumentation läuft immer ähnlich. Wichtig ist, dass Du mit dem Sachverhalt arbeitest und eine vertretbare Lösung findest. Faustregel bei Fällen der Nötigung im Straßenverkehr: Je intensiver die Einwirkung auf den Genötigten, desto eher kann Verwerflichkeit bejaht werden. Kurze, gefahrlose Beeinträchtigungen sind i.d.R. nicht verwerflich. Hier hilft auch oft der „gesunde Menschenverstand“. Bis zu einer gewissen Grenze ist es nicht zu vermeiden, dass es zu zwischenmenschlichen „Konfrontationen“ kommt. Wenn jede noch so kleine Auseinandersetzung eine Nötigung wäre, würde der Straftatbestand völlig ausufern. Genau das soll mit § 240 Abs. 2 StGB verhindert werden.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

BL

Blotgrim

15.10.2022, 01:21:41

Ich verstehe das mit dem Ergebnis einmaligem Vorfall nicht ganz, wenn ich jetzt drohe jemanden zu schlagen kann das doch auch einmalig sein. Oder verstehe ich die Antwort gerade komplett falsch ^^ Lg

Simon

Simon

14.9.2023, 18:46:43

Für mich läuft das unter dem Punkt der Erheblichkeitsschwelle. Ein einmaliges Abbremsen zu verursachen ist nicht ausreichend, um den T strafrechtlich zu sanktionieren. Jemanden einen Faustschlag zu verpassen ist damit nicht vergleichbar schon wegen der Schmerzen und der mit dem Faustschlag verbundenen Geringschätzung durch den Schlagenden.

Linne Hempel

Linne Hempel

10.7.2025, 16:22:05

Hallo ihr zwei, bisher waren die Subsumtionen zu diesem Fall leider recht oberflächlich. In der Tat ist für die Feststellung der Verwerflichkeit Voraussetzung, dass eine Bagatellschwelle überschritten wird. Im Straßenverkehr sind kurzfristige und gefahrlose Einwirkungen auf andere deswegen in der Regel nicht als verwerflich anzusehen. Wie immer kommt es aber auch auf den Einzelfall an. Im Zuge einer umfassenderen Überarbeitung der Einheiten zur Nötigung haben wir diesen Aspekt jetzt in die Subsumtion mit aufgenommen und die Antworten präziser gestaltet. Viele Grüße! Linne – für das Jurafuchs-Team

Kind als Schaden

Kind als Schaden

2.1.2024, 13:25:36

Inwiefern passt der Vertiefungstext hier denn zum Ergebnis? Im Ergebnis scheidet eine Strafbarkeit ja aus. Die Vertiefung besagt aber, dass es nicht der gesetzgeberischen Konzeption entspricht, vorsätzliche Verstöße als bloße Ordnungswidrigkeit zu ahnden.

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat

21.6.2024, 12:10:17

Ich glaube du missverstehst den Vertiefungshinweis. Dieser sagt, dass es auch nicht der gesetzgeberischen Konzeption entsprechen würde, diese Handlung als Nötigung einzustufen, da der Gesetzgeber auch vorsätzliche Verstöße gegen die StVO grds. nur als Ordnungswidrigkeiten einstuft.


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