Befundsicherungspflicht (Fabrikationsfehler)


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A kauft bei Edeka eine Fanta-Mehrwegglasflasche des Herstellers Coca-Cola (C). Als A sie zu Hause öffnet, zerspringt die Glasflasche wegen Haarrisses im Glas in 1.000 Scherben, von denen eine das Auge der A trifft. Vor der Auslieferung hatte C die Flasche nicht nochmal kontrolliert. Es ist weder feststellbar, ob der Riss bei der Herstellung des C verursacht wurde, noch ob C bei der Produktion schuldhaft handelte.

Einordnung des Falls

Befundsicherungspflicht (Fabrikationsfehler)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Wird jemand durch ein Produkt verletzt, wird grundsätzlich vermutet, dass der Hersteller seine Verkehrspflicht verletzt hat.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Verletzung einer dieser herstellerspezifischen Verkehrspflichten wird grundsätzlich nicht vermutet, sondern ist vom Geschädigten darzulegen und zu beweisen. Eine Beweislastumkehr hinsichtlich der Verkehrspflichtverletzung tritt grundsätzlich nur dann ein, wenn der Geschädigte beweisen kann, dass (1) das Produkt einen Fehler hatte, der für die Rechtsgutsverletzung kausal war (Fehlernachweis) und (2) dieser Fehler schon beim Inverkehrbringen der Sache bestand und dem Organisations- und Gefahrenbereich des Herstellers entstammt (Fehlerbereichsnachweis).

2. A kann beweisen, dass das Produkt einen Fehler hatte und dieser auch schon beim Inverkehrbringen der Sache bestand.

Nein, das trifft nicht zu!

Zwar hatte die Flasche unstreitig einen Produktfehler (vgl. § 3 Abs. 1 ProdHaftG), der zur Verletzung der A führte, indem die Flasche einen Riss aufwies, der zum Zerbersten der Flasche führte (Fehlernachweis). Dieser Fehler kann aber einerseits schon ursprünglich beim Inverkehrbringen durch C vorgelegen haben, andererseits aber auch erst nachträglich beim Verkäufer oder bei A entstanden sein. Dass der Fehler aus dem Gefahrenbereich des H stammt, kann A also nicht beweisen (Fehlerbereichsnachweis). Deshalb könnte A hier (1) weder selbst eine Verkehrspflichtverletzung (Fabrikationsfehler) darlegen und beweisen (2) noch würde die Beweislastumkehr mit der Folge der Vermutung einer Verkehrspflichtverletzung eingreifen.

3. Immer wenn der Geschädigte in einer solchen Beweisnot ist, wird zusätzlich auch das Vorliegen des Fehlers im Zeitpunkt des Inverkehrbringens vermutet.

Nein!

Die Beweislast dafür, dass der Fehler im Zeitpunkt des Inverkehrbringens vorlag (Fehlerbereichsnachweis), bleibt auch bei einer Beweisnot grundsätzlich beim Geschädigten. Nur in Ausnahmefällen kann sich der Hersteller nicht darauf berufen, dass der Fehler möglicherweise erst nach Inverkehrbringen entstanden sei: Wenn er eine Befundsicherungspflicht verletzt hat. Das ist der Fall, wenn (1) das Produkt eine besondere Schadenstendenz aufweist und der Fehler typischerweise aus dem Verantwortungsbereich des Herstellers stammt (Bestehen der Befundsicherungspflicht) und (2) der Hersteller es beim Inverkehrbringen unterlässt, den Zustand seiner Produkte zu kontrollieren und die erhobenen Daten zu sichern (Verstoß gegen Befundsicherungspflicht).

4. C hat eine Befundsicherungspflicht hinsichtlich der Glasflasche.

Genau, so ist das!

BGH: C habe mit der Mehrwegflasche ein Produkt in den Verkehr gebracht, das wegen seiner Eigenart (Glasbehälter, der mehrfach verwendet wird und unter starkem Innendruck steht) eine besondere Schadenstendenz aufweise. Für solche Getränkeflaschen, bei denen nach dem – oft mehrfachen und langjährigen – Vorgebrauch eine Vorschädigung und die damit verbundene Berstgefahr nicht auszuschließen sei, treffe den C als Hersteller die Prüfungs- und Befundsicherungspflicht dahin, den Zustand des Glases jeder Flasche vor ihrer Inverkehrgabe auf seine Berstsicherheit hin zu ermitteln und sich darüber zu vergewissern, dass nur unbeschädigte Flaschen den Herstellerbetrieb verlassen.

5. C hat gegen seine Befundsicherungspflicht verstoßen, sodass die Verkehrspflichtverletzung vermutet wird.

Ja, in der Tat!

C kann nicht beweisen, dass er ein Prüfungsverfahren angewendet hat, dass die Inverkehrgabe fehlerhafter Produkte zuverlässig ausschließt. Daher wird vermutet, dass das schadenträchtige Produkt den Fehler bereits in dem Zeitpunkt aufwies, in dem es das Herstellerunternehmen verlassen hat. Wenn C nicht das Gegenteil beweisen kann, sind (1) Fehlernachweis und (2) Fehlerbereichsnachweis geführt, sodass die Verkehrspflichtverletzung (Fabrikationsfehler) vermutet wird.

