„Spanner-Fall“
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Spanner S drang wiederholt in das Haus der Eheleute M und F ein. Sie litten unter starker Angst. Beim nächsten Besuch des S folgte M dem flüchtenden S und gab einen Warnschuss mit seiner Waffe ab. Als S weiterlief, schoss er ihm in die linke Gesäßhälfte, um ihn dingfest zu machen.
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Einordnung des Falls
„Spanner-Fall“
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Erfüllt M den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung aus §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB, ist aber durch das Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 StPO gerechtfertigt?
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. Ist M durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt?
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Bestand eine gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut, also eine Notstandslage im Sinne des § 34 StGB?
Ja, in der Tat!
4. Erfüllt M auch die weiteren Voraussetzungen des § 34 StGB. Insbesondere überwog das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse wesentlich?
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Der BGBoss
12.12.2020, 23:52:02
Ich finde es immer wieder stark, wie effizient ihr derartige SV in Länge einer Twitternachricht so präzise und umfassend darstellt. 👍🏼 LG
Eigentum verpflichtet 🏔️
13.12.2020, 13:07:23
Danke dir BGBOSS 😉
marie
3.1.2022, 00:25:48
Kurze Frage, hier wird mit dem
Defensivnotstandargumentiert. Ich dachte, der kommt nur zur Anwendung, wenn der Täter eine Gefahr, welche von einer Sache ausgeht, beseitigt und hierfür die Sache beschädigt/zerstört. Der S ist aber ein Mensch und keine Sache🤔 vielleicht kann jemand weiterhelfen :)
Real Thomas Fischer Fake 🐳
3.1.2022, 01:26:13
Meiner Ansicht nach ist die Lösung hier tatsächlich nicht korrekt. Es liegt kein
Defensivnotstandvor. Bei der Abwägung nach § 34 kann allerdings der Rechtsgedanke des § 228 S. 2 BGB herangezogen werden: Wer den Eintritt der Gefahr selbst verschuldet hat (wie hier der Spanner S) dessen Interessen sind weniger schutzwürdig. Ich glaube diese einfache Überlegung war hier gemeint (wurde aber schlecht erklärt).
Lukas_Mengestu
3.1.2022, 09:04:30
Hallo ihr beiden, vielen Dank für eure Rückfrage. In der Tat sind die Begriffe Aggressiv- und
Defensivnotstandvor allem in den Fällen bekannt, in denen die Gefahr von einer Sache ausgeht. Hierfür bestehen im BGB
spezialgesetzliche Regelungen (§§ 228, 904 BGB). Aber diese Unterscheidung findet auch im § 34 StGB Anwendung, wenn die Gefahr von einem Menschen ausgeht (vgl. Perron, in: Sch/Sch-StGB, § 34 RdNr. 30). Nur ist die Unterscheidung hier regelmäßig nicht ganz so relevant, da in der Regel Fälle des "
Defensivnotstandes", also der Fall, dass dem Opfer ein Vorverschulden zur Last fällt, von
§ 32 StGBabgedeckt wird. Nur in Fällen wie zB hier im Spannerfall, in denen ausnahmsweise die Notwehr ausscheidet, muss man sich fragen, ob eine Rechtfertigung wirklich nur bei wesentlichem Überwiegen
Lukas_Mengestu
3.1.2022, 09:07:22
der
Rechtsgüterin Betracht kommt. Ähnlich wie auch bei dem
Defensivnotstandgegen Sachen lässt man hier sodann genügen, dass der Schaden nicht außer Verhältnis steht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
QuiGonTim
22.3.2022, 20:46:43
Ist das Strafverfolgungsinteresse eigentlich auch ein notstandsfähiges Rechtsgut? Oder wird es durch die lex specialis 127 I 1 StPO aus dem Tatbestand 34 StGB gedrängt?
