Dauergefahr und Interessenabwägung bei Tötung eines Familientyrannen


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Haustyrann H verprügelt und misshandelt seine Frau F seit Jahren täglich. F ist dem H körperlich deutlich unterlegen. Als H tief schläft, sieht F ihre Chance dem Ganzen zu entkommen. Sie schießt H in den Kopf. H stirbt sofort.

Einordnung des Falls

Dauergefahr und Interessenabwägung bei Tötung eines Familientyrannen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. F hat den Tatbestand des Mordes (§ 211) verwirklicht.

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Ja, in der Tat!

H wurde durch den Schuss der F getötet. Für die Annahme der Heimtücke (§ 211 Abs. 2 Var. 6 StGB) erscheint problematisch, ob H arglos im Zeitpunkt des Schusses war. Arglos ist, wer sich im Zeitpunkt der Tat keines Angriffs auf sein Leib oder Leben versieht. H hat geschlafen. Nach der h.M. kann man die Arglosigkeit jedoch mit in den Schlaf nehmen. H hat vor dem Schlafen nicht mit einem Angriff auf sein Leben gerechnet und hat diese Arglosigkeit mit in den Schlaf genommen. Während des Schusses war H arglos.

2. Möglicherweise ist der tödliche Schuss durch den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) gerechtfertigt. Eine Notstandslage liegt aufgrund der Dauergefahr für F vor.

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Ja!

Eine Notstandslage liegt bei einer gegenwärtigen Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut vor. Die gegenwärtige Gefahr besteht auch bei einer sogenannten Dauergefahr. Eine solche liegt vor, wenn mit dem Eintritt des Schadens zwar nicht sofort zu rechnen ist, die Situation aber jederzeit in einen Schaden umschlagen kann. Auch wenn der Schadenseintritt erst nach Ablauf einer gewissen Zeit zu erwarten ist, ist sofortiges Handeln angezeigt, um dem Schadenseintritt wirksam begegnen zu können. H schlief und griff F nicht an. Jedoch verprügelte H die F täglich. H hätte jeden Moment anfangen können, die F wieder zu verprügeln. Eine Dauergefahr bestand. Dass H schlief, ließ die Dauergefahr nicht entfallen. Schließlich hätte H jederzeit aufwachen und die F wieder verprügeln können.

3. F hat schon mehrmals versucht staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und sich von H zu trennen. Dennoch hat sie eine Trennung nie geschafft. Die häusliche Gewalt war für F nicht anders abwendbar.

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Genau, so ist das!

Für die Notstandshandlung darf die Gefahr nicht anders abwendbar sein. Dieses Merkmal des Rechtfertigungsgrundes – dass die Gefahr nicht anders anwendbar sein darf – entspricht dem Merkmal der Erforderlichkeit bei der Notwehr (§ 32 StGB). Das Verteidigungsmittel muss demnach überhaupt zur Verteidigung geeignet sein und zugleich das relativ mildeste Mittel darstellen. Zumindest der Versuch, staatliche Hilfe zu suchen, wird nach der Rspr. vorausgesetzt, um die Erforderlichkeit annehmen zu können. Eine Trennung von H stellt zwar ein milderes Mittel als die Tötung dar. Allerdings hat F schon versucht sich zu trennen und auch staatliche Hilfe zu nutzen. Eine Trennung war ihr nicht möglich.

4. Das Interesse der F überwiegt das Interesse des H wesentlich.

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Nein, das trifft nicht zu!

Für die Notstandshandlung muss das geschützte Rechtsgut (Erhaltungsgut) das durch die Notstandshandlung beeinträchtige Rechtsgut (Eingriffsgut) wesentlich überwiegen. Ob dies der Fall ist, ist im Rahmen einer Interessenabwägung festzustellen. Besonders auf den Rang der betroffenen Rechtsgüter ist abzustellen. Hier steht Fs körperliche Unversehrtheit dem Leben des H gegenüber. Das Rechtsgut Leben steht über der körperlichen Unversehrtheit. Selbst wenn H der F mit einer Tötung droht, würde Leben gegen Leben stehen. Nach h.M. ist das Rechtsgut Leben abwägungsfest, es kann nicht qualifiziert und quantifiziert werden.