6. Bei Vorliegen der Verkehrspflichtverletzung wird das Verschulden vermutet.

Ja!

Nach allgemeinen Grundsätzen muss der Geschädigte das für ihn günstige Verschulden des Schädigers beweisen. Dies kann zu erheblichen Beweisproblemen führen, denn der Geschädigte hat keinen Einblick in den Herrschafts- und Organisationsbereich des Herstellers. Er kann ein Verschulden somit kaum nachweisen. Wegen dieser Beweisnot wird die Beweislast umgekehrt: Das Verschulden des Herstellers wird grundsätzlich vermutet, wenn der Geschädigte nachgewiesen hat, dass seine Rechtsgutsverletzung auf einem Produktfehler bei Inverkehrgabe beruht. Das Verschulden des C wird vermutet. Denn aufgrund des vermuteten Fabrikationsfehlers wird auch vermutet, dass As Körperverletzung auf dem Fabrikationsfehler bei Inverkehrgabe beruht. Daneben kommt eine Haftung nach dem ProdHaftG in Betracht.

7. Wenn C durch das Inverkehrbringen der Mehrwegglasflasche eine Verkehrspflicht verletzt hat, kommt eine Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB für die Körperverletzung der A in Betracht.

Genau, so ist das!

Der haftungsbegründende Tatbestand von § 823 Abs. 1 BGB setzt voraus: (1) einen Verletzungserfolg (2) durch ein zurechenbares Verhalten des Schädigers, der dabei (3) rechtswidrig und (4) schuldhaft gehandelt haben muss. Das zurechenbare Verhalten des Schädigers kann auch in der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht liegen. Wer Waren herstellt und in den Verkehr bringt, muss alle erforderlichen und zumutbaren Vorkehrungen treffen, um Schädigungen durch sein Produkt zu vermeiden (herstellerspezifische Verkehrspflicht). Den Hersteller treffen dabei vor allem vier verschiedene Verkehrspflichten: (1) Konstruktions-, (2) Fabrikations-, (3) Instruktions- und (4) Produktbeobachtungspflicht. C könnte als Hersteller eine herstellerspezifische Verkehrspflicht verletzt haben, indem er die Mehrwegflasche in Verkehr brachte.

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Dini1606

Dini1606

25.1.2023, 23:22:22

Wieso kann A in diesem Fall den Fehler nicht beweisen, dafür bei der Produzentenhaftung aber schon? Werden unterschiedliche Anforderungen an den Beweis gestellt?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

26.1.2023, 14:24:40

Hallo Dini1606, danke für deine Frage. In diesem Fall konnte aufgrund der Beweislaständerung die Verantwortlichkeit der C festgestellt werden. Dies liegt an einer Beweislastumkehr im Rahmen einer besonderen Gruppe der Verkehrssicherungspflichten, die bei § 823 BGB zu berücksichtigen sind. Diese Fallgruppen werden zusammenfassend als Produzentenhaftung bezeichnet. Die Produzentenhaftung setzt sich zusammen aus Konstruktions-, Fabrikations-, Instruktions-, und

Befundsicherungspflicht

en (letztere werden auch als Produktbeobachtungspflichten bezeichnet). Sie sind eine Untergruppe der Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB. Abhängig von der konkreten Pflicht kommt es zu einer Beweislastumkehr sowie ggsfs. auch zu einer Verschuldensvermutung. Dies hängt damit zusammen, dass der Kunde keine Möglichkeit hat im Rahmen der Produktionsabläufe erfolgte Fehler zu beweisen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

CR7

CR7

6.7.2023, 10:04:04

Bei einer Erklärung heißt es „H“ statt „C“, ich weiß nicht, ob das H allgemein auf Hersteller bezogen ist oder hier eigentlich das C hingehört :-()

Johannes Nebe

Johannes Nebe

4.3.2024, 15:16:18

Der berechtigte Hinweis von CR7 hat noch nicht zur Korrektur geführt. -- Die Randnummer 1109 des zitierten MüKo BGB § 823 ist nicht mehr aktuell. Es wäre nett, wenn Ihr das aktualisieren könntet. -- Dann wäre es gut, wenn Nora Mommsen ihren Beitrag noch mal kritisch überprüfen könnte. So wie ich es verstanden habe, ist Produktbeobachtungspflicht nicht dasselbe wie

Befundsicherungspflicht

. P. ist eine der Möglichkeiten der Produzentenhaftung. Dabei geht es um Gefahren, die durch das Produkt im Laufe seines Lebenszyklus entstehen, das können auch Gefahren in Zusammenspiel mit Proukten Dritter sein (Hondafall). B. hingegen ist ein vom BGH eingeführter Grundsatz, um zur Beweislastumkehr beim Fehlerbereichsnachweis zu kommen (MüKo Rn. 1143), den wiederum der Geschädigte führen muss, um eine Beweislastumkehr in der Produkthaftung zu erreichen. Diese Beweisfragen sind noch einmal von der (prinzipiell bestehenden) Beweislastumkehr für das Verschulden des Produzenten zu trennen (Rn. 1138).


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