Lukas_Mengestu
23.3.2022, 16:23:15
Hallo QuiGonTim, von einigen Stimmen in der Literatur wird das Strafverfolgungsinteresse als notstandsfähiges Rechtsgut eingeordnet (Perron, in: Sch/Sch-StGB, 30.A. 2019, § 34 RdNr. 11). Allerdings soll es auf den äußersten Notfall beschränkt sein, da grundsätzlich das Gewaltmonopol des Staates Vorrang hat. Flächendeckend durchgesetzt hat sich diese Auffassung aber wohl nicht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
I-m-possible
25.6.2022, 13:13:57
Nora Mommsen
7.7.2022, 11:54:28
Hallo I-m-possible, bei
§ 228 BGBhandelt es sich um einen zivilrechtlichen Rechtfertigungsgrund. Dieser kann auch im Strafrecht grundsätzlich und als Wertung herangezogen werden, denn was zivilrechtlich erlaubt ist kann nicht strafrechtlich verfolgt werden. Hier spielt der Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung mit rein. Und die Interessenabwägung bei
§ 228 BGBerfolgt dergestallt, dass der Schaden an der gefährlichen Sache nicht außer Verhältnis zu der drohenden Gefahr stehen darf während bei § 34 StGB ein wesentliches Überwiegen der beeinträchtigten Interesses erforderlich ist. Dies erfolgt zunächst anhand des abstrakten Rangverhältnis der betroffenen
Rechtsgüter, dann nach dem Grad der drohenden Gefahr sowie dem Ausmaß der drohenden Verletzung. Bei dieser Abwägung kann dann auch
§ 228 BGBmit seiner Gewichtung reinspielen. Zwar stehen sich bei
§ 228 BGBnur Sachwerte gegenüber, sodass die Wertung nicht 1:1 übernommen werden kann. Allerdings ist der Grundgedanke des
§ 228 BGB- die geringe Schutzwürdigkeit von Gefahrenquellen - übertragbar. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Marius
6.7.2022, 00:11:41
Das (eine Schussverletzung) soll verhältnismäßig sein?! Bei einem Schuss ins Gesäß können ja drastische Verletzungen und bleibende Schäden entstehen. So schwer der Eingriff in die Intimsphäre auch sein mag, aber der Einsatz einer Schusswaffe ist doch die schwerste denkbare realitätsnahe Maßnahme.
ehemalige:r Nutzer:in
6.7.2022, 09:52:34
Deine Ansicht ist sicher auch vertretbar (Der BGH hats ja auch offen gelassen). Auf Seiten der Eheleute ist neben dem Persönlichkeitsrecht allerdings auch die Gesundheit betroffen. Wichtig ist vermutlich vor allem, dass erkannt wird, dass ausnahmsweise ein anderer Maßstab an die Verhältnismäßigkeit i.R.d. 34 StGB zu stellen ist (statt wesentlichem Überwiegen reicht wg. des Rechtsgedankens des
228 BGB, dass der Schaden nur nicht außer Verhältnis zur Gefahr steht).
lennart20
17.3.2023, 09:40:45
Könntet ihr für den rechtfertigenden Notstand noch allgemeinere Fälle hinzufügen?
Nora Mommsen
20.3.2023, 15:25:35
Hallo lennart20, danke dir für die Anregung. Das nehmen wir gerne mit auf unsere Liste :) Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Raphaeljura
11.5.2023, 00:57:07
Aber wie kann die Rechtssprechung das offen lasse? Das Gericht muss doch erst die Rechtfertigung prüfen und dann die Schuld? Ansonsten ist es doch falsch.
se.si.sc
11.5.2023, 08:52:50
So ist es vielleicht in einem Gutachten, aber nicht in einem Urteil. Das ist auch nicht falsch, weil jedes Urteil nur die wesentlichen, die Entscheidung tragenden Gründe enthalten muss (s zB MüKo-StPO, § 267 Rn 53). Wenn der Angeklagte (aus Sicht des Gerichts) offensichtlich gerechtfertigt ist, springt man im Urteil direkt zur Rechtfertigung und muss sich mit Tatbestandsfragen nicht mehr befassen. Das spart nicht nur Zeit (und ggf Nerven), sondern alles andere wäre streng genommen sogar "falsch" - es spielt ja gar keine Rolle, was auf der Tatbestandsebene herauskommt, wegen der Rechtfertigung ist der Angeklagte ohnehin freizusprechen. Dementsprechend würden (vertiefte) Ausführungen zur Tatbestandsebene die Entscheidung gar nicht tragen. Details dazu kommen dann im Referendariat.