5. Aufgrund eines Defensivnotstandes kann bei einer Interessenabwägung die körperliche Unversehrtheit bzw. das Leben der F das des Haustyrannen H nach h.M. überwiegen.

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Nein!

Da es sich nicht um eine reine Güterabwägung handelt, sondern um eine umfassende Interessenabwägung, sind weitere Abwägungskriterien zu beachten. So kann auch ein Eingriff in ein höheres Rechtsgut interessengerecht sein. Abwägungskriterien können beispielsweise der Grad der Gefahr oder auch die Frage, ob die Gefahr von dem Eingriffsgut ausgeht (Defensivnotstand) sein. Nach h.M. ist bei einem Defensivnotstand, nach dem Grundgedanken des § 228 BGB, das Eingriffsgut weniger schutzwürdig. Nach h.M. kann jedoch auch bei einem Defensivnotstand das Erhaltungsgut nicht das Eingriffsgut Leben überwiegen.

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MAR

Marius

6.7.2022, 00:17:58

Auch hier, drittletzte Frage: „F schaffe es nie sich zu trennen und muss M daher töten“?! Wie wäre es mit fesseln, betäuben und dann nochmal versuchen abzuhauen. Aber nein, klar: Umbringen ist das mildeste Mittel. :) Ist es ja immer. Das ist doch wirklich nicht gut in der Antwort subsumiert.

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

6.7.2022, 07:53:54

Du hast insofern Recht, dass das "Töten" nicht das mildeste Mittel ist - aber eben das relativ mildeste Mittel. Relativ heißt ja, dass der Angriff nicht gleich sicher und endgültig abgewendet werden kann. Unter Berücksichtigung der deutlichen körperlichen Unterlegenheit der F und den Risiken, die mit den von dir geschilderten Szenarien "Fesseln" und "Betäuben" insoweit einhergehen ist dies wohl abzulehnen. Bei dem Weglaufen ist es so, dass F im Gegensatz zu 32 StGB (Rechtsbewährungsprinzip) grundsätzlich darauf verwiesen werden könnte. Da F allerdings schon mehrmals erfolglos versucht hat sich zu trennen, wäre die Gefahr dadurch nicht (sicher) beseitigt.

NAI

Naitsab

2.12.2022, 10:26:49

Wenn ich mir diesbezüglich die Literatur ansehe, dann gewinne ich den Eindruck, dass diese Annahme für solche Fälle gelten könnte, in denen der Tyrann Druck auf den Notstandstäter ausübt. Dies erschließt sich mir allerdings nicht aus dem Sachverhalt und der Anmerkung zu der Frage. Wenn der Notstandstäter aus intrinsischen Motiven die Trennung nicht schafft, und so verstehe ich den Satz in der Frage, müsste dann die Tötung als relativ mildestes Mittel abzulehnen sein? Oder ist das tatsächlich irrelevant, sofern der Notstandstäter sich ernsthaft um staatliche und karitative Hilfen bemüht hat, da an der Abwendbarkeit der Dauergefahr keine allzu hohen Hürden gestellt werden sollen?

IS

IsiRider

6.1.2023, 21:07:44

Was sind denn die Anforderungen des Versuchs sich zu trennen und Hilfe zu bekommen? Ist wohl Auslegungssache und einzelfallabhängig.

Dogu

Dogu

25.6.2023, 11:15:18

Ich verstehe noch nicht so ganz, wieso dieser Gedanke aus § 228 StGB hergeleitet wird.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

26.6.2023, 10:47:25

Hallo Dogu, die Herleitung aus § 228 StGB ergibt tatsächlich wenig Sinn. Der Grundgedanke entstammt auch dem § 228 BGB, wie der Text verrät. Dieser regelt den Defensivnotstand im Zivilrecht. Dort ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, also eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter vorgesehen. So ist ein Sachschaden zur Abwendung einer Lebensgefahr immer nach § 228 gerechtfertigt, mag der entstandene Sachschaden auch noch so groß sein. Die Beendigung eines Menschenlebens im Rahmen des Defensivnotstandes kann aber nicht gerechtfertigt werden über § 228 BGB, egal welche Gefahr droht. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Dogu

Dogu

26.6.2023, 10:48:11

Ah danke habe mich verlesen. :)


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