ehemalige:r Nutzer:in
24.9.2023, 18:51:30
Wird der Punkt des
Defensivnotstands im Rahmen der
Rechtsgüterabwägung oder der Angemessenheit der Tat geprüft? Dort wird ja auch Bezug auf die erhöhte Opferpflicht genommen
Lukas_Mengestu
26.9.2023, 12:10:05
Hallo menraya, den
Defensivnotstandsolltest Du bereits bei der Abwägung der geschützten Interessen berücksichtigen, da hierdurch die "Schutzwürdigkeit der kollidierenden
Rechtsgüter" des S herabgesetzt wird. Nur dadurch kommt es letztlich dazu, dass die
Rechtsgüterder Eheleute hier "wesentlich überwiegen". Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
jannis21
25.9.2023, 12:20:49
Meiner Meinung nach passt der Antwortbutton "Ja" als vermeintlich richtige Antwort weder zur Frage noch zur inhaltlich korrekten Erklärung. Die Frage fragt AUSDRÜCKLICH ob alle Bedingungen für eine gerechtfertigte Notstandshandlung gem. §34 StGB vorliegen und INSBESONDERE ob das geschützte Interesse das verletzte Interesse WESENTLICH überwiegt. Diese Frage ist klar mit "Nein" zu beantworten. Dies stimmt auch mit dem Lösungstext überein, welcher im ersten Satz die Richtigkeit der Aussage klar verneint und stattdessen auf den §34 StGB mit dem Rechtsgedanken des §
228 BGBals korrekte Lösung verweist. Im Widerspruch dazu ist jedoch der Antwortbutton "Ja" korrekt und nicht "Nein".
Lukas_Mengestu
26.9.2023, 11:51:25
Hallo Jannis, vielen Dank für Deinen Hinweis! Wir haben den Antworttext an dieser Stelle noch etwas präzisiert. Wichtig ist, dass im Rahmen der Abwägung der Interessen eben nicht nur der grundsätzliche Rang der kollidierenden
Rechtsgütermiteinander verglichen wird (zB persönliche Wirtschaftsgüter grds. höher gewichtet als wirtschaftliche), sondern auch andere Kriterien berücksichtigt werden, u.a. die Schutzwürdigkeit der kollidierenden
Rechtsgüterim Einzelfall. Diese ist herabgesetzt, wenn das "Opfer" die Beeinträchtigung des Rechtsguts selbst verschuldet hat. So liegt der Fall hier. S hat durch seine wiederholten Spannerattacken selbst die Ursache dafür gesetzt, dass sich M zur Abgabe des Schusses genötigt sah, weshalb man hier mit guten Argumenten ein Überwiegen der geschützten Interessen der Eheleute und damit einen rechtfertigenden Notstand annehmen kann. Eine andere Auffassung ist natürlich ebenfalls vertretbar, dann müsste man sich aber auf Ebene der Schuld noch mit dem entschuldigenden Notstand auseinandersetzen und diesen bejahen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
njiao8
13.1.2024, 16:47:42
Leo Lee
14.1.2024, 13:36:17
Hallo Nina Jiao, vielen Dank für dein Feedback! In der Tat greift
228 BGBnach dem Wortlaut nur für Sachwehr ein. Beachte allerdings, dass i.R.d. 34 StGB bei der Interessenabwägung deshalb nur der RECHTSGEDANKE des
228 BGBzum Tragen kommt (und zwar, dass derjenige, der diese Gefahrlage herbeiführt, mehr dulden muss), weshalb wir hier das Problem des Wortlauts nicht haben. Hierzu kann ich die Lektüre von MüKo-StGB 4. Auflage, Erb § 34 Rn. 205 ff. empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Haniel Dardman
18.1.2024, 19:00:47
So ganz stimmt das ja nicht. Das Interesse der Eheleute hat das des Spanners nicht wesentlich überwogen, vor allem, da der Ehemann den Spanner auch schwerer hätte verletzen können. Aber hier wurde eben argumentiert, dass, dadurch, dass der Spanner die Notstandslage selbst verursacht hat er mehr dulden müsse, als ein unbeteiligter Dritte. Und eben dann muss das geschützte Interesse nicht mehr deutlich überwiegen, da man den Grundgedanken des §
228 BGBanwendet (nicht die Norm an sich). Ein wesentliches Überwiegen ist somit zu verneinen.
Leo Lee
20.1.2024, 14:41:23
Hallo Haniel Dardman, vielen Dank für dein Feedback! Zunächst könnte man tatsächlich meinen, ein Schuss auf den Spanner sei kein Fall des wesentlichen Überwiegens des Interesses. Beachte allerdings, dass – wie du richtig zitierst – der Spanner mehr hinnehmen muss gem.
§ 228 BGB(also mit dem Rechtsgedanken) i.R.d. Interessenabwägung, weil er diese Lage eben „selbst verschuldet“ hat. Diese Wertung ist auch insofern billig, als der Spanner nicht irgendein Unschuldiger ist, der gerade vorbeiläuft. Und weil er eben nicht „unschuldig“ ist, muss er mehr hinnehmen gem.
§ 228 BGB(Rechtsgedanke), was wiederum dazu führt, dass in der Abwägung zw. dem Interesse der Eheleute und dem Interesse des Spanners die Entscheidung zu Gunsten der Eheleute ausfällt. Die Tatsache, dass der Ehemann den Spanner auch hätte schwerer Verletzen können, ist insofern für die Abwägung i.R.d. § 34 nicht von Belang, da wir hier nur von den Tatsachen ausgehen, die bereits eingetreten sind. Falls ich deine Frage missverstanden haben sollte, würde ich mich über eine Rückmeldung sehr freuen! I.Ü. kann ich hierzu die Lektüre von MüKo-StGB 4. Auflage, Erb § 34 Rn. 205 ff. sehr empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Haniel Dardman
20.1.2024, 15:07:47
Hallo Leo Lee, mein Prof ist jedenfalls der Ansicht, dass bei einem „
Defensivnotstand“ beim §34 in der Interessenabwägung kein wesentliches Überwiegen nötig ist, sondern diese schlichtweg nicht außer Verhältnis stehen sollen (wie im §
228 BGB). Selbst wenn also kein wesentliches Überwiegen wie in diesem Fall vorliegt, ist trotzdem eine gültige Notstandshandlung iSd §34 gegeben. Bezüglich der Gefährlichkeit des Schusses ist mein Prof der Ansicht, dass der Grad der drohenden Gefahren (drohende Gefahr für geschütztes Interesse und drohende Gefahr, welche durch die Notwerhandlung entsteht/aller Wahrscheinlichkeit nach entstehen könnte) berücksichtigt werden müssen. Gerade beim letzten Punkt bin ich mir auch nicht so sicher, was ich davon halten soll. Ich würde mich über eine Antwort freuen.
Schwanzanwaltschaft
19.3.2024, 17:32:49
Moin Moin, woraus ergibt sich, dass §127 StPO nicht zum Schusswaffen gebrauch berechtigen kann?
Gruttmann
19.3.2024, 20:31:22
Hallo, Zum einen glaube ich, dass das Festnahmerecht eher dazu dient, die Identität des Täters festzuhalten. Des Weiteren finde ich, dass jemand, der wegrennt, im Vergleich zu einem Angreifer, wie zum Beispiel bei der Notwehr, keine große Gefahr mehr darstellt, weil er ja nur „wegrennt“ und damit noch keine erheblichen körperlichen Schäden begründet. Falls er aber noch eine Gefahr darstellt, können andere Rechtfertigungsgründe in Betracht kommen und da könnte es auch zu einem Gebrauch von Schusswaffen kommen. Bin mir nicht sicher, ob das so stimmt. Aber ich finde das ergibt einigermaßen Sinn. LG, Gruttmann,
Merle_Breckwoldt
22.3.2024, 18:09:55
Moin, genau! Zweck der Festnahme muss es sein, den Täter einer Strafverfolgung zuzuführen (Krauß in: BeckOK StPO, § 127 Rn. 10). Dabei gilt auch im Kontext des § 127 I StPO der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (s.a. § 112 I 2 StPO). Und der Gebrauch einer Schusswaffe, nur, um eine Strafverfolgung zu ermöglichen, wäre unverhältnismäßig. Beste Grüße, Merle für das Jurafuchs-Team @[Lukas_Mengestu](136780)